Donnerstag, 28. März 2024

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Hundertjährige
Religiosität als Jungbrunnen

Viele Hundertjährige glauben, sie seien nur wegen ihrer Religion und ihrer Familien so alt geworden. "Drei Viertel der von uns Porträtierten sind religiös", sagte der Autor Klaus Brinkbäumer im Dlf. Mit Samiha Shafy hat er ein Buch vorgelegt, in dem es um die Frage geht: Wie werden wir 100?

Klaus Brinkbäumer im Gespräch mit Andreas Main | 05.09.2019
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer haben sich auf die Suche nach dem Geheimnis der Langlebigkeit gemacht (Verlag S. Fischer / Tobias Everke)
Samiha Shafy ist Redakteurin beim Nachrichten-Magazin "Der Spiegel". Klaus Brinkbäumer war dort Chefredakteur. Bis zum Herbst 2018. Jetzt schreibt er für die "Zeit". Die beiden sind ein Paar. Zusammen haben sie Ende August 2019 ein Buch vorgelegt, an dem sie über viele Jahre gemeinsam gearbeitet haben. Es ist eine Weltreise, wie der Untertitel andeutet. Eine Weltreise, die den ganz großen Fragen nachgeht: Wie ist erfülltes Leben möglich? Wie ist es möglich, dass jemand sehr alt wird - oder sogar sehr, sehr alt - und dabei womöglich zufrieden. Das Buch hat den Titel "Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben. Die Weisheit der Hundertjährigen. Eine Weltreise".

"Leute, nutzt eure Zeit!"
Andreas Main: Herr Brinkbäumer, über viele Jahre hinweg haben Sie immer wieder Menschen besucht, die 100 oder 102 oder 107 Jahre alt sind. Im Kontakt mit diesen extrem alten, vielleicht auch weisen Menschen - sind Sie selbst ein bisschen weiser geworden?
Klaus Brinkbäumer: Ich hoffe doch sehr. Wenn man solche Gespräche führt und solche Reisen macht und dann am Ende nicht klüger nach Hause kommt, dann macht man etwas falsch. Ich habe so viele kleine Dinge gelernt. Ich glaube auch, dass ich, wenn ich über mein eigenes Leben nachdenke, einige große Dinge gelernt und verstanden habe. Und dann gibt es ja auch Dinge, die man weiß: Also, dass Zeit schnell vergeht beispielsweise, ist nun wirklich eine Binse. Und jeder erwachsene Mensch hat das, glaube ich, schon einmal behauptet.
Wenn man aber den Hundertjährigen gegenübersitzt, die endlos Zeit hatten, so scheint es ja zunächst einmal, und wenn die dann sagen: "Leute, passt wirklich auf, nutzt eure Zeit, macht die Dinge, die ihr machen wollt, jetzt! Die Zeit fliegt davon und in den letzten drei, vier Jahrzehnten noch einmal schneller, als ihr es vorher schon gewohnt wart. Lebt heute!"
Wenn das ein 107-Jähriger sagt oder ein 102-Jähriger in China, in Peking, dann hört man schon hin und denkt: Was ist mir eigentlich wirklich wichtig im Leben? Worum geht es mir wirklich?
Main: Was haben Sie heute Morgen gefrühstückt?
Brinkbäumer: Was ich heute Morgen gefrühstückt habe? Einen Joghurt mit Banane und Birne und ein weichgekochtes Ei.
Main: Also, Sie wollen auch 100 werden?
Brinkbäumer: Ich würde gerne 100 werden, wenn ich denn zwei Bedingungen an das Leben formulieren dürfte. Die eine wäre – und ich glaube, da unterscheide ich mich auch nicht von vielen Ihrer Zuhörer und Zuhörerinnen –, dass ich natürlich selbstbestimmt 100 werden wollte. Und ich möchte geistig zurechnungsfähig bleiben. Wenn ich beides nicht mehr wäre, dann würde ich lieber vorher von dieser Welt verschwinden.
"Viele der Hundertjährigen sind sehr gläubig"
Main: Was wir eingangs klarmachen müssen: Ihnen geht es mehr ums Leben als um das, was danach kommt. Davon zeugt ja auch der Titel Ihres Buchs. Also, das ist kein Buch über die Religiosität Hundertjähriger. Darauf werden wir uns jetzt aber dennoch konzentrieren, im ersten Teil unseres Gesprächs. Wer wissen will, was es zu tun gilt, um 100 zu werden, der kann Ihr Buch lesen oder morgen nochmals anschalten zum zweiten Teil. An Sie jetzt die Frage: Wie oft bei Ihren vielen Begegnungen mit Hundertjährigen kam das Gespräch auf Religionsfragen?
