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Homophobie im Turnen
Weil es nur versteckt passiert

"Neue Zeichen setzen", lautet das Motto der Turn-WM in Stuttgart. Den Song dazu hat Lucas Fischer geschrieben. Für ihn hat der Titel eine besondere Bedeutung: Der ehemalige Turner will nach seinem Coming-out ein Zeichen gegen Homophobie im Turnen setzen.

Von Sandra Schmidt | 12.10.2019
Während seiner Zeit als Turner hat Lucas Fischer homophobe Äußerungen zu hören bekommen.
Der ehemalige Schweizer Turner Lucas Fischer tritt heute vor allem als Sänger auf. (imago images / wolf-sportfoto)
Jeden Abend vor Beginn des Wettkampfs singt Lucas Fischer dieser Tage den WM-Song "Neue Zeichen setzen!" Für ihn ist es eine Rückkehr in die Welt, in der er groß geworden ist. Doch nicht nur deshalb sind die Auftritte für den jungen Künstler etwas Besonderes:
"Ich bin ein schwuler Mann, ich stehe dazu und möchte das nach außen tragen, dass das völlig normal ist und einfach gar nichts Spezielles. Auch wenn es in der heutigen Zeit fast ein bisschen blöd klingt, möchte ich damit auch neue Zeichen setzen im Sport."
Lucas Fischer galt als Jahrhunderttalent, 2013 wurde er Vize-Europameister am Barren, vor einem Jahr hat er seine Homosexualität öffentlich gemacht. Dass er Männer liebt, habe er erst nach seiner Turnkarriere entdeckt, sagt der 29-Jährige. Zwar habe er sich immer komisch gefühlt, aber nie herausgefunden warum.

