Sehr viel Neues allerdings werden die talking heads in einer ganz gewiss unsicheren, von steigender Arbeitslosigkeit und schwächelnder Konjunktur geprägten Zukunft nicht erkennen. Denn an den wirtschaftspolitischen Leitbildern, die führende Köpfe aller Parteien in gebetsmühlenartiger Prozession vor sich hertragen, hat sich nichts geändert: Unter längst abgegriffenen Parolen wie Steuerentlastung und Verschlankung des Staates, Einsparungen bei Sozialversicherungen, Flexibilisierung oder Verbilligung des "Kostenfaktors" Arbeit wird da in düsteren Farben eine wenn schon nicht angenehme, so doch irgendwie halbwegs sichere Entwicklung ausgemalt. Schließlich, so heißt es am Ende dieser Sonntagsreden, schließlich sei die Bundesrepublik immer noch ein reiches Land. Das sieht der Sozialwissenschaftler Horst Afheldt ganz anders. Er blickt nicht nur stur nach vorn, sondern schaut auch mal zurück. Afheldt war es, der bereits 1994 in seinem Buch "Wohlstand für niemand" darauf hingewiesen hatte, dass das Sozialprodukt schon seit 1950 nie exponentiell, sondern immer nur linear gewachsen ist. Bis 1970 waren Vermögenseinkünfte, Unternehmergewinne und Einkommen abhängig Beschäftigter gleichermaßen gestiegen. Seither aber zeichnet sich eine gravierende Spaltung der Gesellschaft ab, die jede soziale Marktwirtschaft zunichte macht, die kaum noch jene Wirtschaftspolitik zulässt, deren einziger Maßstab im Sinne Ludwig Erhards "der Mensch, der Verbraucher, das Volk" ist. Das ist die traurige, alle neoliberalen Zukunftsversprechen ad absurdum führende Botschaft sorgsam analysierter Langzeit-Statistiken, die Afheldt jetzt seinem neuen Buch als vierfarbiges Lesezeichen beigelegt hat:
Langfristige Entwicklungskurven haben den Vorteil, dass sie ideologieresistent sind und so Ideologien als das entlarven, was sie sind. Denn sie zeigen, wohin die Patentrezepte führen. Sie helfen, Denkhemmungen zu beseitigen und zu verstehen, was an wirtschaftlichen Entwicklungen unausweichlich ist und was politisch gesteuert werden kann. Die neoliberale Wirtschaft mit ihrer Freihandelsdoktrin ist mit dem Versprechen angetreten, Wohlstand für alle zu schaffen. An diesem Versprechen muss sie sich jetzt messen lassen. Heute, nach so vielen Jahren, reichen die Wirtschaftsdaten dafür aus.
Aber nicht der reflektierende Blick zurück bestimmt die Reform-Debatte, sondern die Auftritte von "Jubel-Ökonomen", von Experten, die nicht mehr allein durch vollmundige Versprechen, sondern mittels markiger Sparappelle die kommende Konjunktur beschwören. Wirtschaft, so weiß nicht nur der Kanzler, ist Psychologie, da wird man doch die abflachenden Kurven der Afheldtschen Statistik mit etwas gutem Willen und Optimismus wieder nach oben drücken. Aber bereits Begriffe wie Investitions-"Klima" oder Verbraucher-"Stimmung" trüben die Sicht auf eine Realität, in der nicht imaginierter Konsumwunsch und –wille den Ausschlag gibt, sondern die Mehrheit der Arbeitnehmer längst nicht mehr ausgeben kann, was am Monatsende im Portemonnaie fehlt! "Papageien-Politik" hat Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die derzeit auch in Deutschland zu beobachtende Abkehr von den real existierenden Voraussetzungen vernünftiger Wirtschaftspolitik genannt.
Wenn man einem Papagei den Spruch "fiskalische Austerität, Privatisierung und Marktöffnung" beigebracht hätte, dann hätte man in den achtziger und neunziger Jahren auf den Rat der Weltbank verzichten können. Denn dies waren die drei Säulen all seiner Empfehlungen.