Brinkbäumer: Immer! Weil wir danach gefragt haben. Und aus Sicht der Hundertjährigen, ich würde sagen, bei 70-80 Prozent der Gespräche dann mit Antworten wie: "Gott hat es so gewollt, dass ich so alt werde. Ich danke Gott dafür." Also, die Religiosität war ständiges Thema. Religion war ständiges Thema und viele der 100-Jahre-Alten sind oder waren sehr gläubig.
"Glaubt an Gott und geht jeden Sonntag in die Kirche!"
Main: In Sardinien sagt Ihnen, in einem Dorf mit einer extrem hohen Hundertjährigen-Dichte, eine Frau wörtlich: "Wenn ihr 100 werden wollt, dann glaubt an Gott, geht jeden Sonntag in die Kirche." Also, ich habe schon den Eindruck, dass bei vielen der von Ihnen Porträtierten eine Gesamtzufriedenheit einhergeht mit einer religiösen Grundhaltung. Oder täusche ich mich?
Brinkbäumer: Nein, Sie täuschen sich überhaupt nicht, Herr Main. Die Dame Claudina Melis hat auch ganz wunderbare andere Ratschläge gegeben. Also: "Kämpf nicht mit deinem Ehemann", hat sie uns gesagt und: "Versucht, die Fehler und Schwächen der Männer zu verstehen. Man kann ja damit fertigwerden." Eine hinreißend humorvolle alte Dame. Und dann kam sie aber zu dem Punkt, der ihr wirklich wichtig war.
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer zu Besuch bei Claudina Melis auf Sardinien
Auf Sardinien lebt die älteste Familie der Welt (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Sie machte eine Kunstpause und sie sagte: "Und, wenn ich jetzt wirklich ganz und gar die Wahrheit sagen soll: Das hier ist das Geheimnis, wenn ihr 100 werden wollt: Glaubt an Gott und geht jeden Sonntag in die Kirche!" Sie ist tief religiös. Sie lebt in Perdasdefogu. Das ist ein Zweitausendseelendorf in den Bergen Sardiniens. Die Menschen dort sind religiös. Die Familie Melis steht im Guinness-Buch der Rekorde als älteste Familie der Welt, weil wirklich viele, viele Geschwister jenseits der 90 sind. Sie glaubt an Gott und sagt, dass sie deswegen 100 geworden sei. Das ist ein tief verankerter Glaube bei denen.
"Es war meistens der christliche Gott"
Main: Ähnlich auf den Seychellen. Sie habe immer viel gearbeitet, antwortet Elisabeth Samson. Und sie habe Gott um ein langes Leben gebeten und dann – Zitat: "Einzig von Gottes Gnade hängt es ab, wie lange man lebt. Das muss man akzeptieren." Also, Akzeptanz - vielleicht auch jenseits von Religiosität - als ein Schlüsselwort?
Brinkbäumer: Bei den Alten, die glauben, allemal, ja. Die geben ihr Schicksal in die Hand des Gottes, an den sie glauben, und das war meistens der christliche Gott. Wir haben mit hundertjährigen Juden gesprochen, bei denen Religiosität nicht so ein großes Thema war. Ich sage jetzt natürlich nicht, dass das irgendwie repräsentativ sei. Wenn man drei, vier Gespräche mit Hundertjährigen führt, kann man nun wirklich nicht sagen, dass das ein statistischer Beleg sei. Wir haben aber keine religiösen jüdischen Gesprächspartner gehabt. Bei den Christen auf Sardinien oder Seychellen – sagten Sie schon – in Afrika, anderswo, war Religion – aber das hatten wir gerade schon – wirklich, wirklich tief verankert.
Elisabeth Samson
Elisabeth Samson sieht ihr Alter als Gnade Gottes (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Main: Wobei, eine Buddhistin in Thailand …
Brinkbäumer: Ja, eine wunderbare Dame, ja.
Main: Die ist auch sehr religiös.
