Donnerstag, 28. März 2024

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Holocaust
"Eine historische Verantwortung, die wir nicht abschütteln dürfen"

Wibke Gertrud Bruhns, geborene Klamroth, Jahrgang 1938 gilt als journalistisches Multitalent. Ihr Vater war SS-Offizier und wurde 1944 als Mitwisser des gescheiterten Hitler-Attentates zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Verstrickung ihrer Familie mit dem NS-System behandelte Bruhns in einem ihrer vielen Bücher, die sie verfasst hat.

Wibke Gertrud Bruhns im Gespräch mit Stephan Detjen | 28.05.2015
    Wibke Bruhns lächelt 2013 in Berlin in die Kamera
    Wibke Bruhns 2013 in Berlin (dpa picture alliance/Britta Pedersen)
    Sprecherin: Ihre Karriere begann bei der "Bild"-Zeitung, bei der sie volontierte, aber richtig bekannt wurde sie Anfang der 70er-Jahre als erste Nachrichtensprecherin im Westdeutschen Fernsehen beim ZDF, was damals großes Aufsehen erregte. Doch als journalistisches Multitalent nahm sie noch ganz andere Rollen im medialen Berufsleben ein: Sie war Redakteurin und Moderatorin bei mehreren Rundfunksendern, profilierte sich als Korrespondentin des "Stern" in Jerusalem und Washington. Auch parteipolitisch mischte sie sich ein: In einer Wählerinitiative rief sie 1972 zur Stimmabgabe für die SPD auf. Ihre Unterstützung für den Kanzlerkandidaten Willy Brandt sorgte für Kritik und Aufruhr. Die Rede ist von Wibke Gertrud Bruhns, geborene Klamroth, Jahrgang 1938. Ihr Vater war SS-Offizier und wurde 1944 als Mitwisser des gescheiterten Hitler-Attentates zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Verstrickung ihrer Familie mit dem NS-System behandelte Bruhns in einem ihrer vielen Bücher, die sie verfasst hat. Der Titel "Meines Vaters Land" - eine eindrucksvolle, den Leser mitreißende Vatersuche, wie die FAZ in einer Rezension schrieb. Wibke Bruhns, die heute in Berlin lebt, war mit dem Schauspieler Werner Bruhns bis zu dessen Tod 1977 verheiratet, aus dieser Ehe gingen zwei Töchter hervor.
    Wibke Bruhns: Wir wussten, wo es langging und was die Eltern falsch gemacht hatten.
    Sprecherin: Rückblicke auf "Meines Vaters Land" und Perspektivenwechsel im Umgang mit Vergangenheiten.
    Stephan Detjen: Frau Bruhns, wir haben eine ungewöhnlich dichte Folge von Gedenkjahren hinter uns: 100 Jahre Erster Weltkrieg, letztes Jahr 25 Jahre Mauerfall, 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges, zuletzt jetzt dieser Tage 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, viele von ihnen - fast alle - haben mit Ihrer Biografie sehr unmittelbar zu tun. Es gab Staatsakte, Medien haben berichtet, es gab fast eine Inflation von Zeitzeugengesprächen. Wie ging Ihnen das mit diesem Gedenkmarathon, wenn man so sagen will, haben Sie noch mal einen neuen Blick auf historische Ereignisse gewonnen?
    Bruhns: Ich habe festgestellt, dass wenn ich das mit jüngeren Leuten oder jungen Leuten, 30-Jährigen oder so, besprochen habe - neulich zum Beispiel mal einen Film gesehen über Friedland, und da hatte ich jemanden bei mir, die ist, glaube ich, 28 und die guckte wie ein Auto.
    Detjen: Also das Aufnahmelager.
    Bruhns: Genau, das Flüchtlingsaufnahmelager in Friedland, was ja übrigens immer noch in Betrieb ist. Und was war das für eine Erschütterung, die durch Deutschland ging, als 55 die Kriegsgefangenen, als Adenauer die da rausgeholt hat aus Russland. Und ich sehe noch so eine "Wochenschau" vor mir, wo die da gestanden haben und "Nun danket alle Gott" gesungen haben, diese verhärmten Kerle. Und dann sehe ich also das Neugierige, aber im Prinzip auch ein bisschen so zurückhaltende Gesicht von so einer jungen Frau, und das erinnert mich lebhaft an meine eigene Zeit, dass ich zum Beispiel den Ersten Weltkrieg und die Zeit danach erst richtig begriffen habe, als ich das Buch geschrieben habe, weil ich das da gründlich recherchiert habe.
    Detjen: Ihre Familiengeschichte in "Meines Vaters Land".
    Bruhns: Ja, genau. Und da habe ich dann so gedacht, ja, was stellen die sich denn so an, die Erwachsenen, die haben einen Krieg verloren, okay, und dann gab es da einen unguten Vertrag, nämlich von Versailles, und das war es dann aber auch. Und meine Mutter wollte gelegentlich mal erzählen, wie das so war, und das hat mich nicht interessiert. Und dann denke ich immer, dass für die nachfolgende Generation oder - das ist wie Steinzeit, Dreißigjähriger Krieg, wenn es so zurück ist und man es nicht mehr selber erleben kann.
    Detjen: Die Distanzen verändern sich - jetzt der Mauerfall, inzwischen diejenigen, die den miterlebt haben zu ihrer Geburt, sind inzwischen auch mitten im Erwachsenenleben.
    Bruhns: Die können zum Beispiel auch nicht mehr sagen, es ist ... Die wissen zwar, dass es ihre Geschichte ist – also wenn sie jetzt unmittelbar in der Zeit geboren worden sind –, aber so eine physische Erfahrung, wie das war, das haben die natürlich nicht.
    Detjen: Da gibt es ja auch in dem kollektiven Erinnern, das sich dann ausdrückt in Medien, in Reden von Politikern, Fernsehserien - "Holocaust", die Fernsehserie Mitte der 80er-Jahre, die noch mal einen neuen Blick auf den Judenmord eröffnet, die Weizsäcker-Rede 85 zum 8. Mai.
    Bruhns: Den neuen Blick auf die Judenmorde! Diese Fernsehserie hat ja eigentlich erst deutsche Menschen sensibilisiert, die vorher nicht so richtig bereit waren, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
    "Es hat sich entwickelt"
    Detjen: Das ist das, was ich Sie fragen wollte: Wo liegen da für Sie die Zäsuren oder die Wegmarken sozusagen in der Geschichte des Erinnerns der Bundesrepublik, die Sie ja in der Zeit der 60er-Jahre als Journalistin miterlebt haben?
