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Hommage an die Metropole am Zuckerhut

Aus der Sicht von 16 Frauen nähert sich Rafael Cardoso jener Stadt, die wohl jeder automatisch mit Brasilien verbindet: Rio de Janeiro. Ihre Geschichten verknüpft er zu einem unterhaltsamen Roman, der den Blick für Licht und Schatten in einer der aufregendsten Metropolen der Welt schärft.

Von Eva Karnofsky | 17.05.2013
    Nachdem Rafael Cardosos Roman "Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio" 2007 in Brasilien erschienen war, urteilte ein Literaturkritiker aus São Paulo, das Buch sei viel zu "carioca". "Carioca" stammt aus der Sprache der Ureinwohner, der Tupí, und bedeutet "die, die in weißen Häusern wohnen". Als "carioca" bezeichnen die Brasilianer heute alles, was aus Rio kommt. Im Gegensatz zu dem Literaturkritiker aus São Paulo benutzen sie den Begriff "carioca" normalerweise wertneutral.

    "Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich, dass es sich vielleicht wirklich um ein Buch handelt, das extrem carioca, extrem typisch für Rio ist. Es ist so typisch für Rio, wie ich es typischer nicht schreiben konnte. Und das ist sein Vorteil, eine seiner größten Stärken","

    sagt Rafael Cardoso über seinen Roman. Er hat sich seiner Geburtsstadt Rio aus der Sicht von sechzehn weiblichen Personen genähert. Die Jüngste von ihnen ist sechs Jahre alt, die Älteste 93. Sie stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, sie sind Journalistin, Prostituierte, Flugbegleiterin, Hausmädchen oder Hausfrau, und sie leben in sechzehn verschiedenen Stadtvierteln. Jeder Frau ist ein eigenes Kapitel gewidmet, und ein allwissender Erzähler macht eine Momentaufnahme: Er berichtet, was sie etwa zur gleichen Zeit jeweils erleben.

    Den Reigen eröffnet die 34-jährige Zahnarzthelferin Renata aus dem bürgerlichen Stadtteil Catete. Renatas Episode nimmt damit ihren Anfang, dass sie es ausnahmsweise einmal nicht vergisst, vor dem Waschen die Hosentaschen ihres Mannes zu leeren und einen Zettel mit der Telefonnummer einer gewissen Jamilly findet, die später ebenfalls in einem Kapitel vorgestellt wird. Als Renata am Tag nach dem Fund des Zettels bei einem Straßenhändler ein Buch aus dem Jahr 1923 kauft und es ihr aus Versehen auf den Boden fällt, hebt ein junger Mann das Buch für sie auf.

    Selbstsicher, fast hochmütig, hob er das Buch in die Höhe und nahm es, ohne um Erlaubnis zu fragen, genauer in Augenschein. Mit leisem Triumph in der Stimme las er vor, was auf dem Umschlag stand: Die Frauen von Rio. Sergio Porto. "Na sieh mal an. Taugt es was?" "Das weiß ich nicht, ich hab´s noch nicht gelesen."

    Der junge Mann stellt sich als Rafael vor, und Renata landet mit ihm im Bett, aus Rache an ihrem Mann, der offensichtlich mit dieser Jamilly fremdgeht.
    Der Nichtsnutz Rafael ist, ohne dass die Frauen es wissen, die Verbindung zwischen ihnen. Mit einigen schläft er, andere kennt er seit seiner Kindheit. Rafael Cardoso über die Funktion seiner Figur Rafael im Roman:

    ""Er geht zwischen den Geschichten hin und her, zwischen fast allen, in einer oder zwei kommt er nicht vor, das wollte ich nicht, denn er ist nicht der Protagonist. Warum ich eine männliche Figur brauchte, die eine Kanaille ist, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich dem Buch eine Portion Humor hinzufügen wollte. Als ich Rafael schrieb, habe ich mich amüsiert."

