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Hommage an Indien

Der Mann zieht die Ziege in den Ganges hinein, bis ihr das Wasser gegen den Mutterleib schwappt. Mit nassen Händen streicht er ihr über den prallen Bauch. Er bespritzt sie, er flüstert ihr ins Ohr. Dann führt er sie aus dem Wasser, und die Ziege wirft ­ kaum spürt sie die Ufer unter den Hufen ­ zwei Zicklein. Der Hirte schneidet die Nabelschnur ab, nimmt die Neugeborenen auf seinen Arm und macht sich auf den Weg ins nahe gelegene Dorf. Der Fluß strömt bedächtig weiter, Fährmänner decken mit ruhigen Pinselstrichen die Kiele der umgedrehten Boote mit Teer ab. Zwei Sadhus füllen ihre Gefäße und grüßen in Gottes Namen. Einige Kühe schlappen lustvoll Wasser.

Von Claudia Kramatschek | 04.02.2004
    Der Ganges: er ist die Lebensader Indiens. Eine Lebensader, die sich erstreckt von den nördlichen Höhen im westlichen Himalaya, wo der Ganges als wildes Gewässer aus den Bergen stürzt, in rund 4000 Meter Höhe oberhalb von Gangotri, bis seine Wasser sich teilen in viele kleine Arme und sich am Golf von Bengalen ergießen in die Weite des indischen Ozeans. 1800 km legt der Ganges dazwischen zurück und wer sich, wie Ilja Trojanow, seinem Lauf überlässt, wird zum Zeugen jener überwältigenden Gegensätze, die das Drama und die Lebendigkeit des heutigen Indiens bedingen.

    Es war die Suche nach einer Reise durch Indien, die möglichst viel Aspekte und Akzente von Indien beinhaltet. Die Reise an einem Fluss entlang ist immer sehr spannend, wenn man so eine natürliche Erzählung hat von dem Gipfel, von dem Ursprung, bis hin zu den Niederungen, bis hin zum Ozean. Und der Ganges ist ja als historisch-geographisches Gebiet eigentlich die Wiege der indischen Zivilisation. Es ist zudem ein Fluss, der ungefähr 300 Millionen Menschen ernährt, und es ist ein Fluss, der teilweise irrsinnig besiedelt und irrsinnig verschmutzt ist, und teilweise völlig unbesiedelt und rein ist. Also "An den inneren Ufern Indiens" ist als Titel einfach aus Ausdruck dessen, dass die Reise nicht eine übliche Reise im Sinne einer Reportage des einfach Erlebten ist. Sondern dass es eine Reise ist, die versucht, Hintergründiges, (..) unterterrane Schichten von Indien zu schürfen.

    Tatsächlich sind Trojanows Stationen, die Bundesstaaten Uttar Pradesh, Bihar und West-Bengal, Fundquellen für seinen epsiodenhaften Querschnitt durch das heutige Indien. Ein Indien, in dem sich Tradition und Moderne, Gastfreundschaft und soziale Grausamkeit, Religiösität und Geschäftsgier, Okzident und Orient in grellen Farben gegenüberstehen. In Rishikesh etwa, der Hochburg der Yogis, wird die lärmende Spiritualität, die fast an eine Kirmes grenzt, nur übertroffen durch den Volksport der nach Seelenheil suchenden westlichen Erlösungsreisenden; in Varanasi dagegen, der Hochburg des Todes, in der jeder gläubige Hindu die Verbrennung am Ganges ersehnt, schlägt zugleich die sexuelle Belästigung von Touristinnen mittlerweile alle Rekorde.

    Es ist ein vielgesichtiges Panoptikum, durch das einen Trojwnows Reise dabei führt. So vielgesichtig wie die hinduistische Götterwelt, aus deren Mythologie Trojanow ausschnittweise ebenso schöpft wie aus den harten Fakten der Geographie, und daraus Miniatur für Miniatur ein Indien zutage fördert, das seinen natürlichen Reichtum gerade deshalb allmählich wortwörtlich verschleudert, weil es sich aus der Legende des Unerschöpflichen ernährt. So ist der Ganges etwa durch die Sünden der einheimischen Umweltverschmutzung ein wahres Giftbecken geworden ist doch wird dagegen nichts unternommen, weil es laut Mythologie nicht wahr sein darf.

    Das solchermaßen zwischen Posse und Paradoxie schwankende tagespolitische Geschäft aber bildet den roten Faden auf dieser Reise an den inneren Ufern Indiens. Wobei diese inneren Ufer eher dunkle Ufer sind, getrübt durch den Bodensatz der Korruption und des Paternalismus, der die indische Gesellschaft allgegenwärtig durchdringt. Ob der für viel Geld gebaute, aber ungenutzte Gestreidespeicher, ob die Bestechungsorgien der staatlichen Stromgesellschaft, ob Call Center, in denen die Inder jede Nationalität außer der eigenen vorspiegeln dürfen Trojanow hat viel recherchiert und hat viel zu erzählen. Eines vorschnellen Urteils aber enthält er sich bewusst.

