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Horst Kurnitzky: Die unzivilisierte Zivilisation. Wie die Gesellschaft die Zukunft verspielt.

Kein Tag vergeht, ohne einen neuerlichen Aufruf zu mehr Flexibilität. Das Risiko wird zur Leitkultur erhoben, das Prinzip Konkurrenz durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft. Kurzum: Die Gesellschaft zerfällt in Marktteilnehmer. Der Philosoph und Religionswissenschaftler Horst Kurnitzky ist ein radikaler Kritiker dieses neoliberalen Wirtschaftsmodells. Er ist Buch

Günter Rohleder |
    Kein Tag vergeht, ohne einen neuerlichen Aufruf zu mehr Flexibilität. Das Risiko wird zur Leitkultur erhoben, das Prinzip Konkurrenz durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft. Kurzum: Die Gesellschaft zerfällt in Marktteilnehmer. Der Philosoph und Religionswissenschaftler Horst Kurnitzky ist ein radikaler Kritiker dieses neoliberalen Wirtschaftsmodells. Er ist Buch

    von "Triebstruktur des Geldes" und "Der heilige Markt". Jetzt ist sein jüngstes Plädoyer für eine menschlichere Gesellschaft erschienen. Unter dem Titel: "Die unzivilisierte Zivilisation. Wie die Gesellschaft ihre Zukunft verspielt." Eine Rezension von Günter Rohleder:

    Zwei Jungen begegnen in den Wäldern der USA einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Tennisschuhe an. Da sagt der in Panik geratene: "Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär." Und sein Freund entgegnet ihm: "Du hast Recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.

    Wir sind mitten drin in der Wettbewerbsgesellschaft. Horst Kurnitzky zitiert diese Geschichte, um das sozialdarwinistische Prinzip des befreiten Marktes zu illustrieren: Was in der Natur die Entwicklung der Arten voranbringt, soll auch dem Fortschritt in der Gesellschaft dienen. Freie Konkurrenz sichere den Erfolg der Tüchtigsten, so die Behauptung. Und der weist darauf hin, dass die Tüchtigsten selbst in Darwins Naturszenario gar nicht die Stärksten, sondern die Unauffälligsten und Angepasstesten sind: Der Kampf ums Überleben spielt sich nicht zwischen einem Adler und einer Schlange ab, die vom Adler gegriffen und gefressen wird. Sondern zwischen der Schlange, die gefressen wird, und der Schlange, die dem Adler erfolgreich entkommt. Aber die Ökonomen und Politiker, die den Konkurrenzkampf der Marktgesellschaft als natürlichen Prozess beschwören, haben dem zufolge mit Erkenntnis und Aufklärung sowieso nichts am Hut.

    In dem Maß aber, wie Menschen und Lebensentwürfe aus den Wirtschaftskonzepten verschwinden, ökonomische Theorie und Praxis nicht oder nicht mehr von den realen Bedürfnissen der Menschen ausgehen, die Gesellschaft also ihr Primat über die Ökonomie verliert, verschwindet auch jede Reflexion über die Gesellschaft (...) Ein wie immer gearteter Contrat Social ist dann nicht mehr Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens. Soziale Desintegration, Elend, Migration, eine Vielzahl von Kriegen und der ungehemmte Ausbruch von Gewalt sind die Folge. Die freie Konkurrenz ökonomischer Partialinteressen wird letzten Endes alle gesellschaftlichen Formen durch Joint Ventures oder Aktiengesellschaften ersetzen.

    Deutschland-AG, Wolfsburg-AG gehören längst zum politischen Jargon. Und mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist für den rundum flexiblen Arbeitskraftunternehmer sogar die Vokabel Ich-AG hoffähig geworden. Wer käme auf die Idee, einer Ich-AG Menschenwürde zuzusprechen? Der Philosoph Kurnitzky sieht die gesamte Zivilisation in Gefahr, wenn die Gesellschaft sich blindlings dem betriebswirtschaftlichen Kalkül unterwirft. Und der Religionswissenschaftler Kurnitzky wird immer wieder fündig in den Opferkulten der Antike, wenn er gegen die fundamentalistische Heilslehre des Neoliberalismus anschreibt. Den Glauben also, dass eine unsichtbare Hand das Schicksal von Individuen und Gesellschaft lenkt und zu Wohlstand führt. Opferkult und Mythos scheinen durch, wo vorgeblich ökonomischer Sachzwang gesellschaftliches Handeln bestimmt.

