"Musik ist wie ein Kampf, Musik ist der Träger der Liebe, und die Liebe ist eine Revolution, eine Befreiung. Deswegen haben die Fundamentalisten auch schon immer Tanz und Gesang verboten. Aber Musik zu verbieten, bedeutet den Menschen das Atmen zu nehmen."
Musik: "Lasso" - Camille
Sie singt, jauchzt, gurrt, murmelt oder lässt die Lippen vibrieren, schnippst mit den Fingern und benutzt ihren Körper als Trommelfläche: Camille. Sie gehört zu den berühmtesten Vokalkünstlerinnen Frankreichs. Gerade hat sie nach mehrjähriger Schaffenspause ihr siebtes Album herausgebracht: OUÏ: ein Plädoyer für das Leben.
"Ich glaube, dass ein Großteil der traditionellen Rhythmen das Potential der Befreiung innehat. Und die ist eine kollektive Angelegenheit, nicht die der Superhelden, der Sänger, so wie es heute verkauft wird. Es geht nicht um das Star-Sein, sondern um das Zusammen-Sein."
Musik: "Home is where it hurts" - Camille
Angefangen hat Camille Dalmais, wie sie mit vollständigem Namen heißt, als Sängerin der Band Nouvelle Vague. Aber schon 2002, mit 24 Jahren, beschloss sie ihr eigenes Ding zu machen und nahm ihre erste Solo-CD auf: "Le Sac des filles" - Die Tasche der Mädchen. Für ihr zweites Album "Le Fil" bekam sie bereits die Goldene Schallplatte. Danach ging es nur noch aufwärts mit ihrer Karriere, aber in ihrem Tempo.
Die Entwicklungen auf dem Musikmarkt, die Interessen der Plattenfirmen, damit hatte Camille genauso wenig zu tun, wie mit den musikalischen Genreschubladen, in die man sie stecken wollte. Musik ist das, was aus ihr herauskommt, aus ihr heraus muss. Aus diesem Grund kam eine Gesangsausbildung für sie nicht in Frage.
Sich von jemandem bewerten zu lassen, das sei nichts für sie, sagt die Französin. Bevor sie sich damals aber ganz für die Musik entschied, studierte die heute 39-Jährige Kunst und Politikwissenschaften.
"Ich bin dadurch "zum Menschen geworden", wie man bei uns sagt, ich habe studiert, um etwas über die Welt zu lernen, um den Geist zu formen, um später sagen zu können: ja, ich entspreche jetzt den elitären Kriterien, ich bin, wie man so sagt, "intelligent". Wenn man das einmal gemacht hat, dann ist man beruhigt und hat Lust andere Dinge zu entdecken: sich selbst, die "echte" Welt.
Musik: "Ta douleur" - Camille
Als ich das erste Mal Camille live sah, 2005 in Berlin, tanzte sie während des Konzerts barfuß über die Bühne. Mal hauchte sie die Melodie so zärtlich ins Mikrofon, dann wieder gab es in den Liedern Improvisationsteile, in welchen sie den Tönen freien Lauf gab und rhythmisierte hohe und spitze Klänge übergingen in sonore, Gospel-ähnlich groovende Beats.
Beim Spiel niemals den Faden verlieren
Der Bassist trommelte mit den Handflächen auf den Bauch seines Instruments, der Pianist schnalzte mit der Zunge, Camille benutzte ihren Brustkorb als Trommelfläche, ließ ihren Körper wie ein Tamburin erklingen. Le fil - der Faden – das zweite Album war damals gerade herausgekommen. Im Booklet heißt es dazu: "Das Ziel des Spiels ist es, den Faden niemals zu verlieren, ich habe Atem geholt und eine Note ausgesucht, die ich nun gespannt halte, wie ein Elastikband."
