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"Ich betätige mich als Ideenschmuggler"

Lange hatte der gebürtige Sizilianer Andrea Camilleri als Regisseur in Rom gearbeitet, 1978 war sein kaum beachtetes Debüt erschienen, Ende der 80er Jahre folgten historische Romane und Krimis. 1996 brach plötzlich das Camilleri-Fieber aus: Der Schriftsteller wurde innerhalb weniger Monate zum Bestsellerautor und Exportschlager seines Landes. In seinem neuen Buch "Die Pension Eva" erzählt er von seiner Jugend während des Zweiten Weltkrieges.

Von Maike Albath | 08.04.2008
    Maike Albath: Ihr neues Buch "Die Pension Eva" erzählt von einer Jugend in der sizilianischen Provinz in den späten dreißiger Jahren. Im Grunde ist es die Geschichte einer "Erziehung der Gefühle", in die auch viel aus ihrem eigenen Leben einfließt, Andrea Camilleri. Ihr Held Néné ist unglaublich neugierig auf ein Haus, eben jene Pension Eva, hinter der sich ein Bordell verbirgt. Was wusste man denn in Ihrer Jugend überhaupt vom anderen Geschlecht, wie nahm man Frauen wahr?

    Andrea Camilleri: Es war ein Terrain, das man erforschen durfte. Heute ist dieser Bereich ja von vornherein vollständig bekannt, echte Entdeckungen sind kaum mehr möglich. Ganz abgesehen von dem sexuellen Aspekt wollten wir einfach verstehen, wie Frauen sind, wie sie denken, wie sie sprechen. Wir hatten ja überhaupt keine Möglichkeit, jenseits von offiziellen Begegnungen, Frauen kennen zu lernen. Deshalb übten diese Bordelle natürlich eine unglaubliche Anziehungskraft auf uns aus. Die einzige Chance, überhaupt irgendetwas über Frauen in Erfahrung zu bringen, boten uns unsere Cousinen. Man durfte mit einem Mädchen nicht einmal spazieren gehen, das war undenkbar. Falls man es überhaupt irgendwie schaffte, sich zu verabreden, war das ein ungeheures Risiko. Wir haben eine stumme Sprache erfunden, eine Sprache, die aus Gesten und Blicken bestand, das war unglaublich. Man konnte diese Sprache nur anwenden, wenn das Mädchen auf den Balkon trat. Ihr Verehrer stand irgendwo auf der Straße herum, und dann ging es los. Der sizilianische Schriftsteller Giovanni Verga hat einmal gesagt, dass wir Sizilianer allesamt "Balkonschwangere" seien, was eine schöne Bezeichnung ist. Dieser erfundene Begriff deutet die ganzen Phantasien an, die für uns mit den Frauen verbunden sind, und er nimmt vorweg, was Brancati und andere Schriftsteller daraus machen werden.

    Albath: Sie spielen an auf Vitaliano Brancati, das ist der Romancier, der in Büchern wie "Don Giovanni in Sizilien" über die Verbindung von Machotum und Muttersöhnchen geschrieben hat. Die Entdeckung der realen Welt, der Welt der Frauen, konkurriert bei Ihnen, Andrea Camilleri, mit der Entdeckung der Literatur, mit der Lektüre von Melville und Conrad. An einer Stelle in Ihrem neuen Buch sprechen Sie davon, dass Néné unter der "Melancholie des Lesens" leidet. Können Sie das ausführen, was meinen Sie damit?

    Camilleri: Ich habe diese Melancholie stark gespürt. Es gab zwei Aspekte. Meine Schwermut hing einerseits mit der Beziehung zwischen den erfundenen Welten und meiner eigenen kleinen Wirklichkeit zusammen, die ich als viel zu eng empfand. Außerdem spürte ich auch so etwas wie Ohnmacht: mir schien, dass ich selbst nie dazu in der Lage sein würde, so zu erzählen, wie diese Autoren es vermochten. Ich fühlte mich vollkommen nutzlos. Daher die Melancholie. Hinzu kam natürlich noch die extreme Einsamkeit des Lesens. Mein Problem war dann auch noch, dass ich als Kind wenig gelesen hatte. Jules Vernes, Saligari, diese Autoren habe ich erst viel später gelesen, auch um eine Lücke zu füllen, aber eigentlich war ich damals dann schon zu groß. Im Grundschulalter habe ich Comics gelesen. Es gab zwei sehr schöne Wochenzeitschriften, die eine hieß "Der Abenteurer", das waren amerikanische Comics wie Gordon Flash, Geheimagent X 9, Cinefranco und eine zweite mit dem Titel "Der Kühne", die eher in Richtung Fantasy ging.

