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Hundert Zeilen Hass gegen die Rechtschreibreform

Es gibt keine Rechtschreibung mehr, es gibt nur noch Varianten. Die Kinder schreiben anders als die Eltern, die Lehrer wissen nicht, was richtig und was falsch ist, jede Zeitung hat ihr eigenes Regelwerk entworfen, und in der Literatur herrscht ein grelles Durcheinander von verschiedenen Schreibweisen. Innerhalb von fünf Jahren hat sich die deutsche Orthographie privatisiert, und im Zuge dieser Privatisierung ist die öffentliche Debatte darüber erstorben. Jetzt ist man allgemein des Themas müde; wer es trotzdem noch aufgreift, zeigt Züge von Verschrobenheit.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Es ist dieser Stich ins Bedenkliche und Verrannte, weswegen die Rechtschreibreformgegner von vornherein auf verlorenem Posten standen. Ihr philologischer Eifer wirkte komisch. Die Verbissenheit, mit der sie um das Schriftbild von Wörtern stritten und darauf beharrten, dies sei der Kern der Kultur, erschien beinahe erschreckend. Und noch etwas verhinderte, dass die Protestbewegung zum Erfolg gelangte, nämlich eben jene galoppierende Regellosigkeit, die aus der Reform resultierte. Denn Regellosigkeit birgt ein Moment von Freiheit, wogegen man sich als Kulturmensch ungern wendet.

    In dem Augenblick aber, da die Kluft zwischen einem widersinnigen Regelwerk und der haltlos gewordenen Schreibwirklichkeit als eine Form von Toleranz begriffen wird, haben es die Verfechter des alten, klaren Dudenzwangs natürlich schwer – wie gut auch immer ihre Argumente sein mögen. Die Toleranz auf Seiten der Reformer geht inzwischen sogar so weit, dass sie die schrittweise Rücknahme ihres verqueren Systems mit heiterem Achselzucken quittieren. Zum Beispiel dürfen feststehende Ausdrücke wie "Schwarzes Brett" oder "Rote Karte" mittlerweile wieder groß, "gewinnbringend" und "besorgniserregend" hingegen klein und zusammen geschrieben werden.

    Das heitere Achselzucken freilich gehört zu den wesentlichen staatsbürgerlichen Lehren, die der Prozess der amtlichen Durchsetzung bereithielt: Die Schriftsteller sind gegen die Reform? – Tut nichts, für sie ist sie auch nicht gemacht, sondern für Anfänger und Wenigschreiber. Die Bevölkerung eines ganzen Bundeslandes hat sich per Referendum gegen die Reform gestellt? – Egal, die Abgeordneten zogen sie alleine durch. Die Umstellung der Schulbücher kostete nach Angaben der Verlage rund 150 Millionen Euro: auch hier heiteres Achselzucken derer, die den Schulen gleichzeitig die Lehrmitteletats zusammenstreichen.

    Selten hat sich die Ministerialbürokratie so kaltschnäuzig über die Bedenken der Betroffenen hinweggesetzt wie bei der so genannten Rechtschreibreform, einem durch und durch totalitären Unterfangen, das für die wenigen, die wirklich an der Sprache hängen, einfach eine demütigende Verhunzung darstellt. Und diese werden immer weniger. Es gibt keine Statistiken, wohl aber Erfahrungen, die zeigen, dass selbst unter Autoren, Redakteuren und Verlagsleuten kaum noch über Wörter gestritten und von Wörtern geschwärmt wird. Statt dessen demonstriert die Sprache der E-Mails jeden Tag, dass Orthographie und Grammatik offenbar entbehrliche Attribute einer vergangenen Zeit waren.

    Im weltgeschichtlichen Maßstab, angesichts von Terror, Krieg und Staatsbankrott mögen Rechtschreibregeln von untergeordneter Bedeutung sein. 'Haben wir denn sonst keine Sorgen, als uns über die Abschaffung des Buchstabens "ß" aufzuregen?’ lautet das perfide Argument derer, die den Buchstaben "ß" abschaffen. Wahrhaftig, wir haben andere Sorgen. Aber der Sprachzerfall ist eben eine Sorge mehr.

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