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"Hohe Schule" der Violinmusik

Die so genannte "Hohe Schule" der Violinmusik, das Repertoire für Violine solo, hat sich Mirijam Contzen für ihre neue CD auf dem Label Arte Nova vorgenommen: Werke von Johann Sebastian Bach, Béla Bartók, Eugène Ysaye, dazu zwei kurze Stücke von Igor Strawinsky und Tibor Varga, ihrem Lehrer. Schon das eröffnende "Preludio" aus Bachs E-Dur-Partita, BWV 1006 macht augenblicklich klar, dass es Mirijam Contzen an den Voraussetzungen für ein derartig anspruchsvolles Unternehmen weder in technischer, noch in musikalischer Hinsicht mangelt.

Von Ingo Dorfmüller |
    • Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - Nr. 1. Preludio aus der Partita Nr. 3 E-Dur für Violine solo, BWV 1066


    Das "Preludio" aus Johann Sebastian Bachs E-Dur-Partita ist bei Mirijam Contzen ein blitzendes virtuoses Feuerwerk, dabei durchaus sinnvoll strukturiert und präzise in den quasi-konzertanten dynamischen Kontrasten. Der feine, kultivierte Klang, die Genauigkeit, und zugleich der bei rasantem Tempo durchaus mitreißende Schwung, die dem Hörer ganz unmittelbar sich mitteilende Freude am virtuosen Spiel zeichnen diese Darbietung aus. Man kann sich aber auch einen sehr viel stärker gliedernden, entschlossener artikulierenden Zugriff vorstellen, wie ihn etwa Thomas Zehetmair in seiner im Jahr 2000 entstandenen Aufnahme demonstriert.

    • Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - Nr. 1. Preludio aus der Partita Nr. 3 E-Dur für Violine solo, BWV 1066

    Zehetmair bleibt vielleicht näher an dem auch im virtuosen Figurenwerk stets "redenden" Charakter dieser Musik: Indessen, auch Mirijam Contzens Version hat ihre Vorzüge und ist in ihrer Art nicht weniger konsequent.

    Die Geigerin, heute Mitte zwanzig, wurde lange als Wunderkind gehandelt. Schon als Siebenjährige wurde sie Schülerin des legendären Tibor Varga an der Detmolder Musikhochschule. Es folgten eine lange Reihe von Preisen, Auszeichnungen und europaweiten Konzertauftritten, schließlich, 1993, der vielbeachtete erste Preis bei dem von Tibor Varga ins Leben gerufenen Wettbewerb im schweizerischen Sion. Erste CDs enthielten die Violinkonzerte von Mendelssohn und Bruch, eine Zusammenstellung beliebter Virtuosenpiècen und ein anspruchsvolles französisches Sonatenprogramm mit Werken von Camille Saint-Saëns, César Franck und Claude Debussy. Doch die neue CD ist ein echter Sprung nach vorn: mit einem Programm, das der Violine alles abfordert, was sie an Klangfarben und Spielweisen zu bieten hat, das andererseits durch den allen Stücken gemeinsamen und auch deutlich wahrnehmbaren Rückbezug auf Johann Sebastian Bach eine gewisse stilistische Geschlossenheit aufweist, einem Programm mithin, dem nur mit souveränem Überblick und großem Gestaltungsvermögen beizukommen ist. Und die beweist Mirijam Contzen im weiteren Verlauf Stück für Stück: etwa in der im Mittelpunkt stehenden Solosonate von Béla Bartók aus dem Jahr 1944. Bartók hatte die Sonate im Auftrag Yehudi Menuhins komponiert und das technisch extrem anspruchsvolle Stück auf dessen Wunsch nachträglich in einigen Passagen vereinfacht. Mirijam Contzen spielt die Originalversion: leicht und beweglich im Ansatz, mit der notwendigen Härte, mit scharfen Akzenten, aber auch, etwa im 3. Satz, wehen, zerbrechlichen Lyrismen. Dabei wahrt sie stets Übersicht, verliert sich nicht im Episodischen, fasst jedes Detail in seinem Bezug zum Ganzen auf. Es entsteht so eine Interpretation von bemerkenswerter Klarheit und Durchsichtigkeit. Hier der zweite Satz, den Bartók in Anlehnung an Bach als Fuge gestaltet hat.

    • Musikbeispiel: Béla Bartók - 2. Satz aus der Sonate für Violine solo

    Mirijam Contzen mit dem zweiten Satz und dem Beginn des dritten Satzes aus Béla Bartóks "Sonate für Violine solo". Das dritte Hauptstück ihres Programms ist ein Werk des belgischen Komponisten und Violinvirtuosen Eugène Ysaye. Dessen sechs Sonaten für Violine solo op. 27 gehören zwar zum Kernbestand des Violinsolo-Repertoires, sind aber zugleich ihrer exorbitanten Schwierigkeiten wegen gefürchtet. Mirijam Contzen hat sich nicht für die relativ viel gespielten Sonaten Nr. 2 und 3 mit ihren programmatisch-anekdotischen Bezügen entschieden, sondern für die in diesem Zusammenhang sehr viel besser passende 4. Sonate in e-moll: Mit ihrem Rückgriff auf die auch bei Bach anzutreffenden Satztypen Allemande und Sarabande hinterlässt sie - zumindest in ihren ersten beiden Sätzen - einen vergleichsweise strengen Eindruck.

    • Musikbeispiel: Eugène Ysaÿe - 1. Satz (Ausschnitt) aus der Sonate op. 27 Nr. 4 für Violine solo

    Mirijam Contzens bemerkenswert geradlinige künstlerische Entwicklung und die Meisterschaft, die sie mit dieser CD eindrucksvoll unter Beweis stellt, verdanken sich wohl nicht zuletzt dem prägenden Einfluss Tibor Vargas: Über fast 20 Jahre, bis zu seinem Tod im September 2003, war er Mirijam Contzens einziger Lehrer. Sie hat ihre Solo-CD seinem Andenken gewidmet, und als Hommage an den Meister dessen Fantasie für Violine solo "Le serpent" - "Die Schlange" aufgenommen. Der Titel meint den gewundenen Lebensweg des Künstlers, einen autobiographischen Bezug stellt Varga durch Zitate aus drei Hauptwerken des Violinrepertoires her: den Konzerten von Mendelssohn, Tschaikowsky und Bartók.

    • Musikbeispiel: Tibor Varga - Fantasie "Le serpent" für Violine solo (Ausschnitt)

    Mirijam Contzens CD mit dem schlichten Titel "Solo" ist auf dem Label BMG Arte Nova erschienen. Im Studio verabschiedet sich mit Dank für's Zuhören Ingo Dorfmüller.

    Titel: "Mirijam Contzen - Solo"
    Solistin: Mirijam Contzen, Violine
    Label: Arte Nova / BMG
    Bestell-Nr.: 82876 57741 2