    Albath: Von den Comics kamen Sie dann zur Literatur, und nach ersten literarischen Versuchen als Abiturient erhielten Sie 1949 ein Stipendium für das Regiefach an der Akademie für Schauspielkunst. Sie haben Jahrzehntelang als Regisseur für Theater, Film und Hörfunk gearbeitet, zwischendurch erschien 1978 ihr Debüt, aber richtig begonnen hat Ihre literarische Karriere erst im Pensionsalter. Haben Sie es bereut, den Umweg über die Regie genommen zu haben und erst spät wieder mit dem Schreiben begonnen zu haben?

    Camilleri: Nein, das habe ich nie bedauert. Das Theater hat mich in meinem Schreiben sehr geprägt. Es war so, als hätten sich nach 25 Jahren als Regisseur so viele Geschichten in mir angesammelt, die erst dann ans Licht kommen konnten. Es sind Romane daraus geworden, und auch das hängt mit der Theatererfahrung zusammen, die Inszenierungen waren gewissermaßen die Voraussetzung. Mit Romanen hatte ich mich nämlich zuvor nie beschäftigt. Ich habe Kurzgeschichten geschrieben, Gedichte, aber einen Roman zu verfassen, wäre mir nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen. Erst das Theater hat mir eine ganz bestimmte Technik vermittelt. Wenn ich zum Beispiel für einen Roman eine Figur brauche und bemerke, dass es eine junge Frau von etwa Mitte 20 sein soll, dann lasse ich sie zuerst einmal sprechen. Ich habe noch keine Vorstellung davon, wie sie aussieht, aber ich weiß, wie sie sich ausdrückt und schreibe einen Dialog, und daraus entnehme ich dann, was das für eine Person ist, wie sie äußerlich beschaffen ist. Das ist natürlich eine Schreibform, die aus der Dramatik kommt.

    Albath: Sie sind 82 Jahre alt, Andrea Camilleri, und von einer bewundernswerten Produktivität. Vor wenigen Wochen ist in Italien ihr neuer Krimi mit Commissario Montalbano erschienen, sein 13. Fall. Sie haben außerdem ein Dutzend historische Romane verfasst und einige autobiographische Bücher. Haben Sie als Regisseur besonders viel Sitzfleisch?

    Camilleri: Zu 80 Prozent ist es genau das. Die Erfahrung als Regisseur hat mir ein großes Standvermögen verliehen. Ich war daran gewöhnt, mich - sehr zum Entsetzen der Gewerkschaften - drei Tage und drei Nächte lang im Theater einzuschließen. Als ich noch ein kleines bisschen jünger war, habe ich die ganze Nacht durch geschrieben, bis zum Morgengrauen. Dann trank ich zwei Tassen Espresso und machte weiter. Das fällt mir inzwischen etwas schwerer. Aber ich stehe früh auf und setze mich an den Schreibtisch. Etwa um zehn Uhr beende ich dann meine Arbeit, aber zwischen halb sieben und zehn schafft man schon eine Menge.

    Albath: Über zehn Millionen Leser haben Sie allein in Italien, Herr Camilleri. Vor allem der Sizilianer Montalbano, wackerer Staatsdiener, Gourmet und für das weibliche Geschlecht sehr empfänglich, wird sehr geliebt. Wie gestaltet sich die Gesellschaft von Montalbano mittlerweile, sind Sie seiner noch nicht überdrüssig?

    Camilleri: Es ist schon merkwürdig, sehr merkwürdig. Ich vertraue Ihnen eine heilige Wahrheit an. Es ist sehr schwer, sich von einem so großen Erfolg, wie ich ihn mit Montalbano habe, wieder zu verabschieden. Man braucht Mut und viel Kraft. Diese Kraft besitze ich nicht. Jetzt ist gerade mein letzter Montalbano erschienen, "Das Feld des Töpfers" heißt der Krimi, und er ist gleich auf Platz eins der Bestsellerliste gelandet. Das ist natürlich wichtig. Es erlaubt mir, einer großen Masse von Leuten bestimmte politische und soziale Ideen unterzujubeln. Ich betätige mich als Ideenschmuggler. Aber es gibt noch etwas: meine gesamten Romane sind seit 20 Jahren lieferbar, und jedes Mal, wenn ein neuer Montalbano erscheint, verkaufe ich auch jeweils tausend Exemplare von "Die sizilianische Oper" und "Der unschickliche Antrag", Bücher, die mir viel wichtiger sind als die Krimis. Montalbano, dieser Halunke, erpresst mich! Deshalb habe ich folgendes unternommen. Ich habe einfach den letzten Montalbano schon geschrieben. Auf diese Weise kann ich ihn in Schach halten, nach dem Motto: "Pass auf, Junge, wenn Du mir zu sehr auf die Nerven fällst, ziehe ich den Roman aus der Tasche, in dem es Dir an den Kragen geht.