    Bruhns: Bei dieser Holocaust-Serie, genau, gar keine Frage, die hat wirklich einen Umschwung in der mentalen Disposition der deutschen Bevölkerung bewirkt. Es war sentimental genug, und es hatte irgend so was von einer Sitcom, aber die Menschen konnten sich plötzlich identifizieren und sich auch damit beschäftigen, was natürlich nun endlich auch mal Zeit wurde, dass sie das taten. Und so gibt es noch so andere Zäsuren, also die Studentenbewegung, Baader-Meinhof - das sind für junge Leute ... Heute ist das Dreißigjähriger Krieg, ungefähr so weit weg, ja.
    Detjen: Sie haben das Buch erwähnt, das Sie selber über Ihre eigene Familiengeschichte geschrieben haben, eine Familienbiografie, "Meines Vaters Land" ...
    Bruhns: Ich muss Sie ein bisschen korrigieren: Ich habe wirklich das mit Absicht "Meines Vaters Land" genannt. Ich habe anhand meiner Familie - weil da hatte ich genügend Material – dieses Land beschrieben und die Entwicklung in diesem Land von Mitte 1800 und ein paar Zerquetschte bis zum Zweiten Weltkrieg und habe während meiner Recherchen eben wirklich fasziniert und stirnrunzelnd festgestellt, welche Zwangsläufigkeit sich in dieser Entwicklung verbarg. Das ist ja nicht so, als wäre das alles vom Himmel gefallen, sondern es hat sich entwickelt. Und Nazis als solche, die hießen nicht so, aber die gab es natürlich schon auch Ende des 19. Jahrhunderts.
    Detjen: Und das - so ist Ihr Buch ja auch rezipiert worden - ist eine tatsächlich typische, prototypische deutsche Geschichte ...
    Bruhns: Genau.
    Detjen: Geschichte einer bürgerlichen Familie, im Mittelpunkt der Vater Hans-Georg, genannt HG Klamroth ...
    Bruhns: Und davon gab es ganz, ganz viele.
    Detjen: ... hingerichtet als Mitverschwörer vom 20. Juli vom Hitler-Attentat. Und dann offenbaren Sie die Geschichte eines ja typischen Bürgers, der den Nazis verfällt und sich hingibt und erst ganz am Ende in die Widerstandsgeschichte eingeht.
    Bruhns: Ja, aber wie kommt er dahin - das war das, was mich am meisten interessiert hat.
    Detjen: Sie sind ja lange, wenn man das so sagen kann, mit diesem Buch schwanger gegangen. 1979 war ein Ursprungserlebnis, da stoßen Sie auf einen Film vorm Volksgerichtshof, Freisler, Ihr Vater vor dem Volksgerichtshof, und dann dauert das 25 Jahre, bis dieses Buch erscheint.
    Bruhns: Ja, bis ich überhaupt den Kopf dafür frei hatte, es zu schreiben, weil ...
    "Ich hatte den Kopf nicht frei"
    Detjen: War es eine Zeitfrage oder war das eine Frage der Auseinandersetzung?
    Bruhns: Nein, ich war gerade geworden eine Auslandskorrespondentin des "Stern", und im Nahen Osten ist immer was los, also ich hatte da keine Gelegenheit, mich um irgendetwas anderes zu kümmern als genau mein Gebiet, was ich zu beackern hatte und beackern wollte. Ich bin ja da runtergegangen, weil mich das so interessierte, wie das eigentlich so funktioniert mit dem jüdischen Staat und den arabischen Nachbarn. Da hatte ich keine Zeit, ich hatte den Kopf nicht frei.
    Detjen: Nehmen wir mal an, Sie hätten die Zeit gehabt - weil wir ja auch darüber sprechen, wie sich Erinnerung verändert im Laufe der Zeit, die Bedingungen, sich zu erinnern, wie wäre das Buch anders gewesen, was wäre an diesem Buch anders gewesen, wenn Sie es in den 70er- oder in den 80er-Jahren geschrieben hätten, es ein Buch des 20. und nicht des frühen 21. Jahrhunderts gewesen wäre?
    Bruhns: Ich bin ganz sicher, es wäre ein völlig anderes Buch geworden. Ich gehöre ja eben auch zu der Studentengeneration - schon ein bisschen älter, aber immerhin -, und ich hätte, wenn ich das damals, als ich das wollte, geschrieben hätte, dann ... Also ich glaube, ich hätte keine Hemmungen gehabt zu sagen, mir kann das nicht passieren. So wie wir alle damals gesagt haben, was diese Generation der Väter, oder meinetwegen der Eltern, wie die dem anheimgefallen sind. Und meine Generation zu der Zeit hatte recht, wir wussten, wo es langging und was die Eltern falsch gemacht hatten.
    Detjen: Das war ja auch das Überraschende, auch für mich, als ich das gelesen hab - damals 2004 - Ihr Buch, dass da von Ihrer Generation, von der man gewohnt ist eigentlich gegenüber der Elterngeneration einen anklagenden, verurteilenden Ton, da kommt auf einmal ein fragender Ton. Das Buch ist ja eigentlich gar nicht nur ein Buch über eine Familie, sondern Dialog mit Vorfahren, die nicht mehr da sind. Fragen werden da gestellt und nicht Urteile gesprochen.
    Bruhns: Ja, das hatte was damit zu tun, dass ich in der Zwischenzeit eben Korrespondentin gewesen bin im Nahen Osten und dann auch noch mal in Amerika und dass ich da in meinem Beruf gelernt habe zuzuhören. Es macht ja nicht so wahnsinnig viel Sinn, wenn man Leuten erzählt, und das war dann später in der DDR genauso - nicht mehr die DDR, aber als ich hier in einen Ostsender kam, wenn man so will, also der RBB ...
    Detjen: Der RBB damals, der zusammengewachsen war aus dem ...
    Bruhns: Aus dem SFB und dem ...
    Detjen: Aus dem SFB und den Resten des Ostdeutschen Rundfunks.
    Bruhns: Und da habe ich eben auch durch meine Erfahrungen im Ausland einfach gelernt, erzähl denen nicht, wo es langgeht, sondern frage sie, warum machen sie das so. Und das war auch mein Ansatz für dieses Buch. Ich habe zugehört, ich habe diese Dokumente gelesen und habe zugehört. Und wie oft ich da an meinem Computer gesessen habe und dann gesagt habe, also ach so war das! Wir sind ja sehr schnell - jedenfalls in jüngeren Jahren -, sehr schnell mit Urteilen bei der Hand gewesen, und das hat sich nicht als hilfreich erwiesen, sondern ich war neugierig und wollte wissen, warum.
    Antisemitismus, Nationalismus, eine Wilde-Ehe-Geschichte
    Detjen: Da stoßen Sie also auf Dokumente, auf Briefe, Tagebücher.
    Bruhns: Mengen!
