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Ian Buruma/Avishai Margalit: "Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde“

Seit dem 11. September haben die Interpreten der Weltlage den Frontverlauf im "Krieg der Kulturen" auf den einfachen Slogan vom Kampf des "islamischen Terrorismus" gegen die "westliche Zivilisation" gebracht. Solch manichäische Weltbilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Konstellationen, die sie zu beschreiben vorgeben, eher verhüllen. Wo ist in diesem Dualismus der Platz jener Foltersoldaten, die im Irak recht eigenwillige Vorstellungen von Zivilisation praktizierten, und wo lässt sich die Weltmacht einordnen, die Gefangene bei befreundeten Diktaturen parkt, um sie dort foltern zu lassen? Es ist offensichtlich, dass solche Verstöße gegen alle Regeln der Zivilisation den Hass auf den Westen befördern und den Fundamentalisten im Nahen und Mittleren Osten Agitationsmaterial liefern, mit dem sich neue Gotteskrieger formen lassen. Auch jenseits solch aktueller Konstellationen lässt sich zeigen, dass der "islamische Terrorismus" auch von ideologischen Versatzstücken gespeist wird, die ihre Wurzeln in der "westlichen Zivilisation" haben. Das jedenfalls versuchen der am Londoner Bard College lehrende Asien-Experte Ian Buruma und der israelische Philosoph Avishai Margalit nachzuweisen. "Okzidentalismus - Der Westen in den Augen seiner Feinde" ist deren bei Hanser erschienene Studie überschrieben, die Ihnen jetzt Klaus Kreimeier vorstellt.

Von Klaus Kreimeier | 21.03.2005
    "Kein Okzidentalist, nicht einmal der fanatischste heilige Krieger, kann sich jemals vollständig vom Okzident befreien." So formulieren Ian Buruma und Avishai Margalit gegen Ende ihres Buches eine ihrer Kernthesen. Spätestens hier, auf Seite 145 des schmalen Bandes, hat der Leser die ungewöhnliche, für den gängigen Sprachgebrauch nicht gerade praktische Terminologie der Autoren verinnerlicht: Ein "Okzidentalist" ist nicht etwa ein Anhänger des Westens und westlicher Ideen, sondern ihr schlimmster Feind. Buruma und Margalit wollen die Ursachen, aber auch die zahlreichen historischen und aktuellen Spuren okzidentalistischen, also anti-westlichen Denkens dingfest machen und durchstreifen zu diesem Zweck in einem gelegentlich etwas waghalsigen Zickzack-Kurs die unterschiedlichsten Kulturen der seit dem Kolonialismus durcheinander geratenen Welt.

    Buruma und Margalit bewegen sich also auf jenem verminten Feld, das Samuel Huntington mit seiner These vom "Kampf der Kulturen" lautstark und etwas marktschreierisch zum globalen Schlachtfeld der Gegenwart und der nahen Zukunft ausgerufen hat. Sie gehen jedoch, trotz fehlender Systematik, behutsamer und weniger manichäistisch vor: Das manichäische Denken, das die Welt in Gut und Böse einteilt, ist ihnen ja gerade ein Dorn im Auge, weil ein Kernelement der anti-westlichen Affektstruktur. Solche Vereinfachungen sehen die Autoren auch in westlichen Gegenbildern des Okzidentalismus am Werk: etwa in der Neigung heutiger westlicher Kriegsherren, ihre Feldzüge gegen eine imaginierte "Achse des Bösen" mit christlich-fundamentalistischer Rhetorik zu legitimieren. Solcher "Orientalismus", wie ihn Buruma und Margalit konsequenterweise nennen, sei genau so reduktionistisch wie der Okzidentalismus der Taliban oder der Roten Khmer.

    Der Okzidentalismus, so erfahren wir aus diesem Buch, nährt Feindbilder, die sich seit dem 19. Jahrhundert bis heute im Wesentlichen unverändert im Repertoire der anti-westlichen, aber auch antikapitalistischen Agitation gehalten haben. Es ist die vom Soziologen Max Weber beschriebene "Entzauberung der Welt", an der große Teile der nicht-westlichen Welt leiden. Die unaufhaltsame Modernisierung hat diejenigen, die nicht von ihr profitiert haben, in Armut gestoßen und einem Weltbild feindseliger, quasi-magischer Zwangsvorstellungen überlassen.

    Einleitend konstruieren die Autoren eine historische Linie, die mit der Gegenreformation und der Gegenaufklärung in Europa beginnt und über Faschismus und Nationalsozialismus bis zum Antikapitalismus der Gegenwart, bis zu den Globalisierungsgegnern und zum religiösen Extremismus terroristischer Gruppen führt. Das sieht nach gezielter Provokation und einem bedenkenlos zusammen gerührten Eintopf aus, in den nur eine gewissenhafte historisch-kritische Untersuchung Klarheit bringen könnte. Gerade diese akribische Methode wollen Buruma und Margalit jedoch nicht verfolgen: Es geht ihnen, so wörtlich, um "spezifische Strömungen des Okzidentalismus, die sich bei diesem Phänomen immer und überall finden lassen".

