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Hommage an den Vater

Aris Fioretos arbeitet in seinem neuesten Werk das Leben seines Vaters auf. Die fragmentarische Prosa hat etwas Kraftvolles, meint Sigrid Brinkmann. Der schwedische Autor setzte Maßstäbe für alle, die die Notwendigkeit spüren, ein "Buch über einen Vater" zu schreiben.

Von Sigrid Brinkmann | 25.04.2013
    Mit einer Stimme "dünn wie Nähseide" sprach die Mutter ins Telefon: "Jetzt ist es passiert". Zwei Nächte und einen Tag später steht der Sohn am Sarg des Vaters und wünscht sich, er könne alles Gesehene festhalten. Er zählt die Steinplatten in der Kapelle, Deckenlampen und Gesangbücher. Er ist ganz Auge, bis dann doch elementare Fragen mit Macht ins Bewusstsein drängen.

    Wie lautet die Definition für einen Vater? Vielleicht: Er-der-schützt? Vielleicht: der Sonne entgegen? Wenn er nicht mehr schützt, ist er dann noch ein Vater?

    Aris Fioretos hat sich vorgenommen, den Vater "noch einmal zu machen". Ihn nicht zu restituieren, sondern wiederherzustellen. Fioretos nennt das Verfahren "Repaparatur". Beim Sichten des Nachlasses hatte er plötzlich den ihm zugedachten Auftrag erkannt.

    "Ich habe ihm mal ein Buch geschenkt, wo es um eine Vater-Sohn-Beziehung geht, auf Schwedisch geschrieben, und dieses Buch fand ich dann auf seinem Bücherregal, und er hat eben diesen einen Satz auf Seite 100 unterstrichen: "Es war einmal ein Vater". Und dann wusste ich auf einmal, das musst du mal sagen: Es war einmal ein Vater."

    Aris Fioretos nennt seinen Text einen "Rückwärtsgesang". Er hat ihn in drei Teile gegliedert. Der erste handelt vom Sterben des Vaters. Im Mittelteil rekapituliert Fioretos Stationen des väterlichen Lebensweges. Der nur zwei Seiten lange Schlussteil fokussiert ausschließlich auf die Minuten vor der Geburt von Aris, als der Vater noch kein Vater war. Fioretos setzt wahre Schilderungen neben Fantasien. Hier und da streut er fiktive, theatralische Dialoge in den Fluss der Erzählung ein. Er ironisiert familiäre Mythen und evoziert Orte, an die es den auf Kreta geborenen Vater, der in Österreich Medizin studierte und als junger Arzt nach Schweden ging, im Laufe seines Lebens verschlagen hatte – anfangs unfreiwillig, denn während der Bürgerkriegsjahre drohte dem damals jugendlichen Vater für seinen politischen Leichtsinn Strafe. Zwischen 1967 und 1974, als die Obristen in Griechenland herrschten, wurde Schweden zum dauerhaften Exil.
    Fioretos‘ fragmentarische Prosa hat etwas Berstend-kraftvolles. Jedes Erzählteilchen ist mit einer Überschrift versehen. Der Autor liest die "Fantaisie nocturne".

    Nimm diesen Vater und lass ihn eines Nachts am Küchentisch sitzen. Lass ihn in diesem Moment erkennen, dass er sich trotz allem, was in seinem Heimatland vorgeht, an keinen anderen Ort befinden will, lass ihn an die warmen Körper denken, die in den Zimmern über ihm atmen, und lass ihn sie in Gedanken einen nach dem anderen berühren. Lass ihn wissen, dass ein Mensch, der einen Haushalt aufbaut, alles in seiner Macht Stehende tun muss, damit jeder Winkel für alle zugänglich ist. Aber lass ihn auch wissen, dass manche Bereiche ruhig noch verschlossen bleiben können. Oder wenn nicht verschlossen, zumindest unzugänglich. Lass ihn deshalb denken, dass die Türen noch ein paar Jahren Handflächen gleichen sollen. Und lass ihn beschließen, dass es für die Kinder so bleiben soll, bis sie alt genug sind zu verstehen, dass nicht alles im Leben freiwillig passiert.

    "Die halbe Sonne" ist ein wundervoll zärtliches, poetisches Buch. Es ist getragen von dem offenkundigen Wunsch des Autors, dem Wesen seines Vaters gerecht zu werden. Ihm die Treue zu erweisen und eben keinen symbolischen Vatermord zu begehen.
    Verschiedene Elemente ordnen den Text; so das Motiv der halben Sonne. Vater und Sohn schälen und teilen eine Apfelsine. Der Sohn sieht die Tropfen der Frucht und denkt, dass sie Spuren im Leben des Vaters nachbilden. Der Vater meint hingegen, einen "halbierten Planeten" in der Hand zu halten und zu verschlingen. Am Sarg des Vaters stehend, war Fioretos auf das Sonnenmotiv aufmerksam geworden. In der Kapelle fand er die Schachtel eines bekannten schwedischen Streichholzherstellers. Auf ihr ist ein Junge abgebildet, der mit ausgestreckten Händen der Sonne entgegen geht. Fioretos zählte die Streichhölzer der Schachtel.

    "Und dann dachte ich, gut, 40 ist die Zahl der Tage der Trauer in der orthodoxen Kirche. Diese 40 Streichhölzer sind das Ticken der Uhr des Buches. Ich fange bei 40 an und wenn ich beim letzten Streichholz angelangt bin – bei der letzten These – dann hört das Buch halt dann auch auf. Das wurde das Rückgrat des Buches."

    40 Streichhölzer entsprechen auch 40 liebevoll-ironischen "Thesen über ausländische Väter". Der ausländische Vater, so Fioretos, ist nämlich eine eigene Gattung. Hier die Thesen elf und zehn.

    Einem ausländischen Vater gelingt das Kunststück, gleichzeitig umständlich und direkt zu sein. / Wenn ein ausländischer Vater etwas klarstellen möchte, worüber er nicht diskutieren will, sagt er: Lass uns hinausgehen, damit uns der Himmel besser sieht.

    Fioretos‘ Buch ist eine große Hommage und jede einzelne These eine Liebeserklärung. Wer wollte nicht einen Vater haben, dessen Hände einen lehren "wie man mit einem Menschen haushält"? Fioretos‘ Werk "Die halbe Sonne" setzt Maßstäbe für alle, die die Notwendigkeit spüren, ein "Buch über einen Vater" zu schreiben.


    Aris Fioretos: "Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater"

    Aus dem Schwedischen von Paul Berf
    192 Seiten, 18,90 Euro. Carl Hanser Verlag, München 2013.