    Detjen: Eine Familie, in der sehr viel geschrieben wurde, gäbe es heute wahrscheinlich auch nicht mehr. Wer hinterlässt noch so viel an Tagebüchern, geschriebenen Briefen wie diese Generation? So, dann stoßen Sie da auf Antisemitismus, Nationalismus, eine Wilde-Ehe-Geschichte, Nationalsozialismus. Und Sie sagen, Sie haben manches verstanden, und trotzdem haben Sie immer wieder Fragen gestellt, und man hat den Eindruck, da sind im Laufe dieses Schreibprozesses viele Fragen aufgekommen, die auch unbeantwortet geblieben sind.
    Bruhns: Ja, das ist klar, das hat seine Grenzen, was ich an Antworten finden konnte. Mich hat fasziniert unter anderem - ich habe das richtig gerne geschrieben, obwohl es eine Sauarbeit war –, aber fasziniert, wie aus der wilhelminischen Zeit - mein Vater ist ja 98 geboren und war im Ersten Weltkrieg -, das musste sein, das musste natürlich ja auch im Traditionsregiment sein und das musste so sein, wie das im Wilhelminischen Reich für eine bestimmte Gesellschaftsschicht gefordert war, und hat eine schwülstige Analyse seiner Umwelt abgegeben, dass ich immer dachte, der ist vielleicht doof, das ist ja schrecklich. Und das hat sich aber dann im Laufe der Jahre natürlich geändert, als er erwachsen wurde und dann sehr viel sachlicher auch seinen Nationalismus irgendwie abgeschliffen hatte. Aber das fand ich ... Und er war eben typisch für so viele, das war die Generation. Wenn man sich die Lieder anguckt, die die gesungen haben - diese Menschen vor dem Ersten Weltkrieg und im Ersten Weltkrieg -, da stehen einem ja die Haare senkrecht zu Berge! Wie kommen die dazu, die können auch zwei und zwei zusammenzählen. Ja, aber die machten ihre eigene Fünf draus.
    Detjen: Dieses Buch - ich habe es gesagt - ist 2004 erschienen, ist also inzwischen auch schon wieder elf Jahre alt, das Buch hat eine eigene Geschichte. Wie hat sich das Buch für Sie verändert?
    Bruhns: Erstens war ich unheimlich erleichtert, dass es mir gelungen war und dass ich den Ton gefunden hatte, den ich finden wollte, und es hat mich sehr erleichtert, dass ich den Ton gefunden habe. Ich habe noch nie ... Ich habe zwei große Geschichten geschrieben zu Zeiten, als der "Stern" sie noch in der Form druckte, aber so ein Buch mit so viel Material, es war eine professionelle Herausforderung, das war es wirklich. Und dass mir das gelungen ist, dass ich das bewältigt habe, dass ich eine Menge gelernt, unglaublich viel gelernt habe, das fand ich schön, hat mich schon verändert, hat mich erwachsener gemacht.
    ((Musik))
    Sprecherin: Deutschlandfunk, das "Zeitzeugen"-Gespräch - heute mit der deutschen Journalistin Wibke Bruhns.
    Bruhns: Wegen Willy Brandt habe ich gesagt, das ist mir jetzt ganz egal, das machen wir mal.
    Sprecherin: Ansichten zu Günter Grass und das Engagement für die Wählerinitiative pro SPD.
    Wählerinitiative für Willy Brandt
    Detjen: Das hat - so klingt das - was Befreiendes, wenn man die Geschichte auf einmal in ihren Facetten, in ihren Widersprüchen auch sieht, nicht jedem ist das so gelungen. Wie ist Ihnen das gegangen, als Sie gehört haben, dass Günter Grass, den Sie ja auch gut kannten, erst sehr spät offengelegt hat, dass er in der Waffen-SS war?
    Bruhns: Also ich habe gedacht, der hat einen Knall, das ist doch einfach nicht zu glauben. Wenn er das rechtzeitig publik gemacht hätte, kein Mensch hätte ihn gesteinigt, überhaupt nicht, aber rumzugehen und den Besserwisser zu spielen über die Jahrzehnte und alle Leute zu geißeln, und dann ist er selber bei der Waffen-SS, wofür er ja gar nichts konnte, du liebe Zeit, der war 17, 18, so ein Quatsch. Was soll's? Also das fand ich absurd, fand ich wirklich absurd, dass das so spät war. Und dann wunderte er sich, dass die "Welt", in Anführungsstriche, so über ihn herfiel.
    Detjen: Sie kannten ihn seit Langem, kannten ihn, glaube ich, ganz gut.
    Bruhns: Ja, ja.
    Detjen: Welche Erinnerungen haben Sie an ihn besonders?
    Bruhns: Aus der früheren Zeit eigentlich positive Erinnerungen. Ich bin da sehr beeindruckt, dass es ihm gelungen ist, diese Wählerinitiative auf die Füße zu stellen, die ja auch eine ungeheure Breitenwirkung hatte.
    Detjen: Eine Wählerinitiative für Willy Brandt, für die er Sie dann auch gewonnen hat.
    Bruhns: Eine Wählerinitiative für die SPD, ja, genau. So habe ich ihn überhaupt kennengelernt. Und ich lese jetzt gerade wieder aus dem "Tagebuch einer Schnecke", was ja ein Report über diesen Wahlkampf 72 ist, und also dem Mann ist schon eine Menge eingefallen, das muss man schon sagen. Aber wir haben in der Wählerinitiative gelegentlich dann schon gesagt, es gab zwei Leute, die mussten wir ein bisschen neutralisieren: Das eine war Günter, weil der war eigentlich nicht wirklich politisch, das kann man so nicht sagen, nein.
    "Die dachten, die ist eine Fernsehtussi"
    Detjen: Aha, sondern?
    Bruhns: Nee, nee, sondern ja ...
    Detjen:: Er ist als der politische Schriftsteller des Landes wahrgenommen worden – gewürdigt worden in den Nachrufen.
    Bruhns: Ja, ja, aber das war er nicht. Er war zu einseitig oder so, wollen wir es mal so sagen.
    Detjen: Moralist?
    Bruhns: Bitte?
    Detjen: Ein Moralist?
    Bruhns: Ja. Und außerdem natürlich mit zunehmendem Alter von einer unendlichen Eitelkeit, er hat sich schwer zurücknehmen können. Und wir waren eigentlich immer so ganz dankbar, wenn wir innerhalb dieser Wählerinitiative agieren konnten, ohne dass er da uns dazwischenquatscht.
    Detjen: Wie hat er das geschafft, Sie damals dazu zu bewegen als Journalistin, als Nachrichtensprecherin beim ZDF, die Sie damals waren, erste Nachrichtensprecherin in der Geschichte des deutschen Fernsehens, politisch aktiv zu werden und Wahlkampf zu machen? Das wäre heute undenkbar.
    Bruhns: Völlig undenkbar. Mit Recht, das gehört sich nicht, das gehört sich überhaupt nicht. Das wusste ich auch damals schon, dass sich das nicht gehört.
