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Homer mal Vergil im Quadrat

Ab kommenden Februar will die wegen Dopingmissbrauchs gesperrte Eisschnellläuferin Claudia Pechstein wieder aufs Eis zurückkehren. Seit Monaten inszeniert die Dopingsünderin Pechstein die nach eigenen Angaben völlig dopingfreie Vorzeige-Athletin Pechstein. Das tut sie nun auch in ihrer soeben vorgestellten Autobiographie unter dem Titel "Von Gold und Blut".

Von Jürgen Roth | 21.11.2010
    Es ist immer wieder erhebend zu sehen, welche Sozialcharakterexemplare der Spitzensport, der mit Fug und Recht Dumpfensport genannt werden darf, in prachtvoller Regelmäßigkeit hervorbringt: von Kindesbeinen an in ein autoritäres, mitunter mindestens semikriminell-korruptes Sichtungs- und Fördersystem eingespannte, jeder Möglichkeit einer halbwegs humanen, nicht vorbestimmten Entwicklung beraubte Menschen, die auf Grund des eklatanten Mangels an Erfahrungen außerhalb des Drill- und Züchtungsapparates später zuverlässig an schweren Formen des Realitätsverlustes leiden, ohne das zu merken, geschweige denn reflektieren zu können, wie sollten sie auch über die Fähigkeit zur distanzierten Selbstwahrnehmung verfügen.

    Zerbröseln die Wände des Kerkers, in den man sie vor langer Zeit gesperrt und in dem man ihnen weisgemacht hatte, die Vorgaben des Leistungswahnsystems hätten etwas mit der Welt und dem Leben zu tun, drehen diese gesellschaftlich determinierten Sporttrottel nicht selten durch. Das teilen sie mit anderen Zwangscharakteren und Paranoikern, mit Hochstaplern und Wertpapierzockern, mit von Allmachtsphantasien heimgesuchten Politikern, mit bigotten Kirchenmännern und anderen Schwindlern, die sich seit Jahr und Tag in die eigene Tasche lügen, unausgesetzt die Öffentlichkeit betrügen und jene dann, wenn sie tatsächlich oder vermeintlich ertappt worden sind, nach den guten, alten Regeln des Manichäismus in die Bataillone der Gefolgsleute und der Feinde unterteilen.

    Wir reden hier von keiner bestimmten Person. Wir haben lediglich in jüngster Zeit zufällig etwas genauer der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein zugehört und ihre kürzlich auf den Markt gebrummte Autobiographie mit dem an einen Abenteuerroman erinnernden Titel "Von Gold und Blut" gelesen. Doch, das haben wir, wir glauben es beinahe selber nicht.

    "Ich weiß jetzt, wer auf die Liste der Freunde gehört und wer auf die der Feinde", hat die fünffache Olympiasiegerin, x-fache Welt- und Sonstwasmeisterin sowie Topethikerin bei der Vorstellung ihrer "Selberlebensbeschreibung", wie Jean Paul derartige Bücher nannte, kundgetan, wobei in unserem Fall Pechsteins Manager Ralf Grengel, ein, so heißt es, ehemaliger Sportjournalist, aufgeschrieben hat, was ihm jene Dame erzählte, die zum Opfer des laut Klappentext "größten Justizirrtums in der Geschichte des Anti-Doping-Kampfes" wurde. Doch, das Wort "Opfer" ist richtig gewählt. Dieter Bohlen, gleichfalls ein Meister im Metier der autobiographischen Selbstparfümierung, hätte allerdings "Megaopfer" gesagt.

    "Anomalie oder Doping? Auf diese Frage brachen sie mein Schicksal herunter", heißt es, die auf nahezu fünfhundert vor Esprit und Eleganz glühende Seiten ausgewalzte Exkulpationsschrift beschließend, im letzten Kapitel, in dem die seit dem Februar 2009 wegen erhöhter Retikulozytenwerte von der Internationalen Eislaufunion ISU gesperrte und von allerlei Unholden - O-Ton Pechstein - "unschuldig verfolgte" ehemalige Goldsilberbronzeschwarzrotgoldmarie noch einmal den Säbel und wider die Schurken im "Anti-Doping-Sumpf" zu Felde zieht, nicht ohne allen Ernstes zehn Vorschläge zur Reform der Dopingkontrollen zu unterbreiten, die - abermals Zitat - "eine durchschlagende Glaubwürdigkeit im Kampf gegen die Betrüger" zur Folge haben sollen.