    Humor ist im Übrigen ein Wesensmerkmal der Cariocas. Man hat gern Spaß, sonst erträgt man die Stadt nicht, meint Cardoso. Rafael, vom Autor als ein Antiheld konzipiert, hat neben dem Vornamen auch einige biografische Züge mit dem Schriftsteller gemeinsam, trotzdem sieht dieser ihn als die Figur, die am weitesten von ihm entfernt ist. Rafael braust mit seinem Motorrad durch die verschiedenen Viertel von Rio, und wie er die Frauen unwissentlich verbindet, verbindet er die verschiedenen Viertel Rios zu einer Stadt. Und er verknüpft die sechzehn Geschichten zu einem unterhaltsamen Roman über den Alltag Rios. Denn nachdem man in der zweiten Geschichte erkannt hat, dass der ebenso lebenslustige wie verantwortungslose Rafael durch die meisten Kapitel geistert, ist man gespannt, wie Cardoso ihn in den weiteren Episoden platziert.

    Längst nicht alle Geschichten sind so amüsant wie die von Renata, denn sie berichten von der offenen und der unterschwelligen Rassendiskriminierung, von der Diskriminierung Behinderter, von Drogenproblemen und der damit verbundenen Gewalt, vom Machismo, von Armut, Ausbeutung und den sozialen Schranken innerhalb der Stadt. Der 28-jährigen Verkäuferin Grazi in der Boutique im Reichen-Viertel Ipanema werden diese Schranken tagtäglich vor Augen geführt:

    Das war der Unterschied zwischen dem Südteil von Rio und den Vorstädten, sagte sich Grazi; die aus dem Süden wussten, dass so gut wie ausgeschlossen war, dass sie jemals in die Lage kommen könnten, das Geld für ihre täglichen Bedürfnisse nicht aufzubringen – die einen bekommen immer, was sie wollen, die anderen bleiben dauernd etwas schuldig. Aber es half nichts, sich darüber aufzuregen. So war die Welt. Brasilien zumindest war so.

    Rafael Cardoso hält Frauen für sensibler als Männer, und so hat er nur Frauen geschaffen, um seine Stadt zu beschreiben. Er wollte sie so gestalten, dass sie repräsentativ sind für Rio und sie alle zusammengenommen ein Bild vom Leben in der Zwölf-Millionen-Metropole geben. Wer Rio kennt, spürt es: Es ist ihm bestens gelungen. Die Sprache trägt dazu bei:

    ""Es ist eine Reflexion über eine Kultur, über die Sprache in Rio. Es handelt sich um geschriebene Sprache, die aber versucht, die Sprache der Straße aufzufangen. Ich habe versucht, das Vokabular, die Syntax an die Person anzupassen, an die soziale Klasse, an das Viertel","

    sagt Cardoso und das scheint auch durch, wenn es um die sozialen Sprachunterschiede geht. Allerdings geht durch die Übersetzung zwangsläufig so manche Feinheit verloren. Die Sprache der Cariocas gilt in Brasilien als besonders lebendig und frech, doch dies ist trotz Peter Kultzens guter Übersetzerleistung nur im Original und wohl auch nur für Kenner der verschiedenen brasilianischen Regionalismen zu erkennen.

    Rafael Cardoso hat eine Momentaufnahme seiner Stadt des Jahres 2007 gefertigt. Eine Momentaufnahme der Umgangssprache, des Lebensgefühls und der sozialen Situation. Heute, so sagt er, sind die Menschen optimistischer als noch vor sechs Jahren, und die bevorstehenden Großereignisse – Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele – haben ihren Anteil daran. Wer sie besucht, sollte nicht versäumen, Rafael Cardosos "Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio" zu lesen. Denn das Buch schärft den Blick für Licht und Schatten in der Metropole am Zuckerhut.

    Rafael Cardoso: Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio.
    Aus dem Portugiesischen von Peter Kultzen
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 318 Seiten, 19,99 Euro