    Detjen: Aha, und Sie hatten ein schlechtes Gewissen oder gab es einen Konflikt?
    Bruhns: Nö, überhaupt nicht, sondern ich habe gesagt, wir machen das trotzdem. Mir war die Wahl 72 - also nach 69 -, mir war das einfach so wichtig, und ich hatte, wenn man so will, einen ganz ordentlichen Marktwert dadurch, dass ich diesen Nachrichtenjob gemacht habe, dass Hinz und Kunz wusste, wer ich bin. Als ich dann allerdings zum "Stern" kam, haben die Kollegen nicht gedacht, dass ich überhaupt einen richtigen Satz schreiben kann, das glaubten die nicht. Die dachten, die ist eine Fernsehtussi.
    Das stand mir alles bis hier oben
    Detjen: Was war für Sie - weil Sie eben sagten, der Grass war eigentlich gar nicht politisch -, was war für Sie die Motivation, das zu machen, da aus einer ganz klassisch journalistischen Position auf die Wahlkampfbühne zu gehen? War das ein journalistischer Akt, war das ein Rollenwechsel?
    Bruhns: Das war, ja, weiß nicht wie, man das nennen soll - das hatte mit Willy Brandt zu tun. Ich fand einfach, dass die Adenauer-Zeit und dann auch noch die Erhard-Zeit, das stand mir alles bis hier oben, das war so unglaublich spießig und so unglaublich konventionell, dass ich einfach dankbar war für jeden Strohhalm, der unsereins da rausziehen konnte. Und dann war es natürlich die Studentenbewegung lange vor Baader-Meinhof - also "den Muff von 1.000 Jahren unter den Talaren" -, und das habe ich aber journalistisch gecovert. Die Person Willy Brandts, der so gebeutelt worden ist von der Union – also von Adenauer abwärts -, dem sie alles vorgeworfen haben von der unehelichen Geburt über den Nom de guerres Herbert Frahm, und ich dachte, das kann nicht sein, das kann nicht sein, dass wir so ein unterentwickeltes Demokratieverständnis haben, und der Mann ist doch in Ordnung, also warum um alles in der Welt hacken die denn so auf ihn ein. Und sie haben ja wirklich gedacht, der ist ein Irrtum der Geschichte, das kriegen wir schon ganz schnell wieder hin, als er gewählt war. Und man kann gegen Wehner eine Menge sagen, aber der hatte die Nase dafür zu sagen, wir gehen jetzt in die Große Koalition. Wenn wir erst mal bewiesen haben, dass wir mitregieren wenigstens können, dann wird das schon laufen, und das lief ja dann auch. Und dann war Barzel auch noch ein wunderbarer Partner, wenn man so will - damals fand ich den zum Kotzen, später, als er älter war, überhaupt nicht mehr, sondern aber der war nun als Gegenpol für Willy Brandt, das war alles absurd. Und deswegen, wegen Willy Brandt habe ich gesagt, das ist mir jetzt ganz egal, das machen wir mal.
    "Damals fand ich den zum Kotzen"
    Detjen: In einem Journalismus oder aus einem Journalismus heraus, der ja auch ganz anders war, als das heute hier in Berlin der Fall ist, sehr polarisiert, rückblickend, so wie ich das beobachtet habe als jemand, der erst hier in Berlin in den politischen Journalismus gekommen ist, aber rückblickend aufbauend wirkte das wie eine Lagerlandschaft, klare Lager, jeder wusste, wo er da hingehört.
    Bruhns: Ganz eindeutig. Buchverlage kamen da auch noch dazu. Da war dann Rowohlt, war auf unserer Seite, das waren die Linken, und Burda waren die Rechten und ja, so war das.
    ((Musik))
    Sprecherin: Sie hören das "Zeitzeugen"-Gespräch des Deutschlandfunks – heute mit der deutschen Journalistin Wibke Bruhns.
    Bruhns: Ich habe mich dann irgendwann gerettet, indem ich gesagt habe, das ist ja nicht ehrenrührig, es ist wirklich nicht ehrenrührig, mit einem solchen Mann in Verbindung gebracht zu werden.
    Sprecherin: Erste Nachrichtensprecherin im Westdeutschen Fernsehen, Journalismus gestern und heute und eine angebliche Affäre mit Willy Brandt.
    Detjen: Wenn Sie heute auf den Journalismus schauen, wie hat der sich verändert und wie haben sich Journalisten verändert?
    Bruhns: Es ist natürlich durch den Wegfall der Grenzen im Äther, diese unglaubliche Polarisierung verhindert eigentlich, dass die Menschen sich so festlegen. Mir gefällt es eigentlich nicht, mir gefällt es nicht, mir ist es zu wischi-waschi. Es gibt natürlich immer noch die sogenannten Leitmedien - also die "Süddeutsche" und die "Frankfurter" -, das sind schon hervorragend gemachte Blätter, aber wenn ich mir den ganzen Wust drum herum angucke, der da stattfindet mit den ... Was haben wir getobt wegen der privaten Sender, als die aufkamen - ist ja auch schon wieder eine Weile her.
    Detjen: Sie sind ja selber zu einem gegangen.
    Bruhns: Ja, aber erst viel, viel später, da wollten wir ja ein öffentlich-rechtliches Fernsehen auf privater Grundlage gründen - VOX meinen Sie jetzt, nicht?
    Detjen: Genau, ja.
    Bruhns: Ja, das war das Ziel, aber es ist halt nicht gelungen.
    Detjen: Sie haben die deutsche Medienlandschaft ja in einer Breite durchmessen, wie das auch heute kaum mehr vorstellbar ist: Volontariat bei der "Bild"-Zeitung, dann NDR, WDR, ZDF, "Die Zeit", "Der Stern", VOX, Privatsender RBB haben wir erwähnt, wahrscheinlich gab es noch viele andere. Auch so viel Mobilität ist in einem Medienmarkt heute, der davon geprägt ist, dass Redaktionen eigentlich eher schrumpfen überall, wahrscheinlich gar nicht mehr möglich, selbst für die Besten.
    Bruhns: Nein, das geht nicht. Ich bin ja erst ein Seiteneinsteiger gewesen – auch das ist nicht mehr möglich –, sondern ich habe irgendwie zugeguckt, wie Filme geschnitten werden, und dann habe ich relativ schnell meinen ersten eigenen kleinen Magazinbeitrag – drei Minuten oder was – gemacht, und da rutschte ich da rein. Und dann wurde das ZDF gegründet und da rutschte ich auch rein. Ich bin immer reingerutscht. Und das sind so Laufbahnen, die gibt es heute nicht mehr. Ich hatte auch nie Existenzängste, ich habe immer gekündigt.