    Albath: Ihre Krimis sind immer auch Stellungnahmen zur aktuellen italienischen Wirklichkeit. In "Das kalte Lächeln des Meeres" geht es zum Beispiel um die umstrittenen Polizeieinsätze beim G8 Gipfel in Genua 2001. Wie weit kann man denn als Schriftsteller Einfluss nehmen auf die Wirklichkeit?

    Camilleri: Es ist schon verblüffend, was ausgerechnet dieser Krimi für eine Wirkung entfaltet hat. Zwei große italienische Polizeigewerkschaften haben mich nämlich anschließend eingeladen, auf ihrer Jahresversammlung hier in Rom zu sprechen und noch einmal das Verhalten der Polizei beim G8-Gipfel darzustellen. 80 Prozent der Polizisten waren absolut einverstanden mit meiner Kritik. Und nicht nur das: Untersuchungskommissionen wurden eingerichtet, um das Fehlverhalten von 20 oder 30 Polizisten zu ahnden, und ich hoffe, dass sie jetzt auch verurteilt und bestraft werden, wie sie es verdienen. Hier hat also die Justiz den richtigen Weg genommen. Und zum Glück ist nicht die gesamte Polizei so. Mich hat beeindruckt, was der Sekretär der Polizeigewerkschaft gesagt hat: "Die Demokratie benötigt tagtägliche Instandhaltung". Wenn man diese Instandhaltung ein oder zwei Tage lang schleifen lässt oder gar eine Woche, wird es gefährlich.

    Albath: Ausgerechnet beim G8-Gipfel hat der Staat in fataler Weise Härte demonstriert, dabei ist der Staat in Italien häufig extrem schwach. Seit Monaten kämpft man in Neapel mit den Müllbergen. Auch Ihr Held Montalbano, der ein unbeirrbarer Vertreter des Staates ist, muss sich immer wieder mit der Schwäche des Staates herumschlagen.

    Camilleri: Die Sache mit dem Müll in Neapel ist ein gutes Beispiel: schließlich passiert das in Neapel und nicht in Rom oder Mailand, und wir produzieren genauso viel Müll. Es gibt also einen Störfaktor, der die gesamte Müllentsorgung bremst. Diesen Störfaktor können wir auch benennen: es ist die Camorra. Im Grunde bin ich froh, dass jetzt diese Angelegenheit mit dem Dioxin im Mozzarella aufgekommen ist, was ja mit den von der Camorra mit Giftmüll verseuchten Böden zusammen hängt, auch wenn es mir für die Hersteller Leid tut. Nur auf diese Weise merken die Leute, was die Camorra und die Mafia eigentlich ist. Denn es beschränkt sich ja nicht nur auf Schutzgeldzahlungen, die Mafia nimmt auch nicht nur die Müllentsorgung in die Hand. Nein, es ist eher so wie bei dem Schmetterling, der mit einem Flügelschlag ein Erdbeben in Hongkong auslöst. Das ist die Camorra, jetzt spüren wir die Konsequenzen.

    Albath: Bei Montalbano kommt die Mafia immer nur am Rande vor, aber in Ihrer Autobiographie erzählen Sie von der alten, dörflichen Mafia in Ihrem Geburtsort Porto Empedocle, dort lernen Sie einmal den örtlichen Boss kennen, einen gewissen Ziu Cola. War die Mafia früher beherrschbarer als heute?

    Camilleri: Man muss gleich vorweg sagen: die Mafiosi sind Mörder, damals wie heute. Früher brachten sie Leute nach einem bestimmten Ehrenkodex um, heute gibt es nicht einmal mehr den. Man nannte sie Respektspersonen, sie wurden mit Respekt behandelt. Aber solche Dinge entwickeln sich, wenn der Staat zu schwach ist. Wenn man in Italien davon spricht, dass die Justiz die Rolle der Politik übernommen hat, dann geschieht das auch, weil die Politik abwesend ist und die Justiz stattdessen einschreiten muss. Das Phänomen der Mafia hängt mit der Abwesenheit staatlicher Strukturen zusammen. Die Geschichte von Süditalien ist seit der italienischen Einigung von 1860 bis heute die Geschichte einer mangelhaften Verwaltung. Es sind alte Versäumnisse, und bis heute zahlen wir dafür den Preis.

