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Holocaust-Zeitzeuge
Lanzmanns "Der Letzte der Ungerechten" kommt in die Kinos

"Shoah" war in den 80er-Jahren der wohl bedeutendste Dokumentarfilm über den Holocaust. Regisseur Claude Lanzmann sprach 1975 dazu mit Benjamin Murmelstein, dem "Judenältesten" von Theresienstadt. Nun hat Lanzmann dieses Gespräch in einem neuen Dokumentarfilm zusammengeschnitten: Les dernier des injustes.

Von Michael Meyer | 25.11.2013
    "Es war in allen Nazi-Zeitungen zu lesen….“Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“….Quel cadeau… "
    Claude Lanzmann, mittlerweile ein alter Herr von 87 Jahren, steht auf einem zugigen Bahnhof in Buhosovice, einem kleinen Ort 60 km nördlich von Prag. Von hier aus wurden in den Jahren 1941 bis 45 140.000 Juden nach Theresienstadt verschleppt, ein Ghetto, das die Nationalsozialisten wie kein anderes für ihre propagandistischen Zwecke missbrauchten. Sie drehten sogar einen Film namens "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt", in dem das Ghetto als eine Art fröhliches, modernes Arbeitslager mit Freizeitangeboten dargestellt wird.
    Murmelstein organisierte diese Propaganda-Lüge mit, in dem er die Häuser Theresienstadts sanieren und die Fassaden streichen ließ. „Wenn sie uns zeigen, können sie uns nicht töten“, sagt er einmal, und spielte in dem Nazi-Dokumentarfilm auch selbst mit. In Theresienstadt gab es, wie in anderen Ghettos auch, die Gremien der „Judenräte“ und sogenannte „Judenälteste“, Benjamin Murmelstein war der dritte von ihnen – seine beiden Vorgänger wurden mit Genickschüssen getötet. Murmelstein sagt über sein Schicksal:
    "Ich habe überlebt, weil ich ein Märchen erzählen sollte. Ich habe erzählen sollen das Märchen von dem Judenparadies Theresienstadt. Zumindest haben sie sich das vorgestellt, dass ich das erzählen werde. Dass es gibt ein Ghetto, wo die Juden leben wie im Paradies, und wo es ihnen gut geht. Und um dieses Märchen zu erzählen, haben sie mich gehalten."
    Murmelstein, österreichischer Jude, erzählt, dass er nach dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Großdeutsche Reich in der Wiener Kultusgemeinde für Auswanderungsfragen zuständig war. Murmelstein, gewitzt, selbstbewusst, schlagfertig und schlau, rettete durch seine geschickten Verhandlungen tausende von Juden vor dem sicheren Tod. Die meisten emigrierten nach Südamerika oder nach Palästina.
    Und doch: Viele konnten er nicht retten. "Es hieß: Jude, verrecke und nicht Jude, verreise!" sagt Murmelstein im Film einmal mit zynischem Humor. Ins KZ kam Murmelstein selbst jedoch nicht. Sein unmittelbarer Vorgesetzter, der über Leben und Tod zu entscheiden hatte, war Adolf Eichmann:
    "Ich hab den Eichmann gut, ich war in der ersten Reihe, jemand hat geschrieben, er war ein banaler, kleiner Mann. Er war ein Dämon."
    Murmelstein bezieht sich in seiner Kritik auf Hannah Arendt, die von der „Banalität des Bösen“ sprach, jenes Zitat, über das viel diskutiert wurde. Noch härter allerdings ging Arendt in den 60er Jahren auf die Rolle der Judenräte ein, die sie aus selbst-süchtigen Motiven der "Kollaboration" mit den Nazis bezichtigte. Murmelstein spricht sehr nüchtern über diese Zeit, in der er das Ghetto organisierte, beinahe ohne Anteilnahme.
    "Für Gefühle war keine Zeit", sagt Murmelstein an einer Stelle. Claude Lanzmann kann die Kritik an Murmelstein nicht nachvollziehen, auf ihn wirkte er absolut glaubwürdig:
    "Non, pas de tout…
    Nein, er hat keineswegs gelogen. Ich denke, er hat tiefgreifend die Wahrheit erzählt."
    Die nach dem Krieg geäußerte Kritik von überlebenden Juden, dass Murmelstein seine Macht missbraucht habe und teilweise despotisch gewesen sei, hält Lanzmann für weit überzogen. Murmelstein habe sich untadelig verhalten:
    "Er ist freiwillig ins Gefängnis gegangen in Prag, ins Pankrác Gefängnis, er sagt im Film, er war ein freiwilliger Gefangener. Die erste Frage, die ihm der Ankläger stellte, in dem er ihn fast anbellte war, „Warum sind Sie noch am Leben?“ Und Murmelstein antwortet dem Ankläger: "Und Sie? Warum sind Sie noch am Leben?" Ich denke, unter den Kritikern gibt es eben auch viele dumme Juden. ….stupid Jews."
    Der Film "Der Letzte der Ungerechten" ist ein faszinierendes Dokument über einen der wichtigsten Zeitzeugen des Ghettos Theresienstadt. Lanzmann kontrastiert das 38 Jahre alte Interview mit Zitaten aus einem Buch, das Murmelstein geschrieben hatte – Lanzmann liest selbst daraus, während er durch die Ruinen des Ghettos wandert. So ist Lanzmanns neuer Film eine wichtige Ergänzung zu seinem neun Stunden dauernden, epochalen Meisterwerk "Shoah" geworden.
    Und doch: Auch nach den 220 Minuten von "Der Letzte der Ungerechten" bleiben noch immer Fragen zu Murmelstein offen, vor allem jene, wie seine Rolle im Ghetto wirklich zu bewerten ist. Ein Fall für weitere Recherchen von Historikern. Nach dem Krieg, erzählt Murmelstein zum Schluss, habe er sich jedenfalls einsam zwischen allen Stühlen gefühlt:
    "Ein Judenältester nach dem Krieg ist wie ein Dinosaurus auf der Autobahn. Stellen Sie sich vor auf einer modernen Autobahn einen Dinosaurus. Alle Lichtsignale, alle Verkehrsvorschriften gehen durcheinander. So ist der Judenälteste nach dem Krieg, er stoßt überall an. Bei Deutschen, bei Juden."