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"Ich bin das, was Hitler einen Juden genannt hat"

Wenn Sir Ernst Gombrich heute nach Wien reist, besucht er dann seine Heimat?

Denis Scheck | 30.03.1999
    GOMBRICH: Natürlich ist Wien meine Vaterstadt, Deutsch meine Muttersprache. Ich fühle mich in beidem sehr wohl. Aber wenn ich einen Moment nachdenke, wäre es lächerlich, wenn ich sagte, Wien sei meine Heimat. Ich kenne kaum einen Menschen dort. Wen sollte ich anrufen? Ich habe vielleicht noch zwei, drei Bekannte in Wien, mehr nicht. Ich komme zwar von daher, aber ich bin dort nicht mehr zu Hause.

    Sie fühlen sich heute also als Engländer?

    GOMBRICH: Überhaupt nicht. Ich bin englischer Staatsbürger, aber ich bin kein Engländer.

    Zum Wiener Bekanntenkreis Ihrer Eltern gehörten Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Sigmund Freud. Was bedeutet für Sie das Bildungsbürgertum?

    GOMBRICH: Bildung ist eigentlich die Überlieferung, die von Goethe herkommt. Diese Tradition hat aber auch ihre Schattenseiten. Es gibt einen Bildungsdünkel, und man merkt rasch, daß die sogenannte Allgemeinbildung im deutschen Sprachraum so allgemein nicht war. Shakespeare hat gewiß zur Bildung gehört, aber Jane Austen nicht, die großen Russen zählten dazu, aber kein Bulgare.

    Das Bildungsbürgertum scheint eine vom Aussterben bedrohte Spezies zu sein ...

    GOMBRICH: Natürlich. Meine Enkelkinder leben selbstverständlich in einer anderen Bildungswelt als wir. Aber das gehört zur natürlichen Abfolge der Generationen. Ich war sehr befreundet mit Karl Popper, dem Philosophen. Who reads still Cicero?, hat er mich am Telefon mal gefragt. Na, ich lese ihn noch, habe ich geantwortet. Aber wer sonst?

    Was hat sich seit Ihrer Ausbürgerung 1939 in Ihrem Verhältnis zu Österreich und Deutschland verändert?

    GOMBRICH: Mich begleitet eine Frage, wenn ich dort bin: Was hast du gemacht? Natürlich gilt diese Frage nur den Älteren, die noch mitgemacht haben können, nicht den Jungen. Aber selbstverständlich muß man sich das fragen.

    Hat Sie die in der Bundesrepublik weitgehend ausgebliebene Abrechnung mit den Nazi-Verbrechern frustriert?

    GOMBRICH: Das kann man nicht verallgemeinern. Sicher ist, daß gräßliche Dinge geschehen sind, die verhindert hätten werden können. Es gab viele, die sich von den Nazis distanzierten, es gab echte Helden, die Widerstand geleistet haben, aber den meisten Leuten war es eben nicht so wichtig. So ist der Mensch leider nun mal, traurig, aber wahr.

    Welchen Standpunkt vertritt der Kunsthistoriker Ernst Gombrich im Streit um das Berliner Holocaust-Mahnmal, der ja auch ein Streit um Kunst ist?

    GOMBRICH: Ich glaube, diese Dinge kann man nicht auf ein Mahnmal oder ein Monument abschieben. Dafür sind sie zu ernst. Man kann sie nicht durch ein Denkmal aus der Welt schaffen. Vor vielen Jahren war ich in einer Ausstellung in London, die Arbeiten aus einem Wettbewerb versammelte, in dem es um ein Mahnmal für den unbekannten politischen Gefangenen ging - "The Unknown Political Prisoner" lautete das Thema. Und zufällig wurde ich Zeuge, wie ein Mann in die Ausstellung kam und die Maquette der Arbeit eines Künstlers namens Butler zerstörte, indem er sie in der Hand zerquetschte. Der Mann wurde natürlich verhaftet. Ein Bekannter von mir begleitete ihn auf die Polizei. Er hat mir nachher erzählt, der Mann habe erklärt, gar nichts gegen moderne Kunst zu haben. Er sei selbst im Konzentrationslager gewesen und fände es einfach frivol, so etwas als Anlaß für Kunst zu nehmen. Ihm schien dieses Thema nicht kunstwürdig, und deshalb hat er aus Protest gegen diese Einstellung den Entwurf zerstört. Mir ist das immer in Erinnerung geblieben, und ich finde, der Mann hat recht.