    Stämme, Gemeinschaften und Gesellschaften werden durch das Opfer zusammengehalten. Ein gesellschaftliches Leben ist nur um den Preis eines Opfers zu haben. Wie seine Stellvertreter und Symbole verkörpert das Opfer ein Reproduktionsverhältnis, das ohne reale Opfer nicht einmal das physische Überleben der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft denken lässt. Der Ausschluss aus der Opfergemeinschaft kommt einem Todesurteil gleich. Das war in einfachen Stammesgesellschaften so und ist bis heute ein Grund für das Elend der Marginalisierten. Keine Arbeit, kein Lohn, kein Leben.

    Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Horst Kurnitzky sieht im neoliberalen Marktmodell den Abschied vom Leitziel der Aufklärung: einer demokratisch verfassten Gesellschaft autonomer Individuen, die die Formen ihres Zusammenlebens selbst bestimmen. Soziale Gerechtigkeit hat keine Konjunktur mehr. Wir wissen nicht, warum ursprüngliche Gemeinschaften von Menschen mit Tötungsritualen und Tabuvorschriften ihren Zusammenhalt hergestellt haben, schreibt der Autor . Wir wissen nicht wie die Opferkulte entstanden sind. Belege gebe es allerdings dafür, dass die Opferkulte mit weiblichen Opfern ihren Anfang nahmen. Im Laufe der Zeit wurden Menschenopfer dann durch Tieropfer ersetzt und diese wiederum durch Opferstrukturen, die vielleicht gar kein gegenständliches Opfer mehr erkennen lassen: Ein Ausdruck von Zivilisierung Gesellschaft und von wachsendem Reichtum.

    Tatsache bleibt, dass Gewalt das Verhältnis der Menschen zueinander bestimmt, auch da, wo sie nicht als physische Gewalt in Erscheinung tritt oder als sublimierte Gewalt in Kultur übersetzt worden ist. Die Geschichte der Zivilisation ist auch als Geschichte des Umgangs mit der Gewalt zu lesen. Kulte, Religionen, der Staat, schließlich die zivile Gesellschaft sind Formen eines sozialen Gewaltmanagements. Sie versinnbildlichen Kohäsionskräfte, die Menschen verbinden – Liebe, Zuneigung, Solidarität -, wie die Aggressionen, die die Gesellschaft tendenziell sprengen. Jeder Versuch, diese Ambivalenz zugunsten einer Seite auszuschalten, führt notwendigerweise wieder zu Gewaltakten. Das betrifft auch die Ökonomie.

    Nehmen wir den Begriff Flexibilität. Er unterstellt Handlungsfähigkeit. Für den ökonomisch Schwachen aber, der nichts zu verkaufen hat als seine Hände und sein Hirn, heißt Flexibilität in erster Linie Unterwerfung unter Bedingungen, die andere vorgeben. Oder nehmen wir das Wort Sparen: das Vorausopfer, das für später einen Lohn verspricht, ist im Sparzwang staatlicher Haushaltsführung nicht mehr erkennbar.

    Sparen wird zu einem Wort Orwellscher New Speak, das in die Irre führt. Anstatt zu bewahren, wird eingespart, weggespart. Das Gesparte verschwindet einfach: Teile von Schulen, Universitäten, Einrichtungen des Wohlfahrtstaates. Die Opfer finden sich dann in Gestalt der Bettler auf der Straße wieder. Der Effekt: eine Selbstzerstörung der Gesellschaft.

    Es sind vor allem die historischen und die religionskritischen Deutungen Kurnitzkys, die seine radikale Kritik am Siegeszug des neoliberalen Marktmodells zu einer wertvollen Lektüre machen. Unklar bleibt allerdings die ökonomische Dimension des Begriffs Neoliberalismus. Wie kam es zu einer Zivilisierung des Kapitalismus und wodurch wurde sie gestoppt? Wenn der Autor den Zerfall der Zivilgesellschaft etwa an der Preisgabe wohlfahrtsstaatlicher Politik festmacht, bleibt offen, wo und unter welchen ökonomischen Bedingungen ein Wohlfahrtsstaat bisher überhaupt erfolgreich war. Auch den Begriff Totalitarismus füllt der ansonsten sprachsensible Autor allzu leichtfertig, wenn er den Mythos der Rasse kurzerhand mit dem der Klasse gleichsetzt.

    Keinen Zweifel lässt Kurnitzky an seinem emphatischen Verständnis von Zivilgesellschaft und Zivilisation: Die Zivilisierung der Gesellschaft habe keine Zukunft ohne Verteilungsgerechtigkeit und in letzter Konsequenz erfordere die Verteidigung der Menschenrechte einen demokratisch kontrollierten Markt.

    Günter Rohleder besprach die neue Arbeit von Horst Kurnitzky: Die unzivilisierte Zivilisation. Wie die Gesellschaft ihre Zukunft verspielt. Campus Verlag 2002. 259 Seiten. 24 €90.