Brinkbäumer: 111 Jahre alt, die ein wunderbares Bild für eine funktionierende Ehe in das Gespräch einbrachte, das Samiha und ich wirklich geliebt haben. "Der Mann hat die vorderen Beine des Elefanten zu sein." Damit meint sie natürlich: Tempo vorgeben, Richtung vorgeben. Und: "Die Frau ist die hinteren Beine des Elefanten." Die Frau sorgt also dafür, dass der Elefant nicht stolpert.
"Funktionierende Beziehungen sind ganz wichtig"
Main: Ja, Familie und Ehe haben ja womöglich auch eine Funktion wie der Glaube für einige, also im Sinne von Geborgenheit.
Brinkbäumer: Ja, natürlich. Da kommen wir jetzt ein bisschen weg von der Religion. Familie und funktionierende Beziehungen sind ganz wichtig, weil ein ganz wesentliches Element, wenn man 100 werden möchte - und zufrieden 100 werden möchte -, ist Zusammenhalt. Und das kann übrigens natürlich auch der Glaube sein – Halt meine ich jetzt. Zusammenhalt aber mit anderen Menschen, mit der Familie, mit dem Partner, mit den Kindern. Einsamkeit tötet. Das haben uns alte Menschen gesagt. Das haben uns vor allem aber auch die Wissenschaftler gesagt, mit denen wir gesprochen haben.
"Dankbarkeit schadet gewiss nicht."
Main: Eine Person sagt – ich weiß gar nicht mehr, ob Andrine Reddy ein Mann oder eine Frau ist.
Brinkbäumer: Eine Frau.
Main: Eine Frau. Sie jedenfalls ist schlicht und ergreifend dankbar und sagt: "Dankt Gott. Wenn ich heute ein Stück Brot bekomme, sage ich danke." Und jetzt kommt der entscheidende Satz: "Und, wenn ich heute kein Stück Brot bekomme, sage ich auch danke." Also, Dankbarkeit scheint auch nicht zu schaden, wenn man 100 werden will?
Brinkbäumer: Dankbarkeit schadet gewiss nicht. Und die Damen – also, wir haben mit insgesamt drei auf den Seychellen gesprochen, auf Mahé, der Hauptinsel dort – haben eine tiefe Religiosität, verbunden mit einem ganz, ganz scharfen Spott gegen Männer, was ich eine höchst interessante Kombination fand.
Ja, weil sie nach gescheiterten Ehen oder nach dem frühen Tod von Ehemännern, die sich schlicht zu Tode getrunken hatten, gesagt haben: "Wir brauchen keine Männer. Wofür sind Männer gut? Ich kann wirklich auch so leben und meine Kinder auch ohne Männer durchbringen." Aber der Glaube war tief verankert – nicht der Glaube an die Ehe.
"75 Prozent waren religiös"
Main: Was schätzen Sie, wie viele Ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner waren dezidiert nicht religiös und trotzdem 100?
Brinkbäumer: Wir haben ungefähr 50 Hundertjährige gesprochen. Es haben nicht alle es dann ins Buch geschafft, weil einige Geschichten sich dann wiederholt haben oder zu ähnlich waren. Und natürlich, wenn man mit Hundertjährigen redet, führen dann manche Gespräche auch nicht wirklich weit. Also, manche Hundertjährige sind natürlich dann schlicht krank oder können keine langen Interviews mehr durchhalten. Aber jetzt mal, um zum Punkt zu kommen und die Antwort. Ich kann es nur schätzen.
Ich würde sagen, 25 Prozent waren nicht religiös, 75 Prozent waren religiös. Überhaupt nicht religiös war einer unserer Helden – Roger Angell, der aber auch in New York, in Manhattan groß geworden ist.
Roger Angell bindet einen Seemannsknoten
Roger Angell, fast 100, möchte noch einen neuen Präsidenten erleben (Samiha Shafy & Klaus Brinkbäumer)
Main: Den Sie auch immer wieder treffen und mit dem Sie befreundet sind?
Brinkbäumer: Ja, mit dem wir inzwischen befreundet sind, weil er so tiefsinnig, auch scharfsinnig, auch zynisch teilweise, höchst humorvoll und vollkommen tabulos über das Altwerden redet. Roger redet über Sex im Alter und die Frage, wie man sich …
Main: Er ist gnadenlos, ja.