    Es gibt menschliche Erfahrungsbereiche, die so voller Leid und Schrecken sind, daß sie sich der Kunst entziehen?

    GOMBRICH: Absolut. Ich habe nichts dagegen, wenn sich die Leute irgendwie besser fühlen, weil sie für so etwas einen Beitrag leisten. Aber der österreichische Satiriker Karl Kraus hat einmal geschrieben: "Zu Hitler fällt mir nichts ein." Und das ist einfach richtig. Darüber läßt sich nichts sagen.

    Ist Picassos Guernica-Bild nicht doch ein Versuch, mit den Mitteln der Kunst darüber etwas zu sagen - ein gelungener Versuch?

    GOMBRICH: Ich habe dieses Bild noch auf der Weltausstellung in Paris 1937 gesehen. Es war sicher sehr erschütternd, aber selbst die Bombardierung Guernicas läßt sich nicht vergleichen mit dem systematischen Mord an Tausenden und Zehntausenden.

    Besteht da nicht die Gefahr, der Kunst die Rolle des bloß heiteren Zeitvertreibs zuzuweisen?

    ERNST GOMBRICH : Nein, durchaus nicht. Schließlich hat schon Schiller gesagt, ernst ist das Leben, heiter die Kunst. Es gibt eben Dinge, die sich nicht eignen für Kunst. Ich kann es niemandem übel nehmen, wenn er es dennoch versucht, aber ich glaube nicht, daß es je heranreichen wird an das, was eigentlich geschehen ist.

    Sie brauchen also kein Holocaust-Mahnmal in Berlin?

    GOMBRICH: Nein, weiß Gott nicht. Es sind auch Verwandte von mir umgekommen. Was soll man darüber sagen?

    Welche Rolle hat in Ihrer Kindheit das Judentum für Sie gespielt?

    GOMBRICH: Eigentlich keine. Meine Eltern sind konvertiert, ich bin in den protestantischen Religionsunterricht gegangen und kann Ihnen noch heute die lutherischen Erklärungen zum Glaubensbekenntnis vorsagen. Wie definiert man einen Juden? Über diese Frage habe ich länger nachdenken müssen, als mir lieb war. Judentum ist entweder eine Religion, und dieser Religion gehöre ich nicht an, oder es ist laut der Nazi-Lehre eine sogenannte Rasse, aber an Rassen glaube ich nicht.

    Bedeutet Ihnen heute das Judentum als Kulturtradition etwas?

    GOMBRICH: Ich glaube nicht, daß es eine eigene jüdische Kulturtradition gibt. Ich glaube, das Judentum war in Deutschland ungeheuer assimiliert. Viele wußten überhaupt nicht, daß sie jüdische Wurzeln hatten. Die Bildungstradition, die auch im Judentum eine große Rolle spielt, war etwas ganz anderes. Ich habe darüber mit Herlinde Koelbl für Ihr Buch "Jüdische Portraits" gesprochen und mußte bekennen, daß ich in dieser Beziehung gar keine Verbindung zum Judentum habe. Wenn es nach dem geht, was vielleicht fromme Juden einen Juden nennen würden, wäre ich kein Jude. Aber wenn man heute gefragt wird, sagt man selbstverständlich: Ja, ich bin Jude. Die richtige Antwort wäre: Ich bin das, was der Hitler einen Juden genannt hat. Das bin ich.

    Wenn in diesem Augenblick Gott beschlösse, hier in Ihrem Londoner Wohnzimmer Gestalt anzunehmen, und wir würden versuchen, diese Erscheinung auf einem naturgetreuen Bild festzuhalten, warum müßten wir daran scheitern?