Ihre Musik auf dieser CD ist ein Spiel mit Tönen und Geräuschen, eine Sammlung von Alltagseindrücken, Geschichten und Gefühlen, die sie zu wunderbaren Klangbildern verwoben hat. Lieder über die verlorene Liebe, ein Mädchen, das am Hafen sehnsuchtsvoll den Schiffen nachblickt oder vom "bleichen September", dem 11. September 2001.
Musik: "Au Port" - Camille
He! kleines Mädchen du trinkst Wasser und du bist betrunken
Dort, wo du ertrinkst, wird es auch nichts nützen Füße zu haben,
Du wirst untergehen, im Hafen
He! kleine Verrückte! das ist nicht Brustschwimmen, das ist Kraulen
Für die Überfahrt hättest du Schultern gebraucht.
Aber mit ihm ist das anders, er ist auf dem Ozean zur Welt gekommen,
Er ist ein großer Kapitän, das Denkmal eines Geliebten,
Du hast dich darin verloren.
Dort, wo du ertrinkst, wird es auch nichts nützen Füße zu haben,
Du wirst untergehen, im Hafen
He! kleine Verrückte! das ist nicht Brustschwimmen, das ist Kraulen
Für die Überfahrt hättest du Schultern gebraucht.
Aber mit ihm ist das anders, er ist auf dem Ozean zur Welt gekommen,
Er ist ein großer Kapitän, das Denkmal eines Geliebten,
Du hast dich darin verloren.
"Auch wenn es auf dieser CD um total verschiedene Seelenzustände geht, so wollte ich doch auf dem Faden beharren, auf der Kraft, die alle diese Gefühle eint, die Energien im Leben - und im Gesang. Diese Note, die ich lang halte, die die Lieder verbindet, ist wie der Faden, der uns hält, egal, was kommt, der Faden, der uns am Leben hält, der unser Zentrum ist – so wie in der Mystik."
Nach dem Konzert 2005, Backstage beim Interview, dann das Bild einer ganz anderen Camille, als die auf der Bühne: sie sitzt konzentriert auf dem Sofa, die Brille auf der Nase und denkt über jede Frage eingegehend nach, bevor sie antwortet. Damals sagte sie über ihre Musik:
"Das ist mehr Alchemie als Küchenrezept"
"Es ist etwas Unbewusstes und gleichzeitig Bewusstes, was sich in meinem Kopf abspielt, ich lerne etwas, aber dann lasse ich die Sachen ganz natürlich wieder heraus - was entsteht, vermischt sich natürlich auch mit der Kultur der Musiker, mit denen ich arbeite – also das ist mehr Alchemie als Küchenrezept."
Absolute künstlerische Freiheit, die sich aus vielen Inspirationsquellen speist, das scheint schon damals ihr Lebensmotto zu sein. Was man auch sehr gut auf dem folgenden Album "Music Hole" von 2008 hören kann. Daraus: "Cats and Dogs", ein Stück, das an die Psychedelic-Songs der Brasilianer Ende der 60er erinnert, Caetano Veloso, Gal Costa oder Gilberto Gil zu Zeiten der Tropicalia.
Musik: "Cats and Dogs" - Camille
Brasilianische Rhythmen sind für Camille von Anfang an eine große Inspirationsquelle für ihre Lieder. In welcher Sprache sie singt, ist für Camille ebenso unwichtig wie die stilistische Einordnung ihrer Musik. Französisch, Englisch oder Fantasielaute – alles ein Ausdruck der Seele.
Freiheit ist Camille wichtig
Camilles Freiheitsliebe bezieht sich nicht nur auf die Musik. Für ihr aktuelles Album "OUI", hat sie sich sechs Jahre Zeit genommen und sich schließlich für die Produktion in eine Klosterresidenz zurückgezogen. Andere Sachen, sagt Camille, hätten Vorrang gehabt. Alles habe seine Zeit in ihrem Universum.
Der Song "Je ne mâche pas mes mots", "Ich zerkaue meine Worte nicht", ist eine Wort-Spielerei, denn es hört sich tatsächlich so an, als ob sie ihre Worte zerkauen würde.