Brinkbäumer: Ja, ja. Wie man sich neu verlieben kann. Wenn eine 48 Jahre anhaltende Ehe durch den Tod der Ehefrau endet, wie geht das Leben dann weiter? Das haben viele der anderen Hundertjährigen nicht thematisieren wollen. Das ist natürlich auch heikel und enorm privat. Er redet über all diese Dinge; und deswegen waren wir immer wieder bei ihm. Über Gott allerdings hat er kein einziges Mal geredet. Also, er ist zutiefst weltlich, säkular. Er ist ein Autor des New Yorker. Er hat über Baseball und Politik geschrieben. Er hasst Donald Trump. Er ist noch nicht ganz 100. Er ist jetzt 98 und würde nächstes Jahr, wenn er es schafft – und ich hoffe sehr, dass er es schafft – knapp vor der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten 100 werden. Er spricht von zwei Meilensteinen, also seinem 100. Geburtstag und einem neuen Präsidenten der USA.
Die Persönlichkeit verändert sich bis ins hohe Alter
Main: Ja, und es ist ja vielleicht auch bezeichnend, dass dieser Mann Humor hat und optimistisch ist, dass das vielleicht auch die zentralen Faktoren sind. Also, auch Nicht-Religiöse können sehr alt werden, aber Optimismus hat womöglich die lebensverlängernde Wirkung.
Brinkbäumer: Optimismus braucht es, glaube ich, unbedingt. Wobei man sich fragen muss, wenn man … also, ich habe mich nach der Recherche jedenfalls gefragt: Waren eigentlich die Hundertjährigen, mit denen wir gesprochen haben, immer optimistisch oder sind sie es erst geworden? Das ist eine hochinteressante Frage, weil Psychologen und andere Wissenschaftler, die sich mit Langlebigkeit beschäftigen, sagen, dass sich die Persönlichkeit des Menschen bis ins höchste Alter verändere, dass also Menschen, die mit 100 ganz weise, humorvoll, milde, zufrieden, optimistisch auf das Leben und sogar die Zukunft blicken, möglicherweise mit 80 oder 70 ganz zynische und humorfreie ältere Herrschaften gewesen sein können. Man weiß es nicht. Die Persönlichkeit verändert sich. Und trotzdem: Optimismus hilft definitiv, weil er natürlich Kraft gibt, weil er uns morgens aufstehen lässt, und das Aufstehen, für die Hundertjährigen jedenfalls, ist nicht immer einfach – körperlich gesehen jetzt.
"Das Leben wird zu einer Geschichte"
Main: Auf jeden Fall. Mit 100 sollte man sozusagen mit sich und der Welt im Einklang sein. Den Eindruck hatten Sie schon, dass das bei den meisten der Fall ist?
Brinkbäumer: Unbedingt. Die Hundertjährigen hatten – ich würde sagen – ausnahmslos einen, ja, gelassenen Blick auf das Leben. Sie waren zufrieden mit dem Leben. Das hat auch etwas damit zu tun, dass sie den 100. Geburtstag erreicht haben oder kurz davor waren. Manche unserer Gesprächspartner waren 98 oder 99 und auf dem Weg zu 100. Das Leben rundet sich dann. Es wird zu einer Erzählung. Es wird zu einer Geschichte. Man hat wirklich viele Dinge erreicht. Man hat etwas geschafft, schon dadurch, dass man 100 geworden ist. Und, wenn die Menschen aber 100 werden, dann haben wie natürlich automatisch sehr vieles richtig gemacht. Wir müssen aber unbedingt noch kurz über Schwester Klara reden.
Main: Schwester Klara. In der Schweiz?
Brinkbäumer: Nein, Schwester Klara in Ludwigsburg, in Deutschland, in einem Karmeliterorden. Was ich hochinteressant fand, das war mir nie klargeworden vorher, dass eine Frau vor nahezu 100 Jahren den Orden gewählt hat, um sich zu befreien. Damals war das für Klara Friedmann, wie sie ursprünglich hieß, ein Schritt der Emanzipation, ein Schritt in die eigene Freiheit, weil die Weltordnung natürlich geprägt war von Vorschriften. Und dann musste man heiraten. Und dann hatte man eine bestimmte Rolle in der Ehe. Der Glaube war das genaue Gegenteil - oder der Eintritt ins Kloster jedenfalls - war das genaue Gegenteil.
Samiha Shafy und Klaus Brinkbäumer: "Das kluge, lustige, gesunde, ungebremste, glückliche, sehr lange Leben - Die Weisheit der Hundertjährigen. Eine Weltreise"
S. Fischer 2019, 448 Seiten, Hardcover, 22 Euro
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.