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Ich bekenne, ich habe gelebt

Heute nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.

Margit Klingler-Clavijo | 12.07.2004
    Schreiben etwa: "mit Sternen übersät ist das Dunkel,
    und blaugefroren zittern weit entfernte Gestirne."

    Der Winder der Nacht zieht seine Kreise am Himmel, singend.

    Heut nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.
    Ich liebte sie, und manchmal hatte auch sie mich gerne.

    In Nächten, so wie diese, hielt ich sie in den Armen.
    Küsste sie viele Male unterm endlosen Himmel.

    Sie liebte mich, und manchmal hatte auch ich sie gerne.
    Wie denn nicht lieben ihre großen, sicheren Augen.
    Heute nacht kann ich die trübsten, traurigsten Verse schreiben.
    Denken, dass sie mir fern ist: Fühlen, dass sie verloren.
    In der hispanischen Welt haben etliche Paare über Gedichte von Pablo Neruda zueinander gefunden. Die eher Schüchternen hielten sich an die des ersten, 1924 veröffentlichten Bandes Zwanzig Liebesgedichte ein Lied der Verzweiflung, aus dem der chilenische Dichter und Nobelpreisträger eingangs das Gedicht Nummer 15 vortrug; eher stürmische Liebhaber versuchten es mit einem Gedicht aus Die Verse des Kapitäns, die Neruda 1952 auf Capri geschrieben und Mathilde Urrutia, seiner dritten Ehefrau gewidmet hatte.
    Ricardo Eliecer Neftalí Reyes Basoalto - so der Taufname des chilenischen Dichters - wurde am 12. Juli 1904 im südchilenischen Parral als Sohn eines Lokomotivführers und einer Volksschullehrerin geboren. Neruda nannte er sich später nach dem Vorbild des Prager Volksdichters Jan Neruda. In Lateinamerika zählt Pablo Neruda neben César Vallejo und Octavio Paz zu den herausragenden Dichtern des 20. Jahrhunderts. Heute wäre Neruda 100 Jahre alt geworden. Sein 100. Geburtstag wird allerorten groß gefeiert: In Isla Negra, seinem dicht am Meer liegenden Haus, das er 1939 erworben hatte und wo er nach seinem Tod am 23. September 1973 begraben wurde.

    Zwischenzeitlich wurde daraus ein Neruda-Museum. Dort kann man seine Muschel- und Schneckensammlung, prächtige Galionsfiguren, eine beeindruckende Bibliothek und viele phantasievolle Spielzeuge bewundern; die hat Neruda selbst gebastelt oder gesammelt und sich wie ein Kind daran erfreut.

    In Santiago de Chile wurde eigens ein Festkomitee gegründet, das die beeindruckende Zahl von Neruda-Gedenkveranstaltungen koordiniert: Auf dem 1. Weltforum der Kulturen in Sao Paulo, auf dem Forum von Barcelona, in Madrid, München, Rom und etlichen anderen Städten in Europa und Nord- und Südamerika.

    Eigens zu diesem Anlass ist bei Luchterhand In deinen Träumen reist das Herz erschienen, ein liebevoll edierter Geschenkband mit einhundert Neruda Gedichten. Außerdem wurde Aufenthalt auf Erden neu aufgelegt. Diesen Gedichtband hatte Neruda aus Asien mitgebracht, wo er von 1927-1932 chilenischer Honorarkonsul in Rangun, Colombo, Batavia und Singapur gewesen war. In seinen Memoiren Ich bekenne, ich habe gelebt, beschrieb er seinen Asienaufenthalt wie folgt:
    Der Osten beeindruckte mich als eine große unglückliche menschliche Familie, ohne dass ihre Riten und ihre Götter sich in meinem Bewusstsein niederschlugen. Ich glaube daher nicht, dass meine Dichtung von damals etwas anderes spiegelt als die Einsamkeit eines in eine gewalttätige fremde Welt verpflanzten Ausländers.
    "Ein Fest zu feiern und sich zu berauschen..." nannte Stefan Wieczorek den ebenfallsbei Luchterhand erschienenen Band mit Gedichten an Neruda, der wie sonst kein anderer außereuropäischer Dichter Hilde Domin, Berthold Brecht, Hans Magnus Enzensberger, Günther Grass, Erich Fried, etc. zur literarischen Auseinandersetzung verleitet hatte. Der Reader ist ein Seismograph der Neruda Rezeption in Deutschland, wo man dazu neigte, mal den politisch engagierten Dichter zu feiern, mal den Dichter der Liebe zu preisen oder den zu schätzen, der so simple Dinge wie die Artischocke, die Zwiebel oder das Rauschen des Meeres in den Elementaren Oden evozierte.

    Übersetzt und gelesen wurde Neruda Anfang der 50er Jahre zuerst in der ehemaligen DDR und zwar dank der Kontakte, die er im Spanischen Bürgerkrieg zu antifaschistischen Schriftstellern und später in Mexiko zu deutschen Exilschriftstellern wie etwa Anna Seghers hatte. Neruda war seit 1945 Mitglied der kommunistischen Partei Chiles.