    Wir befinden uns im falschen Buch? Nein, Claudia Pechstein befindet sich bis zur letzten Seite permanent, wir haben irgendwann aufgehört zu zählen, "im falschen Film", den manch anderer als den richtigen, nämlich als Realität bezeichnen würde.

    "Schicksal" - auch dieser Ausdruck passt wie Kaviar zu Vanilleeis. "Ich wurde bejubelt, gefeiert, hofiert. Und öffentlich hingerichtet." Es richtete "sich das Schwert gegen mich [ ... ]. Mit aller Schärfe. Um jeden Preis." "Es war stets mein größter Alptraum, mein Name könne in einem Atemzug mit dem Wort 'Doping‘ genannt werden." Ja, ein Schicksal von antikischer Größe und Tragik, eine Verschlingung von Glorie und Perfidie, ein Epos über Ruhm und Hinterlist, das es locker mit Homer mal Vergil im Quadrat aufnehmen kann. "Mein Leben zwischen Olymp und Hölle" lautet denn auch der Untertitel. Man ist schier fassungslos - ob der Aufdringlichkeit jener Liaison, die das niedere Skribententum mit der Hybris einer auf Kufen durch die grunzgescheite Sportgeschichte kurvenden Polizeihauptmeisterin in dieser Causa eingegangen ist.

    Die Gerichte haben die angeblichen Nachweise über Claudia Pechsteins Kugelzellanomalie als nicht stichhaltig zurückgewiesen. Nun soll sie stattdessen an der noch selteneren Xerozytose leiden, was, milde ausgedrückt, schwer nachweisbar wäre. Dessen ungeachtet marschieren durch diesen schon sagenhaft redundant-geifernden Buchstiefel unverdrossen-mantraartig die Begriffe "Hexenjagd", "öffentliche Stimmungsmache", "öffentliche Hinrichtung", "Bannstrahl", "Jagdfieber", "Vorverurteilung", "Riesensauerei", "Glaubenskrieg", "Feldzug", "Berufsverbot", "Scheiterhaufen" und "faule Tricks", um das Lager derjenigen Richter, Funktionäre und Journalisten zu kennzeichnen, die Pechstein "abschlachten" wollten und wollen. Nur gut, dass Claudia Pechstein Bild und Bild am Sonntag, die ehernen Garanten von Moral und Integrität, auf ihrer Seite weiß. Und nur gut, dass sie ihr blitzsauberes dualistisches Weltbild mit putzigen Medaillenposerphotos garniert, auf die wir uns hier keinen zweiten Reim machen wollen.

    "Was für ein linkes Ding. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen könnte", diktierte Claudia Pechstein Ralf Grengel aufs keusche Tonband. Als "echtes Kampfschwein" tituliert sich die, scheint's, lauterste und fairste Sportlerin der jüngeren Menschheitsgeschichte, und bevor wir die von der unheiligen Inquisition verfolgte Wintersportgranate heiligsprechen und ihr obendrein für die Zweitauflage den überarbeiteten Titel Ich, Claudi - Die ehrliche Lycrahaut spendieren, bleibe abschließend nicht unerwähnt, dass die von der ISU "mit Schimpf und Schande" Überhäufte daran dachte, sich "dem Absturz, der ganzen Ausweglosigkeit" durch Selbstmord zu entziehen - und das auf eine derart patzig-schmierige Manier schildert, dass wir zu fragen wagen: Obszöne Koketterie? PR-Frechheit? Und mit Bertolt Brecht hinterherschicken: "Nachbar, euren Speikübel!"

    Es gibt Bücher, die man mit der Kneifzange anfassen muss. Und es gibt Bücher, mit denen man nicht mal mittelbar in Berührung kommen sollte. "Ich wünsche mir, dass das Buch zur Pflichtlektüre für Journalisten wird", sagte Claudia Pechstein bei der Vorstellung. In den Redaktionen der Springer-Presse dürfte ihr Wunsch erhört werden.