    Ich glaube, dass die übliche Reiseerzählung eines westlichen Autors aus zwei Sachen besteht: aus einem überragenden Ich, und aus einer Besserwisserei der Welt gegenüber. Und ich habe versucht, mich beider Sachen (..) zu enthalten, also das Ich möglichst zu reduzieren, also meine eigene Befindlichkeit nicht im Mittelpunkt stehen zu lassen, und die Besserwisserei auch völlig auszuschalten, sondern mich (...) auch in meinen Werturteilen überraschen zu lassen.

    Tatsächlich überwiegt, bei aller kritischen Distanz, der staunende und neugierige Blick auf ein Land, das sein Antlitz beständig ändert was, so Trojanow, kein Wunder sei, schließlich gilt in Indien noch jede Legende eine Apokryphe. Sprich: Wahrheit ist dort nur vielgestaltig zu erlangen.

    Es ist diese Vielgestaltigkeit, die Trojanow selbst zum Ordnungsprinzip seiner Reiseerzählung erhoben hat. Denn düstere und beklemmende Episoden reihen sich unterschiedslos an Momente, wo Hoffnungsschimmer und Zukunftsaussichten aufblitzen: Hier Kinderarbeit im Teppichparadies Mirzapur oder die Massaker der Armee der Grundbesitzer an den sogenannten Dalits, den Landlosen und damit Unberührbaren Indiens; dort das fast sysiphoshafte Engagement eines Rakesh Jaiswal, der seit einigen Jahren die Leichen der Ärmsten aus dem Ganges fischt, um ihnen ein würdiges Begräbnis zu geben. Denn der, so Trojanow, erschreckenden "Aushöhlung der menschlichen Fähigkeit, Unrecht nicht zu akzeptieren", stehen der Mut und die Eigeninitiative derer entgegen, die beginnen, den fatalen Mangel an Gemeinsinn zu bekämpfen, an dem Indien im Zeitalter von Konsumrausch und IT allemal leidet.

    So ist es die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Trojanows Buch als Hauptmerkmal des heutigen Indiens einfängt. Umso mehr, da auch Trojanow selbst damit spielt: Denn mal belehrt er die Leser, mal unterhält er sie, mal bringt er sie ins Grübeln, mal zum Schmunzeln. Ein Wechselbad der Gefühle, in das er die Leser damit versetzt, auch literarisch: denn der humoristische Blick auf die Tragödie das Lebens wechselt sich ab mit der nüchternen Dokumentation, kühler Realismus mit schwelgerischer Emphase.

    Das Buch ist ein literarisches Buch, d.h. es hat nicht zum Ziel, eine Bilanz zu ziehen der indischen Gesellschaft. Sondern es ist ja der Versuch, den Ganges mit literarischen Mitteln abzubilden, und gerade der Vielfalt des Ganges auch in vielen Formen und Stilen gerecht zu werden. Ich glaube, dass ich eigentlich immer versuche, Mischformen zu finden, (..) und in diesem Fall war es auch ein Versuch zu experimentieren, inwieweit scheinbar unterschiedliche oder scheinbar gegensätzliche Schreibweisen ineinander fließen können. Weil auf einer philosophischen Ebene Indien ja auch berühmt ist und auch von vielen dafür bewundert wird, dass es sehr sehr viele Widersprüche in sich trägt und auf höheren Ebenen wieder auflöst und dass viele Jahrhunderte lang diese Widersprüche gerade nicht zu Konflikten geführt haben. Im Gegensatz zum heutigen Indien, wo gerade die Unterschiede politisch instrumentalisiert werden und es eine neue Welle der Intoleranz und der Gewalt gibt.

    Trojanows Reise an den inneren Ufern Indiens ist somit auch eine Hommage: Die Hommage an ein Indien, das unterzugehen droht. Ein Indien, das sich mit Stolz berufen konnte auf die Prinzipien von Pluralismus und Säkularismus. Ein Indien auch, von dem sein Staatsvater Nehru selbst einst sagte, es sei mehr als die Summe seiner Einzelteile. Das gilt auch für Trojanows Logbuch durch Indien. Penguin India jedenfalls hat schon jetzt die englische Ausgabe gekauft. Man weiss wohl, warum.

    Ilja Trojanow
    An den inneren Ufern Indiens
    Hanser, 200 S., EUR 14,90