    Politisiert hatte sich im Spanischen Bürgerkrieg, nachdem sein Freund, der andalusische Dichter Federico García Lorca am 19. Juli 1936 von Francomilizen ermordet worden war. Neruda reagierte darauf in dem1937 erschienenen Band
    Spanien im Herzen, der einen Wendpunkt in seinem Werk markiert. den er in seinen Memoiren so erklärte:
    Ich musste einhalten und den Weg des Humanismus finden, der verbannt war aus der zeitgenössischen Literatur und doch so tief verwurzelt im Trachten des Menschen.
    Zurück in Chile begann er in den 40er Jahren mit dem
    Canto General, jenem gigantischen Versepos, in dem er die Geschichte Lateinamerikas zurückverfolgt bis in die Zeiten der spanischen Konquistadoren und unerschrocken die imperialistische Politik der USA denunziert. Viele Abschnitte dieses Großen Gesangs sind übrigens auf der abenteuerlichen Flucht vor dem chilenischen Diktator González Videla im unwegsamen Andenhochland entstanden. Dort fand Neruda Unterschlupf bei Bergarbeitern und Bauern. Die Flucht nach Europa gelang ihm dank der Hilfe von Pablo Picasso, der ihn zu einem Friedenskongress nach Paris eingeladen hatte. 1951 war er in der DDR Ehrengast bei den Weltfestspielen der Jugend. 1953 erhielt er in der Sowjetunion den Stalin-Preis. Auf den Tod Stalins reagierte er mit einer Ode, die in den Band Die Trauben und der Wind aufgenommen wurde. Zehn Jahre später erfolgte 1964 in Memorial von Isla Negra die Abrechnung mit dem Stalinismus. In der BRD der 50er Jahre war Neruda als "kommunistischer" Dichter verpönt. Hans Magnus Enzensberger Warnte damals davor, Neruda in Bausch und Bogen zu verdammen und die politischen und sozialen Verhältnisse Lateinamerikas außer Acht zu lassen und führte dabei das nachfolgende Neruda Zitat an:
    Wir schreiben für einfache Menschen...für Menschen, die so anspruchslos sind, dass sie sehr, sehr oft nicht lesen können. Aber die Poesie war auf der Erde, bevor man lesen und drucken konnte, deshalb wissen wir, dass Poesie wie Brot ist und von allen geteilt werden muss, von Gelehrten und Bauern gleicher weise, von unserer ganzen unermesslichen und wunderbaren Familie, der alle Völker angehören.
    Politik und Poesie waren für Neruda kein Widerspruch. Allerdings war er froh, als letztlich doch nicht er, sondern Salvador Allende der Präsidentschaftskandidat der
    Unidad Popular wurde. Den Putsch vom 11. September 1973 und die Ermordung Salvador Allendes hat der krebskranke Neruda nur um wenige Tage überlebt. Er starb am 23. September 1973; seine Beerdigung war einer der ersten Protestakte gegen das Pinochet Regime. Etliche chilenische Schriftsteller, Filmemacher und Musiker gingen damals nach Europa ins Exil. Von dort aus bekämpften sie die Pinochet Diktatur und hielten die Erinnerung an Neruda wach. Antonio Skármeta, der damals in Berlin lebte, hat in dem überaus erfolgreichen Roman Mit brennender Geduld die Freundschaft zwischen Neruda und seinem Briefträger beschrieben. Dieser Roman wurde mehrmals verfilmt, zuletzt unter dem Titel Il Postino . Lassen wir abschließend Neruda noch einmal selbst zu Wort kommen mit dem Gedicht BITTE UM RUHE aus dem 1958 erschienenen "Extravaganzenbrevier":

    Bitte um Ruhe

    Nun lasse man mich in Ruhe.
    Nun mag man sich an mein Abwesendsein gewöhnen.

    Ich will meine Augen schließen.

    Fünf Dinge nur will ich,
    fünf eingewurzelte Vorlieben.

    Eine ist die unendliche Liebe.

    Die zweite ist, den Herbst erleben.
    Ich kann, ohne dass Blätter
    treiben und zur Erde kehren, nicht sein.
    Das dritte ist der bittere Winter,
    der Regen, den ich geliebt, des Feuers
    Zärtlichkeit inmitten grimmiger Kälte.

    An vierter Stelle der Sommer
    prall wie eine Wassermelone.
    Das fünfte sind deine Augen.
    Mathilde, inniggeliebte,
    ich mag nicht schlafen ohne deine Augen,
    mag nicht leben ohne deinen Blick:
    Ich tauschte den Frühling ein,
    damit du mich fort und fort anblickst.

    Freunde, das ist alles, was ich begehre.
    Es ist fast nichts und doch fast alles.

    Nun könnt ihr gehen, wenn ihr wollt.