    Als in Neapel die Bourbonen von den Italienern abgelöst wurden - es waren damals Piemontesen, aber sie repräsentierten das vereinigte Italien - hat der neue Polizeipräsident, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, die Camorra zur Hilfe gerufen. Die Camorristi waren die einzigen, ihm in dazu in der Lage zu sein schienen. Das ist doch ein Wahnsinn! Man hat die Camorristi anerkannt. Dasselbe ist mehrfach in Sizilien passiert. Ich habe einen dreiteiligen Fernsehfilm über die Mafia gemacht. Nach ihrer Landung auf Sizilien 1943 haben die Amerikaner in sechzig größeren Ortschaften Bürgermeister eingesetzt, die zugleich lokale Mafiabosse waren. In bestimmten Angelegenheiten hat man es immer vermieden, sich an die Polizei oder die Carabinieri zu wenden, weil man nicht wollte, dass die offiziellen Ordnungskräfte dort ihre Nase hinein steckten. Und dann hat man so getan, als gebe es die Mafia nicht. Aber natürlich war die Mafia da. Man wandte sich an den örtlichen Mafioso, er tat einem einen Gefallen und bat um eine Gegenleistung.

    Albath: Die Mafiosi und Camorristi haben vor allem in der Popkultur gar kein schlechtes Image, Gangster gelten als cool, was natürlich auch mit den vielen Kinofilmen zusammenhängt. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie über Sizilien schreiben?

    Camilleri: Das ist ein großes Problem. Als ich noch als Fernsehregisseur arbeitete, haben wir oft darüber diskutiert, auch anlässlich der Filme über den Mafiaboss Totò Riina. Ich habe mir nie Figuren ausgedacht, die Mafiosi waren, weil es immer damit endet, dass man diese Leute adelt. Auch ein drittklassiger Schriftsteller verleiht solchen Menschen einen Nimbus. Wenn Sie nur daran denken, wie sympathisch Marlon Brando in dem Film "Der Pate" ist! Aber wir dürfen nicht vergessen, dass er Killer beauftragt. Das ist die Wirklichkeit. Der Typ rückt einem natürlich unglaublich nahe. Und wenn man als Schriftsteller sein Handwerk versteht, ist es für den Leser eher schlimmer, denn die Verunreinigung durch dieses Gedankengut ist noch subtiler. Aus diesem Grunde kommt in meinen Krimis die Mafia nicht vor. In der Montalbano-Reihe ist sie eine Art Hintergrundgeräusch, eine Störung. Höchstens in dokumentarischer Form kann man über die Mafia schreiben. Das Buch von Roberto Saviano "Gomorrha" über die neapolitanische Camorra ist zum Beispiel großartig. Solche Bücher müsste es mehr geben, Bücher, die es schaffen, Einfluss auf die Wirklichkeit zu nehmen. Savianos Leistung besteht auch darin, den Balanceakt zwischen einem erzählerischen und einem dokumentarischen Werk geschafft zu haben. Es freut mich sehr, dass dieses Buch so erfolgreich war und immer noch ist.

    Albath: In Kürze wird in Italien wieder gewählt. Sie waren in den späten 40er Jahren in der Kommunistischen Partei aktiv, und in Ihren Büchern agieren Sie bis heute als Aufklärer. Der ehemalige Bürgermeister von Rom Walter Veltroni wird mit seiner neu gegründeten Partei, der PD, dem partito democratico, gegen Berlusconi antreten. Was halten Sie von der PD?

