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Hühneropfer und Coca-Cola in der Kirche

Vor bald 500 Jahren eroberten die spanischen Konquistadoren das Hochland von Chiapas im Süden Mexikos. Im Dörfchen San Juan Chamula trotzten die indigenen Bewohner Krone und Kirche nach Kräften - und kochen bis heute selbstbewusst ihr eigenes Süppchen aus Tradition und Fremdem.

Von Sven Töniges | 15.11.2009
    Das Huhn ist tot, gerade wurde ihm der Hals umgedreht. Jetzt gilt es, Coca-Cola auf das tote Tier zu träufeln. Mit gleicher Sorgfalt sprenkelt die indianische Priesterin die braune Brause auch auf die bunten Kerzen, die sie präzise auf dem Kirchenboden aufgereiht hat. Monoton murmelt sie ihr Gebet, wiederholt unablässig Formeln, die das Kirchenschiff erfüllen wie der harzige Duft, der überall ausgelegten Pinienzweige.

    Das gleiche Bild auch ein paar Meter weiter, vorne am Altar. Das nächste Huhn, das gegen sein Schicksal angackert und anflattert und doch das gerade angestimmte Gebet der Priesterin nicht überleben wird.

    Jesus Christus, droben am Kreuz, muss das Schauspiel gewähren lassen. Dutzende Hühner finden hier täglich ihr Ende, hier unter den Augen Jesus', doch ohne dass er ihnen helfen könnte. Denn schon lange ist er nicht mehr Herr in diesem sonderbaren Gotteshaus, der Kirche von San Juan Chamula im Hochland von Chiapas, Mexikos südwestlichstem Bundesstaat.

    Hier regiert San Juan Bautista, Johannes der Täufer. Ihm weihten die spanischen Eroberer einst die Kirche, die Ureinwohner, Mayas vom Volk der Tzotziles, schufen dem Namenspatron einen synkretistischen Kult. Seine Liturgie kennt die Taufe als einziges Sakrament, in der Hierarchie steht Johannes der Täufer ganz oben, über Jesus Christus, denn schließlich war es Johannes, der ihn erst taufte.

    Und so blickt heute in Chamula Johannes Baptist von einem gewaltigen Gemälde über dem Altar in das von unzähligen Kerzen flimmernde Kirchenschiff. An dessen Seiten wacht eine Phalanx von Heiligenfiguren, das Kruzifix muss sich hinten einreihen, wie auch die Heilige Jungfrau - auf ihrem fröhlich neonfarben blinkenden Podest.

    Tritt man heraus aus dem Tempel des Johannes, dieser Kathedrale des Synkretismus', trägt die blendende Sonne über dem Hochland der Sierra Madre kaum zur Erhellung des gerade Gesehenen bei. Dabei ist alles ganz einfach:

    In alter Zeit war das gesamte Tal von San Juan ein See. Bis der wundertätige Johannes kam, die Wasser in ein fruchtbares Tal verwandelte und die Gemeinde gründete: Chamula, - "Der das Wasser trocknete" - nannten die Indigenas also Johannes den Täufer. In und um Chamula leben die meisten der 350.000 Tzotzil-Mayas oder besser der "Batsil Winik'Otik", wie sie sich selbst nennen, "Die wirklichen Menschen".

    Den Mantras ihrer Schamanen im Inneren der Kirche entsprechen draußen die Mantras ungezählter Reiseführer. Längst ist ein Tagestrip nach Chamula Pflicht für Touristen in Chiapas. Spät vormittags kippen Reisebusse ihre Ladung für eine Stunde ab, genug Zeit für Kirchgang und Markt. Doch zuvor müssen den Besuchern die Gebote des Ortes eingetrichtert werden; aus gutem Grund, unterstreicht Sandra, die täglich Touristen aus dem nahen San Cristóbal de Las Casas hierher führt. Sie zeigt auf den Eingang des kleinen Rathauses, vor dem mit Holzstöcken bewehrte Männer in Fellwesten stolz dreinblicken.

    "Man nennt sie die Ältesten und sie sind so etwas wie Dorfpolizisten hier. Sie sorgen für Ruhe und Ordnung. Da siehst du sie in ihrer traditionellen Alltagsuniform, ein Sombrero aus Stroh, ein Poncho aus schwarzer oder weißer Wolle - und vor allem tragen sie diese speziellen Holzknüppel."