Der Song "Je ne mâche pas mes mots", "Ich zerkaue meine Worte nicht", ist eine Wort-Spielerei, denn es hört sich tatsächlich so an, als ob sie ihre Worte zerkauen würde.
Musik: "Je ne mache pas mes mots" - Camille
"OUI" - "Ja", hat Camille ihr 7. Album genannt, das im Sommer 2017 auf den Markt gekommen ist: eine Hymne an das Leben. Denn in den sechs Jahren zwischen dem letzten Album und dem aktuellen ist viel passiert. Zwei Kinder hat Camille zur Welt gebracht – der Vater ist der Musiker und Arrangeur Clément Ducol, mit dem sie seit über zehn Jahren zusammenarbeitet. Ihr eigener Vater, zu dem sie eine sehr enge Bindung hatte, starb 2012. Mittlerweile sieht sie darin nicht nur einen Verlust.
"Gospel with no Lord" ist ein Schlüssel-Song
"Das sind große Geschenke, wenn man jemanden verliert. Ich glaube, dass der Tod nicht schmerzhaft ist, wenn er begleitet wird, also wenn Liebe da ist. Liebe, Amour das ist A – Mort, Absence de mort, die Abwesenheit des Todes.
Die Liebe ist stärker als der Tod. Als mein Vater gegangen ist, war ich noch relativ jung. Er hat mir ein Geschenk gemacht, denn er hat mich durch sein Fortgehen aufgeweckt, hat mich stärker werden lassen." In dem Lied "Gospel with no Lord" von 2008 hatte Camille noch zu ihrem Vater gesprochen und gesagt:
"Depêche toi, beeil dich, Papa, schaffe etwas, kreiere etwas, du hast so viel Talent, und ich möchte dass die Welt das sieht. Und vor seinem Tod hat er dann auch tatsächlich eine CD aufgenommen, wunderschöne Lieder. Ich wollte diesen Song "Gospel with no Lord" nochmal für ihn singen nachdem er gestorben war, aber es ging nicht, es war zu schmerzhaft".
"Gospel with no Lord" ist eine Art Zwiegespräch mit sich selbst und ein imaginärer Dialog mit ihrem Vater, ein lautes Nachdenken über die Herkunft ihres Gesangs, über die Inspiration, und ein deutliches Statement: ihre Familie, die Erziehung habe sie zwar beeinflusst, aber die musikalische Kraft komme letztendlich aus ihr selbst.
Musik:" Gospel with no Lord" - Camille
Musik:" Gospel with no Lord" - Camille
I didn´t got it from the Lord
But I know I got it, I know I got it
I got it from my brother,
I got it from my sister,
from my father, mother, from myself!
But I know I got it, I know I got it
I got it from my brother,
I got it from my sister,
from my father, mother, from myself!
"Auf der neuen CD ‚OUI‘ habe ich auch einen Song für meinen Vater geschrieben ‚Fille à papa‘, und da sage ich: Ja, du hast das gelebt, was du leben musstest. Ich fahre jetzt mit meinem Leben fort. - Je veille sur les flammes papa, j´ai grandit, je suis devenue femme - Ich wache über die Flammen, Papa, ich bin reifer geworden, eine Frau."
Musik: "Fille a Papa" - Camille
Camille spielt wie auf allen ihren CDs auch auf "OUI" mit den Worten und Lauten. "Ich dehne die französischen Worte so, dass sie sich geradezu flüssig anfühlen", erklärt sie. Sie singt u.a. über die Ressourcenvernichtung, über die Zerstörung des Bodens durch die Monokulturen. Musikalisch ließ sie sich für "OUI" vor allem von traditionellen Rhythmen aus Westeuropa, Osteuropa, aus Afrika und Lateinamerika inspirieren. Einige der neuen Songs erinnern an Choräle, in denen die Töne erhaben durch den Raum schweben.