Vorbilder hatte er keine. In den letzten Jahrzehnten hat es keinen einzigen offen homosexuellen internationalen Spitzenturner gegeben. Diejenigen, die sich nach ihrem Karriereende dazu bekannten, sind an einer Hand abzuzählen. DTB-Präsident Alfons Hölzl auf die Frage, warum das seiner Meinung nach so ist:
Der ehemalige Turner Lucas Fischer singt "Set New Signs" - den offiziellen Song zur Turn-WM in Stuttgart.
Der ehemalige Turner Lucas Fischer singt "Set New Signs" - den offiziellen Song zur Turn-WM in Stuttgart. (imago images / ZUMA Press)
"Das weiß ich nicht, da bin ich fast überfordert. Die wird es mit Sicherheit geben. Ich denke, wir sind der Querschnitt der Gesellschaft und so wie der Anteil in der Gesellschaft ist, wird er im Grunde genommen auch bei uns sein."
Angst, sich zu outen
Der deutsche Barrenfinalist Lukas Dauser sagt: "Warum das so ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich, weil die Leute natürlich Angst haben sich zu outen, Angst haben, dass sie dann von der Gesellschaft anders angesehen werden, wenn sie sich outen. Im Endeffekt für mich muss ich sagen: Jeder Mensch sollte so sein, wie er sich fühlt und wie er ist und wenn da jemand jetzt auf Männer steht oder homo ist, dann ist das für mich überhaupt kein Problem."
Die meisten Turner verhalten sich genauso wie ihr Umfeld, denn auch unter Trainern, Funktionären und Kampfrichtern schweigt die überwiegende Mehrheit lieber. Gesprächspartner, die sich überhaupt schon einmal einen Gedanken zum Thema gemacht haben, sind rar. Eine Ausnahme ist ein Kampfrichter, den wir hier Jim nennen. Seit über 30 Jahren wertet er internationale Wettbewerbe und bleibt lieber anonym. Auf die Frage nach offen schwulen Kollegen sagt er:
"Mir fällt kein einziger Mensch ein, der international im Kampfrichtern aktiv ist und offen homosexuell wäre. Wenn man das statistisch betrachtet, müssten hier einige sein: Hier in Stuttgart sind hundert Kampfrichter und je nachdem, welche Studie man nimmt, sagen wir mal es sind fünf Prozent der Bevölkerung. Dann kann man sich das ja leicht ausrechnen!"
Ioannis Melissanidis ist eines der bekanntesten Beispiele dafür, was im Turnsport passiert, wenn ein Turner in der Szene für schwul gehalten wird. Der Grieche lieferte auf der Bodenfläche nicht nur höchste Schwierigkeiten, sondern eine choreographisch und gymnastisch außergewöhnlich künstlerische Vorstellung. Jim erinnert sich an Kommentare seiner Kollegen:
"Er war die ideale Zielscheibe! Für alle, die beleidigende, negative oder bösartige homophobe Dinge sagen wollten. Aber natürlich nicht ihm direkt ins Gesicht. Ja, das war überhaupt nicht schön!"
Plumpe, diffamierende Sprüche
Die Bewertung, so Jim, wurden davon allerdings nicht tangiert: "Ich denke, die Noten, die er bekommen hat, zeigten, dass dieser Typ eine großartige Bodenübung hatte - in jeder Hinsicht: Akrobatik, Ausdruck und Choreographie. Ich habe häufig im Kampfgericht gesessen, als er turnte, und er hat dort nie Benachteiligungen erfahren."
1996 wurde Ioannis Melissanidis Olympiasieger am Boden. Doch auch 23 Jahre später hat sich wenig geändert: Immer dann, wenn ein Turner besonders elegant ist, gibt es diffamierende Sprüche. Jim beschreibt es so:
"Es sind die klassischen, plumpen Sachen. Zum Beispiel: Guck mal, wie er Boden turnt, das muss eine Schwuchtel sein! Sehr abfällig eben. Oder: Oh, Gott, der ist doch auf jeden Fall schwul, schon wie der geht! Es sind all die stereotypen Annahmen darüber, wie sich ein schwuler Mensch bewegt oder verhält. Und das stülpen sie jemandem über, von dem sie überhaupt gar nichts wissen."
Lucas Fischer kann sich an solche Sprüche auch von anderen Turnern erinnern. "Tu' nicht so schwul", haben sie ihm gesagt. Damals habe er sich gar nichts dabei gedacht, erzählt er. Erst im Nachhinein sei ihm bewusst geworden, dass das homophobe Äußerungen waren.
Eine Privatsache, die niemanden etwas angeht?
Die häufigste Antwort, wenn man in Turnerkreisen das Thema Homosexualität anspricht, lautet ungefähr so: Das ist Privatsache und geht niemanden etwas an. Und deshalb sei es eben im Turnen auch kein Thema. Eine Position, die Lucas Fischer ärgert:
"Ich glaube, die Leute haben einfach Respekt vor diesem Thema, weil es ein Tabu ist, weil es nicht angesprochen wird, weil es nur versteckt passiert, wenn es passiert. Und genau das muss geändert werden. Das sind Menschen, die es eigentlich nicht akzeptieren und es nicht so sehen, wie sie es eigentlich sagen."
DTB-Präsident Alfons Hölzl findet nicht, dass das Thema Homosexualität tabuisiert ist: "Von Verbandsseite keinesfalls, ich erlebe uns da eigentlich weltoffen. Das ist eine ganz individuelle Frage oder Situation jedes Einzelnen, die sexuelle Veranlagung oder Orientierung und das ist auch gut so."
Jim hingegen ist überzeugt, dass es momentan eher mehr als weniger Debatten braucht: "Ich bin überzeugt, dass wir darüber mehr reden müssen, weil das Turnen noch kein Ort ist, an dem sich diese Menschen sicher fühlen. Warum ich davon überzeugt bin? Gibt es im Moment offen schwule Trainer, Kampfrichter oder Turner? Nein. Aber statistisch müsste es sie geben. In einer idealen Welt, vielleicht in hundert Jahren, wird es niemanden mehr interessieren, aber jetzt müssen wir darüber reden, damit Menschen auch im Turnen sie selbst sein können."