Heute und hierzulande haben die Mantras nur andere Namen, lauten etwa "Arbeit muss attraktiver werden" – und bedeuten de facto, dass sich Deutschland in einem von weltweiter Konkurrenz erzwungenen Wettlauf durch Niedrigstlöhne ein größeres Stück vom globalen Wachstumskuchen sichern soll. Aber selbst wenn das gelänge, bliebe es für den Langzeitstatistiker nur eine "Momentaufnahme". Im System einer Weltwirtschaft nämlich – und da attackiert Afheldt nicht nur mit Zahlenkolonnen, sondern mit spitzen Argumenten – im globalen System-Zusammenhang müssen die "Tiger"-Staaten verhungern, wenn die begrenzten Exportmärkte leer gewildert sind. "Mehr exportieren, als man importiert, kann nun einmal kein globaler Imperativ sein," gibt Afheldt zu bedenken – und erinnert an John Maynard Keynes, der nach 1945 weitsichtig plante, gegen Länder mit permanentem Handelsüberschuss Sanktionen zu verhängen.
Ohne ideologische Scheuklappen stellt Afheldt Zwickmühlen und Sackgassen dar, in denen die nach heftigem Reformruck verlangende Politik längst steckt. Ob privat finanzierte Alterssicherung oder einheitliche Bürgerrente, Stärkung der Massenkaufkraft oder Steuererleichterung – dieser Kritiker erwägt Vor- und Nachteile, ohne gleich mit Patentrezepten zu kontern. Und er lässt andere zu Wort kommen, Fachleute wie Heiner Flassbeck, der als Chefvolkswirt bei den Vereinten Nationen aus der Distanz urteilt:
Auf die Frage, was "Reform" ist, hört man im Grunde nur eine Botschaft: Es muss gekürzt werden. Hat ein Land über seine Verhältnisse gelebt, muss es genau wie ein Privatmann und ein Unternehmen den Gürtel enger schnallen. Ein Unternehmen, das den Gürtel enger schnallt, entlässt Arbeitskräfte … Die Arbeiter ohne Job schnallen ihren Gürtel enger, kaufen also weniger Güter … Das vermindert den Gewinner der Unternehmen, die diese Güter hergestellt haben … Das Arbeitslosengeld bezahlt der Staat. Der will aber keine höheren Schulden machen. Folglich kürzt er Beamtengehälter und Bauinvestitionen … Die Nachfrage sinkt weiter und am Ende hat sich die Gewinnsituation der Unternehmen nicht um einen Euro verbessert. Wo immer gekürzt wird, negativ betroffen sind immer zuerst die Gewinne der Unternehmen. Ein Unternehmen mag seine eigene Lage durch Entlassungen kurzfristig verbessern, den Unternehmen insgesamt hilft das nicht. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer einzel- und einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung. Die Wirtschaftspolitik aber hat das vollkommen verdrängt. Man senkt die Steuern, um Gewinne, Investitionen und Zahl der Arbeitsplätze zu erhöhen. Man kürzt aber gleichzeitig die Staatsausgaben, um "gegenzufinanzieren" – und endet zum eigenen Erstaunen im Nichts.
Doch das Staunen hält sich in Grenzen: Noch glaubt so mancher, der "öffentliche Lebensstandard" sei auf Dauer zu senken, das Volksvermögen längst noch nicht erschöpft. Aber selbst wenn jede Bibliothek geschlossen, das letzte Uni-Gebäude verfallen und kein Schwimmbad oder öffentlicher Park mehr übrig geblieben sein wird, dürften falsche Sparsamkeitsapostel weiterhin versuchen "nach unten zu bohren", wie Afheldt es nennt. Er verlangt stattdessen eine echte Reform, die Soziallasten gerecht verteilt und vor allem die Steuern – gemessen am prozentualen Anteil des Sozialprodukts – auf ihr altes Maß zurückführt. Dann müssten abhängig Beschäftigte nur noch die Hälfte, Unternehmen und Vermögen aber wieder das Doppelte zahlen – wie zu Zeiten Ludwig Erhards, als der "rheinische Kapitalismus" die ungeregelte Marktwirtschaft in soziale Schranken wies. Das aber wäre, schreibt Afheldt, mehr als eine Reform, das wäre eine Revolution. Und unwahrscheinlich wäre es dazu: Denn mit dem Nationalstaat ist auch der letzte noch verbliebene Raum für Solidarität und politischen Kontrolle der Globalisierung zum Opfer gefallen – und dass ein geeintes Europa mit gemeinsamer Steuer- und Sozialpolitik Ersatz bieten könnte, steht nicht einmal in den Sternen. Da hilft auch kein noch so kluger Blick zurück.
Horst Afheldt, Wirtschaft, die arm macht; Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft. Erschienen ist es im Verlag Antje Kunstmann. Es hat 256 Seiten und kostet 19.90 €.