    Detjen: Es war ja auch eine sprichwörtlich reiche Medienlandschaft, wenn man heute liest, wie da recherchiert wurde, mit welchem Aufwand, also ...
    Bruhns: Ja, wunderbar, Goldene Zeitalter, Goldene Zeitalter, das gibt es heute gar nicht mehr. Meine Tochter ist auch Journalistin, und wenn die so hört, dass ich bei meinen Auslandsreportagen – das war noch lange, bevor ich da in den Nahen Osten ging -, dass man erst mal da hinging und dann guckte man, was haben die hier für Zeitungen, und dann sieht man zu, dass man mit irgendeinem Chefredakteur essen geht, und der soll einem mal erzählen, wo es langgeht, und dann sechs Wochen Recherche für irgendeine Geschichte in irgendeinem Land - das Minimum - und die haben heute keine Woche.
    "Politisch hat er mich interessiert"
    Detjen: Sie haben jetzt erzählt von der journalistischen Tätigkeit, Recherchen, Sie haben große Geschichten geschrieben für den "Stern", für "GEO", ausgezeichnete Reportagen, aber richtig bekannt geworden sind Sie durch diese Rolle als Nachrichtensprecherin 1971, die Sie zugleich als die langweiligste Aufgabe Ihres Lebens bezeichnet haben, fremde Texte verlesen, und trotzdem war das ein Aufreger, wie man sich das heute auch gar nicht mehr vorstellen kann, eine Frau als Nachrichtensprecherin.
    Bruhns: Ja, man glaubt es nicht. Ich meine, vor allen Dingen, ich war ja schon vorher durchaus auf dem Bildschirm präsent gewesen. Es ist ja nicht so, dass ich vom Himmel gefallen wäre. Es wusste auch dann plötzlich keiner mehr, dass ich immerhin Jahre schon gearbeitet hatte als Journalistin im ZDF, das wusste alles niemand mehr, sondern es war dann plötzlich dieser geheiligte Nachrichtenstuhl - absurd, wirklich absurd. Ich meine, wenn ich so eine Sendung hätte machen können, wie die das später oder heute machen, dass man eben tatsächlich auch in den Hauptnachrichtensendern, da gibt es dann die Nachrichtensprecher, -rinnen in der Regel, und dann gibt es die Redakteure, -rinnen auch in der Regel, und das hätte ja noch Spaß gemacht, dann hätte ich ja eine Sendung selber bauen können. Da ich aber vor der Sendung selber gebaut hatte und nun plötzlich anderer Leute Texte vorlesen sollte, und es war wirklich so, dass ich ... Ich hätte gelegentlich ... Ich habe das dann später formuliert, zum Wohle der Grammatik hätte ich da gerne was dran rumgeschrieben, gekritzelt, redigiert - keine Chance.
    Detjen: Diese Prominenz, die Sie dadurch erreichen konnten – erste Frau als Nachrichtensprecherin –, die hatte ja damit zu tun, dass gerade die politische Medienlandschaft ...
    Bruhns: Nicht Prominenz - Bekanntheitsgrad.
    Detjen: Die Bekanntheit, die Sie erreichen konnten, die Ihnen auch gefallen hat, Ihnen genutzt hat, dann ...
    Bruhns: Ja, das war ... Klar.
    Detjen: Das war in einem politischen Journalismus, der ja in der Tat sehr männlich geprägt war – es gab wenige Frauen in dem Geschäft -, aber für Sie war es auch ein Vorteil, als junge Frau in dem Geschäft zu sein, das hat Ihnen Zugänge ermöglicht, die Männer so nicht gehabt hätten.
    Bruhns: Aber ja. Und die Neugier meiner jeweiligen Arbeitgeber oder Vorgesetzten und so - kann die das oder kann die das nicht -, also man muss es dann schon auch können. Das wäre doof gewesen, wenn ich die jeweiligen Anforderungen, die da auf mich zukamen, nicht hätte erfüllen können. Und trotzdem ging es immer noch so - selbst als ich dann schon Korrespondentin im Nahen Osten war -, schlimmer eigentlich als ich nach Amerika kam, da hatte ich, glaube ich ... Der Auslandsressortchef und irgendein Autor und der Chefredakteur, die waren alle mal Korrespondenten in Washington gewesen – das ist tödlich, sage ich Ihnen - und das aber in grauer Vorzeit, die hatten keine Ahnung, was sich da geändert hatte und worauf man sich jetzt einstellen musste, das war schon schwierig. Und da bin ich nicht sicher, dass da nicht die Tatsache, dass ich eine Frau war, doch eine Rolle gespielt hat, so nach der Devise, die kann das nicht.
    Detjen: Aber es hat eben Interesse geweckt, auch wenn man recherchiert hat. Der Bundeskanzler Willy Brandt lässt Sie spät nachts auf einer Reise in Israel ins Hotelzimmer rufen, und später machen Sie mit der Familie Brandt Urlaub in Norwegen, und natürlich entsteht das Gerücht, da steckt ein Liebesverhältnis dahinter.
    Bruhns: Ja, war aber nicht so. Der hat mich auch gar nicht interessiert, also in seiner Eigenschaft als Mann hat der mich nicht interessiert. Er hat mich wirklich ...
    Detjen: Sondern?
    Bruhns: Politisch hat er mich interessiert.
    Detjen: Was fanden Sie interessant an Brandt? Was ist das, was Sie wirklich fasziniert hat an dieser Person?
    Bruhns: Ja, ich fand die Art und Weise, wie der so die großen Fragen der Weltgeschichte anging ...
    Detjen: Wie sind Sie damit umgegangen, dass Ihnen dieses Verhältnis zu Brandt nachgesagt worden ist, hat Sie das verletzt? Sie haben Prozesse geführt und gewonnen gegen diejenigen, die das behauptet haben.
    Bruhns: Ja.
    "Ich habe mich dann irgendwann gerettet"
    Detjen: Und gleichzeitig, wenn man es rückblickend anschaut, auch das ja ungewöhnlich, diese Nähe, diese Näheverhältnisse, die entstehen konnten damals in diesem Bonner Biotop, von daher auch nicht verwunderlich, dass so ein Gerücht entsteht.
    Bruhns: Ja, ich war besonders angefasst wegen Rut Brandt, mit der ich sehr gut zurechtkam, wegen Rut Brandt, und außerdem war ich verheiratet, also so gesehen muss man das nicht haben. Dann, da ich es aber nicht wegkriegte und eben die von Ihnen skizzierte Rechtspresse wirklich alles versucht hat, Brandt was am Zeug zu flicken - das hatte gar nichts mehr was mit mir zu tun -, aber Brandt was am Zeug zu flicken ... Die haben Sachen gemacht, man glaubt es nicht. Da gibt es Fotos, wo Brandt und ich tanzen – kein Vergnügen, sage ich Ihnen, der tanzte nicht gut -, aber wir tanzen und ich habe halt so den Arm und gucke ihn an, freundlich, was soll ich denn sonst machen, und auf diesen Fotos, diese Fotos haben die versucht an ausländische Blätter zu verkaufen mit einem dementsprechenden Text, und das sollte dann in Deutschland zitiert werden. Ich habe mich dann irgendwann gerettet, indem ich gesagt habe, das ist ja nicht ehrenrührig, es ist wirklich nicht ehrenrührig, mit einem solchen Mann in Verbindung gebracht zu werden.
