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Hunger nach Kultur

So etwas wie ein Haus für moderne Kunst gab es in Mailand bisher nicht: Zwar besitzt die Stadt eine eigene Sammlung dafür, aber die war bis jetzt gleichsam versteckt und auf diverse Standorte verteilt. Doch nun gönnt sich Mailand eine neue Attraktion: das Museum des 20. Jahrhunderts im Palazzo.

Von Henning Klüver | 05.01.2011
    Wenn man in Mailand von der Galleria kommend auf die Piazza del Duomo tritt, kann man gegenüber im Palazzo dell'Arengario hinter den Glasfenstern des obersten Stockwerkes eine große Lichtinstallation von Lucio Fontana leuchten sehen. In dem Palazzo, einem rationalistischen Bau von 1937, hat die Stadt das Museo del 900, das Museum des 20. Jahrhunderts, eingerichtet. Und die Menschen stehen Schlange. Seit der Eröffnung Anfang Dezember haben mehr als 100.000 Personen das neue Museum besucht. In Mailand, in Italien, herrscht Hunger nach Kultur. Das bestätigt auch der zuständige Stadtrat Massimiliano Finazzer Flory:

    "Wir wollen uns dabei das 20. Jahrhundert nutzbar machen, das nicht nur ein Jahrhundert des Schreckens war. Sondern es hat auch Fortschritt, Wissenschaft und Moderne gebracht und den Menschen mit allen seinen Widersprüchen in den Mittelpunkt gestellt. Vor allem hat es uns eine Kunst geschenkt, die für den Menschen, der Frieden und Fortschritt sucht, eine wichtige Quelle der Orientierung sein kann."

    Von den rund 4000 Exponaten der städtischen Sammlungen, die lange Zeit auf verschiedenen Standorten verstreut und gleichsam versteckt waren, sind jetzt rund 400 in einer festen Ausstellung zu sehen. Sie beginnt mit dem großformatigen Bild "Der vierte Stand" von Giuseppe Pellizza da Volpedo aus dem Jahr 1902, in dem sich die solidarische Kraft der unteren Gesellschaftsschichten ausdrückt. Und sie reicht bis zu den Anfängen der Arte povera. Herzstück der Ausstellung sind aber sicher die Werke von Umberto Boccioni und den Futuristen. Dazu Marina Pugliese, die Direktorin des Museo del 900.

    "Unser Nukleus mit den Arbeiten von Umberto Boccioni ist sicherlich der wichtigste auf der Welt. Und die Sammlung mit Werken des Futurismus gehört ebenfalls zu den bedeutendsten überhaupt, wobei wir nicht einmal alles ausgestellt haben. Denn wir wollen in der festen Ausstellung keine Anthologie unseres Bestandes oder der Kunstgeschichte allgemein zeigen. Das Museum heute ist ein Ort, der die Schönheit von Kunst rühmen soll, und der zugleich verschiedene Geschichte erzählt, die Geschichte der italienischen Kunst und die der Mailänder Sammlungen im 20. Jahrhundert."

    Es sind besonders die ehemaligen Privatsammlungen, welche einige Bürgerfamilien der Stadt überlassen haben, die den überwältigenden Reichtum dieses Museums ausmachen. Auf die Futuristen folgen Räume für unter anderen Mario Sironi, Giorgio de Chirico, Giorgio Morandi, Alberto Burri oder Marino Marini. Das lichtdurchflutete Obergeschoss des Gebäudeturms ist den Arbeiten von Lucio Fontana wie seiner berühmten Neon-Installation von 1951 oder einer ehemaligen Decke für das Hotel des Golfo di Procchio auf Elba vorbehalten. Der Umbau des Palazzo dell'Arengario hat allerdings auch wegen der strengen Auflagen des Denkmalschutzes nicht immer überzeugende Raumlösungen gefunden. Manche Ambiente wirken zu eng und geben den Werken kaum Luft, sich zu entfalten. Überzeugen können dagegen die vielen neuen Ausblicke auf die Piazza, den Dom und den klassizistischen Palazzo Reale, das benachbarte Ausstellungszentrum der Stadt. Marina Pugliese:

    "Im Allgemeinen verstecken Museen ihre Arbeiten nach außen, um sie im Inneren zu zeigen. Dieses Prinzip wollten wir mit einer Architektur aufbrechen, die sich offen gegenüber der Stadt zeigt. Mit unterschiedlichen Aussichtspunkten auf die Stadt, aber auch mit möglichst vielen Einblicken, die es möglich machen, Kunstwerke ebenfalls von außen zu sehen."

    Das Museo del 900, sein Archiv und seine große Bibliothek bilden den neuen Mittelpunkt eines Netzes von kulturellen Einrichtungen zur Kunst des 20. Jahrhunderts in Mailand, zu denen unter anderen die Villa Necchi Campiglio, die Museumswohnung Boschi Di Stefano oder die Sammlung Jesi innerhalb der Pinacoteca Brera gehören. Was Mailand noch fehlt, ist ein Museum für die Gegenwartskunst. Das soll jetzt bis zum Jahr 2013 auf dem ehemaligen Gelände der Stadtmesse nach Plänen von Daniel Liebeskind entstehen.