    GOMBRICH: Laut der christlichen Lehre und auch der jüdischen Lehre kann es kein Abbild Gottes geben. "Du sollst Dir kein Bildnis machen", heißt es. Allein darum müßte jede Abbildung Gottes zwangsläufig scheitern.

    Einen Michelangelo hat das nicht abgehalten ...

    GOMBRICH: Ja, in der christlichen Kunst ist auch Gottvater oft dargestellt worden. Man findet diese Problematik schon bei Dante, der erläutert, die Kirche erlaube diese Bilder sozusagen als eine Annäherung an die Fassungskraft unseres Geistes. Auch in der weiteren Geschichte der Kunst spielte dieser Bilderstreit eine gewisse Rolle. Der Raffael-Schüler Giulio Romano erklärte zum Beispiel: "Man hat mich angeschuldigt, daß ich Gott im Himmel dargestellt habe, obwohl der ja nicht sichtbar ist - aber das ist eben die Tradition."

    Ihr berühmtestes und erfolgreichstes Buch, "Die Geschichte der Kunst", beginnt mit den Sätzen: "Genaugenommen gibt es 'die Kunst' gar nicht. Es gibt nur Künstler." Als Kunsthistoriker haben Sie sich weniger für einzlne Künstlerbiographien interessiert als für Probleme der Wahrnehmung. Gibt es also doch "die Kunst"?

    GOMBRICH: Wie in allen solchen Fragen hängt es schließlich und endlich von der Konvention ab, was man Kunst nennt und was nicht. Im Englischen zum Beispiel heißt "art" nicht genau dasselbe wie auf Deutsch "Kunst". Architektur etwa fällt im Englischen nicht unter "art", aber natürlich ist im Deutschen die Architektur eine Kunst. Andererseits gibt es im Deutschen und in vielen anderen Sprachen auch die Gartenkunst oder die Kochkunst und noch viele andere Künste. Ich wollte einfach gleich zu Anfang darauf hinweisen, daß die Kunst eine Art Institution ist.

    Inwiefern?

    GOMBRICH: Im Chinesischen ist die Kalligraphie eine der wichtigsten Künste, hierzulande würde man einen Kalligraphen dagegen kaum einen Künstler nennen. Was man Kunst nennt, hängt von den verschiedenen Kulturen ab, die sich damit befassen.

    Innerhalb Ihrer Lebenszeit haben Sie eine enorme Ausweitung dessen erlebt, was zur Kunst zählt - vom Bereich wie Design bis hin zur Werbung ...

    GOMBRICH: Ja, früher nannte man das angewandte Kunst oder Kunstgewerbe.

    Begrüßen Sie diese Erweiterung des Kunstbegriffs?

    GOMBRICH: Begrüßen - dazu bin ich als Kunsthistoriker nicht da. Aber manchmal geht es vielleicht doch ein bißchen zu weit. Beuys hat gesagt: Jeder Mensch ist ein Künstler. Mag schon sein, kommt eben ganz darauf an, was man unter Künstler versteht. Eigentlich kommt es nicht so sehr darauf an, wie man etwas bezeichnet - man kann ja immer erklären, was man damit meint. Der Streit um Worte ist gewöhnlich eine sehr langweilige Angelegenheit. Ich bin aber davon überzeugt, daß Michelangelo ein bedeutenderer Künstler war als ich oder vielleicht sogar Sie.

    Was macht für Sie Genie aus?

    GOMBRICH: Auch das ist letztlich eine rein kulturell bedingte Angelegenheit. Ich bin kein Aristoteliker, ich glaube nicht an Definitionen. Fest steht aber, daß manche Menschen Leistungen vollbringen, die dem normalen Menschen nicht gelingen. Ich denke da nicht nur an Literatur, Musik oder Kunst, sondern auch an die Naturwissenschaften. Ein Mensch wie Allan Turing, der den Computer zum großen Teil erfunden hat, war in meinen Augen zum Beispiel ein Genie. Aber vielleicht ist auch der Mensch, der den Reißverschluß erfunden hat, in seiner Art ein Genie.

    Jedenfalls hat er ein Problem adäquat gelöst. Darauf haben Sie auch als Kunsthistoriker immer wieder abgehoben ...