    ((Musik))
    Bruhns: Das wird noch Generationen so weitergehen, dass diese Nazizeit und der Holocaust uns anhaftet, und das ist auch in Ordnung. Das ist eine historische Verantwortung, die wir nicht abschütteln müssen.
    Sprecherin: Frauen und Männer in Medien und Politik, das besondere Verhältnis zu Israel sowie Zukunftsaspekte.
    Detjen: Sie haben mal gesagt, die Kerle balzen immer, das gehört sozusagen zum Geschäft dazu, das liegt in der Natur der Sache. Was meinen Sie damit?
    Bruhns: Das stimmt. Also die benehmen sich natürlich einer weiblichen Kollegin gegenüber anders, spreizen sich ein bisschen, flirten rum, so, und das muss man vorsichtig bearbeiten, damit man dann auch wieder zur Sache kommt.
    Detjen: Da sind Sie auch noch mal in die Öffentlichkeit getreten, als jetzt vor ein paar Jahren eine junge Kollegin – auch vom "Stern" – das, was Sie das Balzverhalten nennen, von Rainer Brüderle aufgespießt hat und zum Thema gemacht hat, und ja nicht nur diese Kollegin sich darüber erregt hat, das zurückgewiesen hat, sondern eine ganze Bewegung daraus entstanden ist, die genau dieses Verhalten inkriminiert und sagt, das wollen wir nicht mehr, das geht nicht mehr, und Sie haben sich eigentlich sehr verständnislos darüber geäußert.
    Bruhns: Ja, weil, man weiß es doch. Man weiß es doch. Ich meine, natürlich kann man protestieren , und wenn irgendjemand übergriffig wird, dann kriegt er was auf die Finger, es sei denn, die berufliche Karriere nimmt Schaden, weil man, sagen wir mal, nicht willfährig ist, das hat es ja auch gegeben – heute kann ich das nicht mehr beurteilen, aus dem Alter bin ich raus –, aber, ja, ich fand es übertrieben, wollen wir es mal so sagen. Und die Geschichte, die – weiß gar nicht mehr, wie sie hieß – im "Stern" ...
    Detjen: Laura Himmelreich.
    Bruhns: Ja, hätte man sich eigentlich merken können. Die lag ganz lange ... Also ich weiß auch nicht, warum dann nun plötzlich dieses gedruckt werden musste und warum dann die Chefredaktion so tat, als hätte sie in der Gestalt des gebeutelten Herrn Brüderle jetzt also nun das gefundene Fressen entdeckt. Ich fand es übertrieben, ich fand es unproportioniert.
    Detjen: Bezog sich diese Skepsis oder diese Kritik, die Sie jetzt ausdrücken, rein auf diese Geschichte oder auch auf das, was sich dahinter verbarg an Artikulation einer selbstbewussten jungen Generation von Frauen, die sich ...
    Da habe ich zum ersten Mal einen Shitstorm erlebt
    Bruhns: Ist ja nicht eine Generation ...
    Detjen: ... die sich feministisch definieren, feministische Diskurse führen, einen neuen Feminismus, der sich auch abgrenzt von dem Feminismus der 68er-Generation, zu der Sie gehören.
    Bruhns: Ja. Nein, nein, das ist schon in Ordnung, was sie da machen, sollen sie doch. Ich bin nicht sicher, dass es letztendlich irgendwas nützt, aber solange sie die gleiche Bezahlung kriegen für den gleichen Job und solange sie überhaupt Jobs kriegen, so ist es ja, ist mir jedes Mittel recht. Nur diese Hysterie, die dahinter entstand ... Ich habe bei dieser Geschichte da - das war, glaube ich, irgendeine Talkshow bei Jauch, da war das wohl -, da habe ich zum ersten Mal einen Shitstorm erlebt an meiner eigenen Person. Ich dachte, du liebe Zeit, ticken die richtig oder was? Das hat mich aber auch nicht berührt, das war mir egal. Ich weiß noch, meine Agentin rief mich völlig fassungslos an und sagt, guck dir an, was da drin ist. Ich sag, komm, das versandet sich. Es ist wirklich egal. Aber dieses fehlende Bewusstsein, dass Sachen einfach egal sind, das stört mich gelegentlich, aber das ist sicher eine Altersfrage. Ich muss mich da nicht mehr jedes Mal reinhängen.
    Detjen: Was sich verändert hat ist, dass mehr Frauen im Journalismus sind, auch mehr Frauen in der Politik, erheblich mehr Frauen, wir haben eine deutsche Kanzlerin. Welche Politikerinnen habe Sie besonders beeindruckt?
    Bruhns: Jetzt fällt mir wieder Hanna-Renate Laurien ein, die ja eine Unverblümtheit hatte, die einem schon Spaß machte. Ich überlege gerade bei ...
    Detjen: Führungspolitikerin hier in Berlin, CDU.
    Bruhns: Ja. Eine tolle Frau, eine wirklich tolle Frau. Und auch so vielseitig, die hat sich ja um Kinderchöre gekümmert oder weiß der Teufel, auch noch hier in diesem Hause, irgendwelche Jugendorchester, und hat ... Aber Politikerinnen ... Naja, also in grauer Vorzeit war es natürlich die Katharina Focke, die ja ziemlich einsam dasaß, sie war, glaube ich, Gesundheitsministerin, aber sie war eine treue Parteigängerin der Sozialdemokraten, und wer ist denn noch aus der Zeit. Die Damen, die im Grundgesetz beschäftigt waren, die schon ... Das muss man sich dann auch immer vorstellen, was das für ein Werdegang ist, also was die gerade hinter sich hatten: Die hatten den Krieg hinter sich und sie waren nicht gerade Trümmerfrauen, aber vielleicht ja doch, und haben sich dann hingesetzt und haben unsere Gesellschaft neu geordnet, das hat mir gut gefallen.
    "Sie ist Kohls Mädchen und sitzt die Geschichten genauso aus wie er"
    Detjen: Angela Merkel?
