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Hohle Gasse?

Ganz ohne Berge geht der "Tell" auch in Mannheim nicht. Und auch auf Almklänge und einen Hauch von alpiner Atmosphäre verzichtete Regisseur Thomas Langhoff nicht bei seiner Eröffnungsinszenierung der Mannheimer Schillertage im Schillerjubiläumsjahr. Aber Alpen wie Älpler sind funktional verfremdet und stilisiert.

Von Cornelie Ueding |
    Die Berggipfel von Bühnenbildner Mathis Neidhardt: mobile, metallisch oxydierte Bausteine in Form überdimensionierter Toblerone-Rippen, mal zur Phalanx verdichtet, dann wieder in aufgelockerter Formation; mal Hütte, mal Innenraum, mal Versteck, mal von Felswänden umschlossene Hochfläche, mal hohle Gasse.

    Die Bergbewohner bestehen weitgehend aus etwas schräg und schluffig ausstaffierten, urwüchsigen Halbtouristen, die kraxeln, fischen und jagen und durchaus auch Nebenerwerbslandwirte sein könnten und sich ab und zu an einem der zu Hanns Eislers "Tell"- Bühnenmusik gehörenden volksliedartigen Liedchen versuchen.

    Dezente Ironiesignale dieser und anderer Art nehmen Schillers letztem und was Patriotismus und Nationalmythen betrifft dubiosestem Stück von Beginn an alles Peinigende - ohne ihm den Stachel zu ziehen. Auch was die so genannte und wieder mal heftig diskutierte "Werktreue" betrifft, verfolgt Altmeister Langhoff einen besonnenen Kurs, ohne dass die Aufführung dadurch miefig würde. Auf die gröbsten geflügelten Worte-Klötze muss man verzichten, andere gehen in Tells Gehämmer oder anderen Nebengeräuschen unter - ansonsten trägt der alles andere als radikal verknappte Text auch nach 200 Jahren noch immer erstaunlich gut - obwohl oder gerade weil er nichts mehr von der früheren Freiheits- oder sonstigen Gefühlseuphorie auslöst. Im Gegenteil. Wenn die stellenweise "ein bisschen" mutigen Politakteure am Ende in einer Art "Wir-sind-ja-tatsächlich-das-Volk"-Haltung und kleinen Schweizer Winkelementen in den Händen etwas verlegen, unsicher, überrascht und selbstzufrieden in ihrer schönen Gegend herumstehen, so ist das auf ganz unprätentiöse Art ein unaufgeregt-überzeugender theatralischer Schlussbefund. Durchaus auch für die heutige deutsch-deutsche Gefühlslage. Beim ominösen Rütlischwur, den die Freiheitshelden mehr geflüstert als gebrüllt im Licht zitternder Taschenlampenstrahlen absolvieren, kommt es noch fast zu einer urigen Rauferei, weil die einen von den anderen sagen, sie seien die weniger Gesinnungstüchtigen. Doch danach gewinnen die Dinge jene Eigendynamik, aus der es kein Zurück mehr gibt: ein Umsturz zwischen Dilettantismus, echter Empörung, Volkszorn und Ratlosigkeit und ein wenig kurz aufflammender Freizheitshysterie nimmt seinen Lauf - und reißt alle, sogar den Tell mit. Sogar den Tell, denn Langhoff macht anschaulich, was man oft nur ahnt und was doch Schillers größter Theatercoup in diesem Erfolgsstück ist: dieser Protagonist ist gar keiner. Markus John als Tell ist ein brummig-störrischer, wortkarger, scheinbar behäbiger Einzelgänger, und doch einer, der das Risiko sucht, Gebirgsjäger aus Leidenschaft, der sich allem Politischen entzieht - bis ihn das "Schicksal" ereilt. In die Apfelschussszene tapst dieser Tell förmlich herein. Dann der wohlbekannte Showdown zwischen zwei Männern, die sich schon längere Zeit belauern: eher eine Privatangelegenheit. Bis zu Tells Schuss. Dann: ein Politikum.

    All die Revolutionäre auf Abruf haben die Szene in Langhoffs situationsgenauer, höchst differenzierter Regie bis dahin halbempört und unentschlossen, ohnmächtig und wild entschlossen, aufgeregt und abwartend - und alles das zugleich - mitverfolgt. Nun sehen sie sich nolens volens gezwungen doch zu reagieren; ebenso wird Tell, der aus purer Lust an der eigenen Dominanz handelt, zu einem Vorbild wider Willen, zu einem introvertierten "Ideologen".

    Sein Monolog vor jener "hohlen Gasse", durch die der sich schneidend- gefährlich-böse stilisierende, weiß uniformierte Gessler, eine Art Verschnitt zwischen D'Annunzio und Richard III., kommen wird - jener Monolog ist Tells einzige nennenswerte, maulig in sich hineingewütete generelle Aussage.

    Die kluge, subtile Inszenierung hat nicht nur einen guten Rhythmus, sie macht die Eigendynamik von Gruppenprozessen einsichtig und hat mit ihren zutiefst banalen Helden, ihren gemischten Gefühlen, Aufgeregtheiten und Ängsten, Menschen ohne heroische Resistance-Attitüden, ohne Gänsehaut und erhaben patriotische Stimmungen, kurz: mit dieser genauen Suche nach persönlichen und politischen Ambivalenzen geradezu programmatischen Charakter.