    GOMBRICH: Unbedingt. Es gibt künstlerische Probleme, und auch da zählen letztlich nur die Lösungen. Ich glaube also schon, daß man den Leuten ruhig Ehrfurcht beibringen soll vor den Leistungen, die große Menschen vollbracht haben.

    Wird dieser Begriff der Leistung heute nicht eher geringgeschätzt?

    GOMBRICH: Nicht im Sport.

    Aber in der Kunst?

    ERNST GOMBRICH : Ja, dort setzt man sich damit dem Verdacht des Elitismus aus. Aber in Wirklichkeit ist es nicht anders als im Sport: Wenn jemand ein guter Fußballer, ein guter Langstreckenläufer oder ein guter Skifahrer ist, weiß jeder, was das bedeutet. Es gibt einfach Leistungen, die nicht jeder kann. ¨ Und das ist für Sie auch in der Kunstbetrachtung wichtig?

    GOMBRICH: Absolut. Es kann nun mal nicht jeder wie Velázquez malen, ganz bestimmt nicht. Und Velázquez hat schon in früher Jugend so gut malen können. Wie er das gemacht hat, wissen wir nicht.

    Hat das auch mit Traditionen zu tun?

    GOMBRICH: Ganz gewiß. Ich will niemanden beleidigen, aber ich glaube nicht, daß wenn heute jemand in Albanien oder so aufwächst, er oder sie dann sofort ein großer Meister in der Musik oder in der Literatur werden kann. Fast alle Künstler haben in der Nachahmung angefangen und sind erst allmählich in ihr Eigenes gekommen. Der Lehrling hat so lange kopiert, bis er das Handwerk gelernt hatte.

    In der neueren Kunstgeschichte scheint Innovation vor Tradition zu rangieren ...

    GOMBRICH: Genau. Aber damit kommt man nicht sehr weit. Ohne Tradition kann es keine wirklich große Leistung geben.

    Gibt es in der Moderne schon eine Tradition des Verstoßes gegen die Tradition?

    GOMBRICH: Die gab es immer. Einen gewissen Schock- oder Überraschungseffekt sollte bereits die Architektur eines Michelangelos auslösen. Aber man fragt sich eben, wie weit das gehen kann.

    Gibt es für Sie einen Punkt in der Moderne, an dem Ihr Interesse aufhört?

    GOMBRICH: Es gibt sehr viele Punkte. Mein Interesse ist nicht sonderlich lebhaft. Besonders das, was die Kritiker schreiben, interessiert mich nicht sehr.

    Welcher heute lebende Künstler würden Sie dazu bringen, in eine Ausstellung zu gehen?

    GOMBRICH: Lucian Freud zum Beispiel. Ein großer Maler.

    Was schätzen Sie an ihm?

    GOMBRICH: Er kann einfach sehr gut malen. Er ist nicht einmal immer sehr sympathisch, aber er ist immer gut. Er würde nie etwas Schlechtes oder Schlampiges malen.

    Was halten Sie von der Wertschätzung, die die junge britische Gegenwartskunst im Moment genießt? Nur eine Mode?

    GOMBRICH: Natürlich sind das Moden, so wie es Modeworte gibt und Moden in der Kleidung. Ich finde das nicht sonderlich wichtig. Man muß sich ja nicht jeder Mode anschließen.

    Glauben Sie an eine Läuterung durch Kunst?

    Absolut nicht. Aber ich glaube an einen Trost durch Kunst. Ich glaube, daß die Kunst ein Erbe ist. Und weil das Leben sehr oft traurig ist, daß es wunderbar ist, daß wir dieses Erbe haben, und daß wir in der Musik, in der Literatur, in der bildenden Kunst und anderswo, in der Architektur, so ein Erbe haben, an das wir uns halten können, daß es da Werte gibt, die wirklich verwirklicht worden sind. Aber ich glaube nicht, daß jemand ethisch besser wird, weil er sich für Kunst interessiert oder ein Maler wird oder irgend etwas. Manche Maler waren schlechte Kerle, davon bin ich überzeugt.


    GOMBRICH: Im großen und ganzen, in Ruhe gelassen zu werden.