    Als Ergebnis ist ein Essay entstanden, der sich der Motivforschung widmet, dabei Bekanntes und weniger Bekanntes durcheinander schüttelt und gelegentlich wie ein ausgekippter Zettelkasten wirkt. Auch die möglicherweise beabsichtigte und vom Verlag annoncierte Provokation bleibt letztlich aus. Buruma und Margalit sind zu klug, um alle scheinbar ähnlichen Affekte und Antriebskräfte der Okzidentalisten über einen Kamm zu scheren. Der Charme des Büchleins besteht vielmehr darin, dass es sehr überzeugend darlegt, wie sehr der Westen selbst schon immer in die Produktion anti-westlicher Geisteshaltungen involviert war und bis heute ist – und dass europäisches Denken stets auch an seiner Dekonstruktion, wo nicht gar an seiner Selbstabschaffung gearbeitet hat. Hier hätte sich die Chance geboten, gegen alle okzidentalistischen Anfeindungen die herausragende und wirklich singuläre Tugend der westlich-kapitalistisch-demokratischen Kultur herauszuarbeiten: ihre Fähigkeit, sich immer wieder selbst in Frage zu stellen, ihre Alternativen zu reflektieren und die Dialektik ihrer Entwicklung zu einer methodischen Qualität ihrer Denkweise zu machen. Diese Chance nutzen die Autoren leider nicht. Stattdessen stellen sie die diversen anti-rationalen, romantischen, sozialutopischen, demokratie- und zivilisationsfeindlichen, kapitalismuskritischen Strömungen des Westens als sektiererische Abweichungen, vor allem aber als Stichwortgeber für den fundamentalistischen Okzidentalismus vor.

    Das ist eine verkürzte Sicht, auch wenn man aus den Informationen, die Buruma/Margalits Zettelkasten bietet, eine Menge lernen kann. Die japanischen Intellektuellen z.B., die 1942 in Kyoto zusammenkamen, um Hollywoodfilme, Tanzlokale, Massenmedien, Autos und Miniröcke als materialistisch und unjapanisch anzuprangern, befanden sich im Einklang mit einer konservativen Strömung in Europa, die im Gefolge Oswald Spenglers den "Untergang des Abendlandes" heraufziehen sah. Gleichzeitig waren zahlreiche arabische Intellektuelle von pangermanischen Idealen inspiriert, lasen sie deutsche Nationalisten der 1920er und 30er Jahre und transponierten deren antidemokratische Konzepte auf das eigene Land. Die Polemik des Sozialwissenschaftlers Werner Sombart gegen die "Händlerideale" der französischen Revolution und gegen den bourgeoisen "Komfortismus" des Westens hat arabischen, japanischen, chinesischen Wortführern Argumentationshilfe geleistet, die in ihren Ländern gegen die "Verwestlichung" kämpften.

    Ernst Jüngers Buch "Über die Linie", das den Rausch und den Opfermut des Heldentodes feiert, beeinflusste muslimische Kreise und wurde in den 60er Jahren von einem iranischen Gelehrten übersetzt. Der "organische", naturhafte Volksbegriff Herders und der politische Prophetismus der deutschen Hochromantik haben die reaktionärsten Kräfte der panslawischen Bewegung im zaristischen Russland beflügelt. Schließlich: Islamische Glaubensideologen haben die Kritik am kapitalistischen Warenfetischismus von Karl Marx erfolgreich für ihre Propaganda gegen die westliche Logik des freien Marktes ausgebeutet; der Marxismus insgesamt taugte auch zur Antriebskraft für destruktive, zutiefst menschenfeindliche Massenbewegungen wie die der Roten Khmer unter Pol Pot oder die maoistische "Kulturrevolution" in der Volksrepublik China. – Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass "der Westen" mit seiner eigenen komplexen Ideenwelt viele Feindschaften inspiriert, feindselige Ideologen gefüttert und argumentativ ausgestattet hat.

    Am Ende blicken die Autoren auf ein Schlachtfeld, auf dem nicht nur die Waffen, sondern auch fanatisch verfochtene Ideen Unheil angerichtet haben: "Die Europäer", so schreiben sie, "rechtfertigten ihre imperialistischen Eroberungen mit dem Hinweis auf Fortschritt und Aufklärung. Mit den gleichen Argumenten ermordeten asiatische Tyrannen Millionen von Menschen. Die Reaktionen auf diese rationalistischen Träume östlicher Tyrannen und westlicher Imperien waren genauso blutig." Und ganz am Ende ein guter Rat: Der Westen solle vom Kreuzzugsdenken Abschied nehmen; er befinde sich nicht im Krieg mit dem Islam. Wer die Errungenschaften des Okzidents erhalten wolle, dürfe nicht Gewalt mit Gewalt beantworten, den Feinden der Toleranz nicht mit den eigenen Formen von Intoleranz begegnen.

    Klaus Kreimeier über Ian Buruma/Avishai Margalit: "Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde". Der von Andreas Wirthensohn aus dem Englischen übersetzte Band ist bei Hanser in München und Wien erschienen. Er hat 158 Seiten und kostet 15,90 Euro.