    Bruhns: Ja, ich habe nichts gegen sie, aber auch nicht sonderlich viel für sie. Ich finde sie so farblos, und ich kann überhaupt nicht verstehen, warum sie so schlecht redet. Sie ist wirklich keine begnadete Rednerin, nein, das kann man so nicht sagen. Aber sie ist Kohls Mädchen und sitzt die Geschichten genauso aus wie er - der Kohl hat sie doch "mein Mädchen" oder sie wurde immer genannt "Kohls Mädchen", ja -, und hat da denn doch die Tatsache, dass man Sachen einfach abwarten kann, und sehen, wie sie sich von selbst erledigen, das hat sie verinnerlicht. Aber sie ist sicher nicht ungeschickt und sie ist wahrscheinlich blitzgescheit, und ich habe sie ein paar Mal so erlebt und habe festgestellt, die kann ja richtig witzig sein und schnell im Kopf und so, das merkt man bloß so nicht, wenn man sie öffentlich sieht.
    Detjen: Und sie ist in dieser Zeit ungeheuer erfolgreich.
    Bruhns: Ja! Wir können doch wahrscheinlich uns einfach nichts Besseres wünschen - überall, international, national - ist doch in Ordnung, man muss ja nicht begeistert sein.
    Detjen: Stichwort international: Sie haben das schon erwähnt, Sie waren zweimal Auslandskorrespondentin - das erste Mal 1978, da gingen Sie mit zwei Kindern als Nahost-Korrespondentin für den "Stern" nach Jerusalem, ein Jahr zuvor war Ihr Mann gestorben -, das war eine Zäsur, beruflich und privat, auch Neuanfang.
    Bruhns: Ja, ich wollte raus. Ich wollte raus.
    Detjen: Wir haben dieser Tage viel über Israel gesprochen aus Anlass des 50. Jahrestages der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, und immer wieder - auch der Bundespräsident hat das gesagt - ist von einem Wunder die Rede gewesen, dass sich diese zwei Länder so angenähert haben, so befreundet haben, zumindest auf politischer Ebene. Empfinden Sie das auch so?
    Bruhns: Ja, das ist natürlich ein Wunder. Es liegt aber auch an der Befangenheit gerade deutscher Menschen, wenn sie zunächst mal nach Israel kommen. Man denkt ja immer, was kann man sagen, was kann man nicht sagen und so. Das hat sich bei mir dann relativ schnell gegeben, aber zu Anfang hatte ich ... Ich wollte wissen, wie es geht da, mich hat das Land interessiert, mich haben die Biografien interessiert, und wie komme ich selber damit zurecht. Und dann habe ich sehr schnell festgestellt, dass die israelische Politik nicht meins ist, aber dann habe ich mir auch gesagt, na gut, wer bist du denn.
    Israel: "Es ist wirklich deren Land"
    Detjen: Die ja damals eigentlich von großen Hoffnungen geprägt war. 78, in dem Jahr, in dem Sie auch nach Israel kamen, Friedensabkommen von Camp David, Annäherung zwischen Israel und Friedensprozess ...
    Bruhns: Ja, und dann kam Oslo, das ist alles richtig, aber es gab eben ... Der Mord an Rabin war kein Zufall, und die Siedlerbewegung gab es damals schon, und die wirklich Rechtsradikalen, die da versammelt sind - ich meine gar nicht die Orthodoxen, die sollen doch ihr Leben leben, aber die mit der gestrickten Kippa -, das ist im höchsten Maße, wie soll man das sagen ... Da muss ich jetzt mich schon wieder zurückhalten, weil es ist deren Land, es ist wirklich deren Land. Also ich kann das nur beschreiben, aber ich muss es wirklich nicht mögen.
    Detjen: Angela Merkel hat 2008 bei ihrer Rede in der Knesset gesagt, "die historische Verantwortung Deutschlands", und sie sagt das mit Blick auf Israel und die Sicherheit Israels, "ist Teil der Staatsräson Deutschlands".
    Bruhns: Ist die Raison d'être, ja.
    Detjen: Der Staatsräson sagte sie. Hatte sie recht?
    Bruhns: Ja, ich denke schon. Ich denke schon. Wir kommen da nicht raus, wir sollen auch nicht, ich sage jetzt mal, wir sollten auch nicht raus. Die ganzen Schlussstrich-Diskussionen halte ich für überflüssig, weil das wird noch Generationen so weitergehen, dass diese Nazizeit und der Holocaust uns anhaftet, und das ist auch in Ordnung. Das ist eine historische Verantwortung, die wir nicht abschütteln müssen. Die muss nicht in jedem Fall bedeuten, dass wir unseren Scharfblick verlieren, man kann da schon ordentlich hingucken. Und das Erstaunliche damals, als ich da hinkam, für mich war, dass ich so vorsichtig war zu Anfang, und dann aber eine ganze Reihe von Leuten kennenzulernen und mit denen auch zusammenzuarbeiten, die immer sagten, du bist ist es doch nicht, gar nicht. Na klar, so als Angehörige des deutschen Volkes bin ich es dann doch. Ich erinnere mich, als Kohl mit seiner unsäglichen "Gnade der späten Geburt", bin ich beinah in Ohnmacht gefallen, als er das gesagt hat.
    Detjen: Warum eigentlich?
    Bruhns: Na, weil das ist doch einfach quatsch, das bedeutet, ich ziehe mich aus der Verantwortung.
    Detjen: Bedeutet es das zwangsläufig, wenn man sagt, das ist ein Glück, einer der Nachgeborenen zu sein, der in diesen Verstrickungen nicht verhaftet sein musste?
    Bruhns: Also für meine und für israelische Ohren auch. Ich bin es nicht, ich habe nichts damit zu tun, wir fangen neu an, das geht so nicht, sondern man muss schon die Vergangenheit mit einbeziehen. Also bei mir war es zum Beispiel immer so, dass man im Van-Leer-Institut oder wo auch immer an der Universität oder den Universitäten, wenn da so Podiumsdiskussionen, und immer wieder ging es um die Nazizeit, und dann bin ich immer als Opfer eingeladen worden. Ich sage, was ist das denn? Ich bin Täter, wenn überhaupt, ich gehöre zu den Tätern. Was mein Vater gemacht hat, das ist seine Geschichte, aber nicht meine.
    Detjen: Aber Kohl, lassen Sie uns mal über Kohl sprechen, über den wir noch nicht gesprochen haben, hat man dem nicht auch Unrecht getan und ihm eben unterstellt, er wolle sich vor einer Verantwortung drücken, die er ja als ein Politiker, der sich sehr aus der Geschichte und aus den Erfahrungen der Geschichte heraus definiert hat – etwa in seiner Europapolitik –, hat man dem da nicht auch unrecht getan und manches einfach nicht hören wollen? Er war es, der zwei Wochen vor von Weizsäcker vom 8. Mai schon als Tag der Befreiung gesprochen hat, aber keiner hat es eben gehört.