    Die schon manch unbotmäßiger Tourist zu spüren bekommen habe, raunt man sich in den vor der Kirche anstehenden Reisegruppen zu. Auch Reiseführerin Sandra mahnt ihre Schutzbefohlenen zur Obacht.

    "Ja, wenn die Dorfpolizisten sehen, dass Touristen filmen oder fotografieren, dass sie die Traditionen des Dorfes nicht achten, können sie ganz schön ungemütlich werden. Mal nehmen sie die Kamera ab, mal den Film oder die Speicherkarte. Zwar sind manche auch ganz umgänglich und verlangen nur ein kleines Bußgeld. Aber es kommt durchaus vor, dass sie Touristen für ein paar Stunden - oder Tage - ins Dorfgefängnis stecken."

    Das garantiert den internationalen Touristen beim Besuch des Dorfes das gerüttelt Maß an Nervenkitzel - und den Dorfbewohnern ihre seelische Integrität, erklärt Sandra:

    "Dorffremden, egal ob Mexikaner oder Touristen aus dem Ausland, ist fotografieren grundsätzlich verboten. Damit wollen sie sich schützen: Nach ihrem Glauben raubt ihnen die Kamera ihre Seele. Dann sind sie verletzlicher, anfälliger für Krankheiten und so weiter. Es ist also eine Sicherheitsmaßnahme für ihre Seele, für ihren Geist."

    Dass diese Sicherheitsmaßnahmen auch tatsächlich exekutiert werden, dass Touristen vor archaischen Schafsponcho-Polizisten kuschen, das ist neben dem eigenartigen Kult um Johannes den Täufer das Erstaunliche an diesem Dorf im chiapanekischen Hochland. Das Bild vom servilen Indio will hier nicht verfangen.

    So hatten sich die spanischen Konquistadoren das sicher nicht vorgestellt. Sie vertrieben Mexikos präkolumbianische Bewohner in immer höhere, immer unfruchtbarere Gebiete. So entstand in einem 2300 Meter hoch gelegenen Tal der Sierra Madre im Jahr 1528 auch die Gemeinde San Juan Chamula. Wie überall in Lateinamerika zwang man die indigenen Bewohner zu Katholizismus und Fronarbeit. Doch Chiapas blieb stets eine unruhige Provinz. Zweimal erhoben sich allein die Tzotzil in Chamula gegen die Spanier und später gegen den mexikanischen Staat. Seit 1870 reicht nicht einmal mehr Roms langer Arm bis in Chamulas Gotteshaus. Da gab sich die katholische Kirche dem synkretistischen Johanneskult geschlagen. Seitdem betrachtet sie die Gemeinde von Chamula nicht mehr als eine der Ihrigen.
    Doch während seit 15 Jahren unweit in den Bergen die linke Guerilla der Zapatisten um den legendären Subcomandante Marcos gegen Neoliberalismus und für die Rechte Indigenas kämpft, ist Chamula politisch fest in den Händen des PRI, der Partei der institutionalisierten Revolution. Seit 80 Jahren stellt die mafiöse Staatspartei den Bürgermeister in Chamula. Und der ist wiederum qua Amt auch Würdenträger des Johanneskults.

    Hinter stolz zur Schau gestelltem Brauchtum stecken auch handfeste Politik und Sozialkontrolle. Wer politisch oder religiös aus der Reihe tanzt, muss die Gemeinde verlassen, egal ob er den evangelikalen Sekten zuneigt, die seit einigen Jahren massiv in der Region missionieren, oder ob er mit der zapatistischen Guerilla liebäugelt. Ein gutes Drittel der Einwohner Chamulas wurde so in den letzten Jahren vertrieben, weiß Reiseführerin Sandra.

    "Nein, Chamula gehört nicht zu den Dörfern hier, die an der zapatistischen Bewegung teilnehmen. Aber man nutzt sie durchaus, als zusätzliche Einkommensquelle. Hier auf dem Markt werden Postkarten und Souvenirs mit den Symbolen der Zapatisten verkauft."

    Denn die Embleme der sozialromantischen Freiheitskämpfer sind überaus beliebt bei Touristen aus Europa und den USA. Also weiß man in Chamula auch der Guerilla Pragmatisches abzugewinnen. Ganz so, wie das Dorf auch seinen Johanneskult munter zusammenbastelte aus katholischen und schamanistischen Versatzstücken. Und schon wird Johannes dem Täufer das nächste Hühneropfer dargebracht.