"Ich denke, dass die Musik ein Kampf ist, die Musik ist der Träger der Liebe und die Liebe ist eine Revolution, eine Befreiung. Deswegen haben die Fundamentalisten schon immer Tanz und Gesang verboten, und sie tun es immer noch, angefangen beim Katholizismus im Mittelalter. Aber Musik zu verbieten bedeutet, den Menschen das Atmen zu nehmen, das Leben in ihrem Körper zu verbieten.
Musik als kollektive Praxis wiederentdecken
Ich glaube, dass ein Großteil dieser traditionellen Rhythmen das Potential der Befreiung hat. Und die ist eine kollektive Angelegenheit, nicht die der Superhelden, der Sänger, so wie es heute verkauft wird. Heute finde ich es besonders wichtig, die Bedeutung der Musik als kollektive Praxis wiederzuentdecken."
Musik: "Twix" - Camille
Musik als kollektives Erlebnis, das versteht Camille sehr konkret. Auf Instagram postet sie alle ihre Klangaufnahmen mit Journalisten, Kollegen und Gästen, kurze Lieder oder Improvisationen. Nach dem Interview im Juli 2017 fragt sie mich auch ganz spontan nach einer gemeinsamen Gesangsimprovisation. Warum nicht?
Musik: "Sous le sable" - Camille
Das Spiel mit ihrem eigenen Körper als Human Beat Box, der Mensch als Klangresonanzkörper, steht bei dieser CD weniger im Vordergrund. Den Beat gibt vor allem der Perkussion-Spieler. Mal ist die Perkussion fordernd, fast treibend, dann wieder wie in einem Trance-Akt, so wie bei den Candomblé-Ritualen in Brasilien, die dazu dienen mit der jeweiligen Gottheit - den orichas - in Kontakt zu treten.
Kathartische Wirkung von Liveauftritten
Mit dieser CD wolle sie auf alles Kraftvolle und Kraftgebende im Leben hinweisen, erklärt Camille. Auch wenn es "nur" eine Studio-Aufnahme sei. Denn ein Teil der Katharsis, welche sie mit und durch ihre Lieder empfinde, passiere durch die Live-Präsentation auf der Bühne.
"Das hat eine unglaubliche Kraft auf der Bühne, durch die Präsenz des Publikums. Im Studio bin ich natürlich in meiner eigenen kleinen Welt, aber auch da habe ich diese kraftvollen Zutaten für meine Musik, wie zum Beispiel das Tamburin, das Herz, den Rhythmus, die Melodie und den ganzen Reichtum der traditionellen Rhythmen, die dich in Trance versetzen. Das alles sind für mich Möglichkeiten der persönlichen Befreiung, die ich jetzt wiederentdecken will."
Musik: "Fontaine de Lait" - Camille
Und nun mache ich eine Quelle aus ihm
Und ich bin eine Quelle aus Milch
Und ich bin eine Quelle aus Milch
Das Leben auf einen simplen Nenner zu reduzieren, das langweilt Camille. Sie erforscht sich selbst, ihren Körper, seine Klänge, seine Rhythmik, sein musikalisches Potential. Sie beschäftigt sich aber auch mit dem, was unsere menschliche Existenz ausmacht. "Wir können nicht leugnen, dass wir einerseits Tiere sind", sagt sie, "die durch ihre Ängste bestimmt werden".
"Um aber tatsächlich Mensch zu werden, und uns über unsere Ängste hinwegsetzen, brauchen wir etwas Kraftvolles. Die einfachen Dinge im Leben, das ist zum Beispiel das Fernsehen, Rassismus, sich in seinen Kokon zurückzuziehen, das sind die einfachen Lösungen. Die kraftvollen Lösungen, um Mensch zu werden, das ist zum Beispiel das Erschaffen neuer Rituale. Ich meine hier nicht religiöse, sondern eher kreative. Rituale sind für mich Musik, Tanz, Reflektion, die Literatur, die Diskussion."
Musik: "Seeds"- Camille