    Camilleri: Meine liebe Freundin, ich stehe dieser Partei sehr kritisch gegenüber. Was nicht heißt, dass ich sie nicht wählen werde. Veltroni hat mich angerufen und gefragt, ob ich in Sizilien für seine Partei in den Wahlkampf gehen würde. Aber ich habe keine Lust, meine politische Identität zu verlieren, ich bin schon bis zum äußersten gegangen, lasst’ mir wenigstens meine Unterwäsche. Die kann ich mir nun wirklich nicht ausziehen. Und in der PD, die ein riesiger Kessel voller unterschiedlicher Gruppierungen ist, hätte ich mit der ehemaligen Democrazia Cristiana gemeinsame Sache machen müssen, also mit der alten Partei der Rechten. Das kann ich wirklich nicht. Walter Veltroni schätze ich und betrachte ihn als einen Freund. Aber seine Partei werde ich bis zum letzten Tag angreifen und sie dann am Ende doch wählen, denn die Aussicht auf fünf Jahre Berlusconi terrorisiert mich einfach. Berlusconi muss einfach verschwinden. Ich fühle mich ein bisschen wie Cato, der Ältere, der sagt "Im übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss". Man fragt mich: "Was willst Du zum Mittagessen?" Ich wiederhole immer nur: "Karthago muss zerstört werden". Berlusconi muss verschwinden! Denn solange dieser Mann auf dem politischen Parkett agiert, wird es eine korrupte und verwirrende Sichtweise der Dinge geben.

    Albath: Veltroni hat in den Wahlumfragen zwar aufgeholt, aber Berlusconi scheint vorn zu liegen. Wie schätzen Sie die Chancen von Walter Veltroni ein, das Ruder doch noch herumzureißen?

    Camilleri: Ich denke, dass wir nicht gewinnen werden. Aber Berlusconi wird sich am Ende in genau derselben Situation wieder finden, in die Prodi geraten war und im Senat keine stabilen Mehrheiten erreichen. Davon bin ich beinahe überzeugt. Und das bedeutet: Unregierbarkeit. Diese Lage hängt mit unserem wirklich obszönen Wahlrecht zusammen, das sogar von dem, der es entworfen hat, nämlich Calderoli, als eine "Schweinerei" definiert wurde. Eine Zeitlang wollte ich gar nicht zur Wahl gehen, um bei so einer Schweinerei erst gar nicht mitzumachen. Durch die Kandidatur von Berlusconi bin ich natürlich jetzt gezwungen, zur Wahl zu gehen. Aber eigentlich dürfte man nicht wählen mit einem Gesetz, dass es einem unmöglich macht, sich für einen bestimmten Abgeordneten zu entscheiden. Dieses Gesetz bringt die Unregierbarkeit einfach mit sich. Schauen Sie sich unseren Senat an. Bei den Römern war es die Einrichtung, die von alten, weisen Senatoren besetzt war. Unser Präsident Napolitano, der ein kluger Mann ist, hat gesagt, man müsse dem Parlament Respekt entgegen bringen. Aber dieser Respekt kann nicht a priori bestehen, das Parlament muss ihn sich auch verdienen. Und wenn sich die Leute dort Schimpfwörter an den Kopf werfen, wie es bei uns passiert, verdient es keinen Respekt. Wenn dort Abgeordnete sitzen, die vom Gericht verurteilt wurden, irgendwelche Narren, warum sollte man dann Respekt haben? Das geht gar nicht.

    Albath: Seitdem Sie 1994 Ihren Commissario Montalbano erfunden haben, sind Sie mit einer Auflage von zehn Millionen allein in Italien und Übersetzungen in 20 Sprachen der erfolgreichste Schriftsteller Ihres Landes. Können Sie den Erfolg genießen?

    Camilleri: Ich habe mein Leben um keinen Deut verändert, gar nicht, und meine Frau auch nicht. Das halte ich für den größten Erfolg. Es stellt sich eine gewisse Beruhigung ein, weil ich meinen drei Töchtern Wohnungen kaufen konnte. Das ist natürlich schön. Aber weder mir noch meiner Frau hat Geld je irgendetwas bedeutet, falls wir morgen alles verlieren würden, würden wir uns weder aus dem Fenster stürzen noch aufhängen. Wenn es zum Beispiel eine Geldentwertung geben würde - nun gut, ich habe in der Toskana und in Sizilien ein bisschen Land, da würden wir Kartoffeln anbauen. Im Krieg bin ich schließlich auch mit einer Handvoll Bohnen über die Runden gekommen. Und dass ich erst so spät Erfolg hatte, tut mir auch nicht leid. Es hat viele positive Seiten. Mit 30 oder 35 hätte man vielleicht einigen Unsinn verzapft und falsche Schritte gemacht.

    Albath: Alles Gute für Sie, Andrea Camilleri, und vielen Dank für das Gespräch!

    Andrea Camilleri: Die Pension Eva
    Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
    Kindler Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008
    176 Seiten, 17,90 Euro