    Bruhns: Niemand hat es gehört. Nun war er auch nicht so ein guter Redner wie Weizsäcker, aber ... Und das Datum war dann auch falsch. Wenn du das einfach so vor dich hinsagst ...
    Detjen: Er hat es in Bergen-Belsen auf einer Gedenkveranstaltung gesagt und ...
    Bruhns: Bergen-Belsen fällt mir wieder ein, dass der Reagan da eine Rede gehalten hat und nicht mit einem Wort die russischen Kriegsgefangenen erwähnt hat. Die Amis sind da schon auch sehr viel blinder auf beiden Augen, wenn es sich darum handelt, den Antikommunismus noch fortzuführen. Ist egal. Nein, ich finde nicht, dass man Kohl unrecht getan hat, denn das war ja genau gesetzt der Satz, den, glaube ich, Günter Grass erfunden hat, wenn ich mich recht entsinne, "die Gnade der späten Geburt", hat der Gauß ihm mitgeteilt, dass er das vielleicht passenderweise sagen sollte. Aber da war eine fehlende Sensibilität am Werk. Peter Boenisch, der damals Pressesprecher war, der lief in einem knielangen, nicht knie-, knöchellangen Ledermantel in Braun herum, das tut man auch nicht, wenn man da als deutsche Delegation einen Staatsbesuch macht, das tut man nicht. Und so gesehen war das Ganze so, wir sind es nicht, und das, finde ich, ging nicht.
    Detjen: Gerade das Verhältnis zu Israel, aber auch das Verhältnis zu den USA - dem anderen Land, in dem Sie dann in den 80er-Jahren noch mal Auslandskorrespondentin auch für den "Stern" waren -, das Verhältnis der Deutschen, jüngeren Generation von Deutschen verändert sich zurzeit sehr stark. Die Distanz zu Israel wächst, messbar in den letzten Jahren NSA-Affäre, wächst die Kritik an Amerika, jetzt TTIP-Diskussion, kriegt das noch mal eine neue Dynamik. Also das ganze außenpolitische Koordinatensystem, in dem die alte Bundesrepublik gediehen ist, das verändert sich sehr, sehr stark.
    Bruhns: Stimmt.
    "Das ist wirklich besorgniserregend"
    Detjen: Wie nehmen Sie das wahr? Beunruhigt Sie das?
    Bruhns: Also auf der einen Seite denke ich, das gibt sich wieder, aber nicht, was Israel betrifft, weil solange, wie das so verhärtete Fronten sind und eine so aberwitzige Politik gegen irgendeine Form von Verständigung mit den Palästinensern geführt wird ... Aber nun wird ja auch der Netanjahu irgendwann mal abtreten, sollte man meinen. Aber ich meine, so wie Scharon das damals gemacht hat, der ja dann erstaunlicherweise plötzlich sehr flexible und moderate Möglichkeiten entdeckt hat in der Politik, das ist eben Netanjahu alles überhaupt nicht, das ist aber auch ein Längen- oder Größenunterschied, was die Intelligenz betrifft. Ich denke schon, natürlich beunruhigt es mich, klar beunruhigt es mich, vor allen Dingen, wenn ich dann sehe, dass ... Israel hat so viele Probleme, soziale Probleme, die Teuerung, warum ... Zu Zeiten, als ich da war, wanderte man nicht aus aus Israel, Israelis wanderten nicht aus. Die machten einen Sabbatical, wenn sie ihren Militärdienst fertig hatten, und hauten ein Jahr lang auf den Putz, und dann gingen sie aber wieder nach Hause und spätestens wenn die eigenen Kinder in den Militärdienst gekommen sind. Heute gehen sie.
    Detjen: Heute leben 20-, 30.000 in Berlin-Charlottenburg, sie leben in Charlottenburg.
    Bruhns: Ja, das ist besorgniserregend, das ist wirklich besorgniserregend, weil es dann wiederum die Raison d'être, also innerhalb des Staates, die Loyalität ... Die haben zwar alle immer geflucht über den Staat, aber trotz alledem war da keine Frage, dass man da loyal zu sein hatte, und das ist es eben nicht mehr und das bedrückt mich.
    Detjen: Ich hatte die Frage eigentlich noch globaler gemeint, die Veränderung der Welt, in die auch Ihre Enkelkinder, Sie haben, glaube ich, zwei Enkelkinder ...
    Bruhns: Drei.
    Detjen: Drei Enkelkinder wachsen in eine Welt des 21. Jahrhunderts hinein, eine Welt voller Unsicherheiten, wir wissen nicht, wie sie sich entwickeln wird. Wie sehen Sie das? Ist das eine Generation, die vor großen Chancen steht oder vor großen Unsicherheiten, beunruhigenden möglicherweise?
    Bruhns: Ich glaube schon Unsicherheiten. Das ist wiederum im Kleinen die Jobunsicherheit, dass so die Vorstellung des ... Meine Generation, die wurden irgendwann mit 16 Schuster und dann blieben die das, bis sie 65 waren, das kannst du heute nicht mehr, das kannst du überhaupt nicht mehr. Also so ein Butterfly, wie ich das war, das war damals ungewöhnlich und ist heute überhaupt nicht mehr vorstellbar, jedenfalls nicht mit anständig Geld. Ich hatte ja keine Existenzsorgen, aber diese jungen Leute haben Existenzsorgen und die ... Ich habe nicht das Gefühl, dass die, die heute noch klein sind - die Zehnjährigen -, dass sich das wesentlich ändern wird, die müssen mehrere Berufe haben und müssen völlig neu anfangen.
    Detjen: Journalismus als Beruf, wird es das noch geben? Wenn eines Ihrer Enkelkinder uns zuhört und sagt, Mensch, die Großmutter hatte so ein tolles, spannendes Leben, ich will auch Journalistin werden - würden Sie zuraten oder abraten?
    Bruhns: Ja, klar. Ja, ich würde natürlich zuraten, weil es der schönste Beruf der Welt ist, wenn man denn die Gelegenheit hat, ihn auszuleben. Und ich bin Journalistin geworden, weil ich so neugierig bin und weil ich gerne hinter ... ich wollte gerne Türen aufmachen, die verschlossen waren, ich wollte gerne Sachen hören, die normalerweise nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, das wollte ich alles. Und es ist mir gelungen, und das weiß ich nun nicht mehr, ob das wirklich noch in der Form geht. Vor allen Dingen, gucken Sie sich die doch an, dann arbeiten sie mit ihren Agenturen. Das ist ja wie DPA, was sie machen müssen, die müssen fünfmal am Tag irgendeinen Blog ändern und müssen irgendwelche Formulierungen umstellen und so. Ist das erstrebenswert? Ich weiß es nicht, aber dass es wirklich der schönste Beruf der Welt ist, würde ich sagen, klar.
    Sprecherin: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie heute Stephan Detjen im Gespräch mit Wibke Bruhns.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.