Donnerstag, 28. März 2024

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Holly Herndon
"Technologie ist ein Teil unseres Lebens"

Holly Herndon macht Musik mit ihrem Computer und ihrer Stimme. Nach ihrem Debütalbum "Movement", auf dem elektronisch bearbeitete Körpergeräusche zu hören waren, kommt nun mit "Platform" ein Werk, in dem sie die Fragen nach dem Einfluss digitaler Medien auf den Alltag stellt. Das Stück "Home" ist so beispielsweise eine ironische Liebeserklärung an einen NSA-Agenten.

Von Raphael Smarzoch | 16.05.2015
    Ein Würfel mit Binärcodes
    Ein Würfel mit Binärcodes (imago/Science Photo Library)
    Holly Herndon verortet ihre Musik im Jetzt. Sie soll nach dem digitalen Zeitgeist des 21. Jahrhunderts klingen. Die Sounds, die auf Platform zu hören sind, erinnern in ihrer Klarheit an hochauflösende Bilder von Smartphones und Tablets. Sie könnten aus Computerspielen stammen, in denen futuristische Soldaten durch Endzeitszenarien schreiten oder Teil des Sounddesigns von Science-Fiction-Filmen sein.
    Holly Herndon:
    "Viel Musik ist ziemlich retro. Ich möchte mich nicht auf historische Tropen stützen, weil ich denke, dass mit neuen Technologien und neuen menschlichen Interaktionen neue Emotionen und Lebenswelten entstehen."
    Sounds von künstlichen Fingernägeln auf Smartphones
    Diese neuen Lebenswelten findet man im Internet. Das World Wide Web ist für Herndon kein Ort der Entfremdung: Neue zwischenmenschliche Umgangsformen entstehen hier. Mit dem Track "Lonely at the Top" zollt sie einer Internet-Gemeinschaft Tribut, der ASMR-Szene. Einer Vereinigung von Menschen, die online Videos veröffentlicht, in denen bestimmte Geräusche zu hören sind, die eine beruhigende Wirkung auf ihre Betrachter ausüben sollen. Die Macher fordern mit ruhiger Stimme ihre Zuschauer auf, sich zu entspannen, während sie Zeitungen knistern lassen oder auf Tastaturen tippen. Eine digitale Therapie, die ein Kribbeln im Körper erzeugt und angeblich Schlafstörungen lindert.
    Holly Herndon:
    "Ich mag sehr den Sound von künstlichen Fingernägeln auf Smartphones. Mir gefällt dieses Klopfgeräusch. Es beruhigt mich und verschafft mir eine Gänsehaut. Es ist eine schöne Sache, dass fremde Menschen sich durch ein digitales Medium körperlich und emotional verbinden. Das widerspricht dem Argument, digitales Leben ruiniere Beziehungen und sei nicht echt. All diese reaktionären Dinge, die Menschen über das Internet und digitale Kulturen sagen. "
    Die omnipräsente Digitalisierung und technologische Beschleunigung begreift die Musikerin allerdings nicht nur als Segen. Das Stück "Home" ist eine ironische Liebeserklärung an einen NSA-Agenten, der sie wahrscheinlich viel besser kennt als ihr eigener Ehemann. Die Dynamik der Überwachung wird in dem Track Chorus sogar zu einem kompositorischen Mittel. Mit einem speziellen Programm hört Holly Herndon ihren Internet-Browser ab. Die Sounds, die beim Surfen entstehen, werden aufgenommen, ausgewertet und in dem Stück verarbeitet.
    Und dann wäre da noch ihre Stimme. Sie wird elektronisch manipuliert, gestreckt, beschleunigt, verlangsamt, zerschnitten und wieder neu zusammengesetzt. Selten ist sie unbearbeitet zu hören. Die elektronisch verfremdete Stimme versteht die amerikanische Produzentin nach wie vor als Teil ihres Körpers und nicht als einen Datenstrahl aus Nullen und Einsen. Sie wird zu einem Sinnbild für die Fusion von Mensch und Maschine, für eine Verschmelzung mit den digitalen Medien des Alltags.
    Holly Herndon:
    "Ich bin gegen die Idee, dass Technologie etwas von uns Losgelöstes ist. Sie ist so sehr ein Teil unseres Lebens. Die menschliche Stimme hilft uns, das zu begreifen. Aber nicht nur die menschliche Stimme, ich versuche den ganzen Körper in die digitale Welt zu transportieren. Wir haben ein Grundrecht auf unser körperliches Selbst. Unsere digitalen Körper sollten denselben Schutz genießen. "
    Musik ist für Holly Herndon nicht bloß Sound, sondern auch ein politisches Werkzeug. Sie möchte Diskussionen anregen und nicht einen eskapistischen Soundtrack komponieren. Ein ambitioniertes Anliegen, das allerdings auch scheitern kann. Denn die theoretischen Konzepte erschließen sich nicht ausschließlich über die Musik. Man muss mit ihnen vertraut sein oder das Interesse haben, ihnen nachzugehen. Erst dann entfaltet das Album seine volle Wirkung und wird buchstäblich zu einer Plattform, auf der Fragen des Zeitgeists verhandelt werden können und neue Denkansätze entstehen – Ideen für eine bessere Zukunft.