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Ich bin ein Hügel

Sie ist etwas zwischen "nicht mehr" und "noch nicht": Kein Kind mehr, noch keine Frau. Sie sagt sich, Zitat, "was nützt es schon, ein junges Mädchen zu sein, wenn dann doch eine Frau draus werden soll." Friederike Kretzen hat ihrem neuen Roman einen eigenartig schwingenden Titel gegeben: "Ich bin ein Hügel". Die Ich-Erzählerin ist 1970 vierzehn Jahre alt. Sie ist umstellt von Definitionen, Rollenzuweisungen und zweifelhaften Identitätsangeboten. Dabei sucht sie einen Selbstausdruck, der sie nicht faßt im Sinne von festhalten. Wie nebenbei findet sie sich ein Zauberwort, das Bewegung zuläßt: "Ich bin ein Hügel und auf und davon".

Sabine Peters |
    Friederike Kretzen, 1956 in Leverkusen geboren, lebt seit 1983 in Basel. Mit Büchern wie "Die Souffleuse", "Die Probe" oder "Ihr blöden Weiber" hat sie eine eigene Spur gelegt; und man bedauert, daß diese Spur im schnellebigen Literaturbetrieb ein wenig untergegangen ist.

    1996 veröffentlichte der Bruckner & Thünker-Verlag Friederike Kretzens Roman "Indiander", die Geschichte einer frühen Kindheit in Leverkusen, der Stadt der Bayer-Werke. "Ich bin ein Hügel" setzt räumlich und zeitlich etwa da ein, wo "Indiander" aufhörte, ohne daß man deshalb jetzt von einem Fortsetzungsroman reden wollte. Denn Fortsetzung impliziert ja gerade als Kontinuität die beruhigende Vorstellung von Geschlossenheit und Sicherheit. Eben darum geht es dieser Autorin allerdings nicht. Kindheit und Jugend: Das sind verführerische Themen, die zu zwei Extremen verleiten. Das eine ist die lustvolle Regression in eine scheinbar unschuldige Lebensphase; selbst ernsthafte Autoren bringen es da fertig, einen, überspitzt gesagt, im Bambi-Tonfall anzusäuseln. Das andere Extrem ist die zornig wissende Abrechnung mit dem Dressurakt der Sozialisation. Kretzens neues Buch hat mit dem ersten Extrem rein nichts zu tun. Aber es löst sich auch aus der Tradition der Abrechnungs-Literatur.

    "Ich bin ein Hügel" ist ein überraschender Roman. Man meint ja zunächst, diese ganzen Elemente, aus denen sich die Pubertät eines weiblichen Menschen zusammensetzt, zu kennen, aus eigenem Erleben oder aus anderen Lektüren. Dieses ganz unsichere Körpergefühl etwa; ist man nun groß oder klein, dick oder dünn - und dann ein Ordnungsbedürfnis dem undurchschaubaren Körper gegenüber, das zum autoaggressiven Akt wird: "Hunger esse ich am liebsten". Oder: Noch vor der Begegnung mit dem anderen Geschlecht die Ahnung der eigenen Sexualität. Da heißt es dann: "Erbsen und Punkte sind Gestirne (...) Es gibt Stellen, die gern auf der Erbse liegen (...) Ich will etwas zum Anfassen, und so klammere ich mich an den erbsengroßen Körper eines Käfers, der zum Mond fliegt (...) Es ist dunkel um mich herum, nur vor mir der Mond und zwischen meinen Beinen der erbsengroße Käfer." Oder die Wirkung der Männer: "Diese Männer, in deren Nähe kaum Luft zu kriegen ist, über denen irgendwas schweben muß, was dann aufgebracht flattert und mit anderem ins Gehege kommt." Und nicht zuletzt das Aufbegehren diversen Autoritäten gegenüber; ein Aufbegehren das seinerzeit geradewegs in die Politisierung mündete. Friederike Kretzen beschreibt die Politisierung der inzwischen Sechzehnjährigen mit pointiertem, feinen Spott, ohne daß man den Eindruck hat, hier wird Geschichte modisch entsorgt. Die Puzzlestücke einer solchen weiblichen Pubertät meint man zu kennen. Und ist dann im besten Sinne bestürzt, aus der Fassung gebracht durch die Spracharbeit dieser Autorin. Es ist ein gradliniger, einfacher und hinterrücks höchst virtuoser Tonfall, der hier zu hören ist; ein Tonfall, der seinen Ursprung und seine Beglaubigung im Körper des heranwachsenden Mädchens hat. Und so sind viele Sätze ruckartig, holprig, ungelenk, sprunghaft - um dann wieder in eine nicht fest umrissene, dahinströmende, flüssige Bewegung überführt zu werden. Es ist oft mehr die Vorstellung, der bewußte Wille, der ein Ich-Bild setzt und zementiert. Friederike Kretzen läßt sich auf das Wagnis ein, die Wahrnehmung des Körpers zum Arbeitsmaterial zu machen.

    Marie Luise Fleißer kommt einem in den Sinn, ohne daß der Vergleich von zwei unterschiedlichen Autorinnen aus unterschiedlichen Generationen sie in eins setzen will. Etwas Gemeinsames liegt aber wahrscheinlich im radikalen Abstand, die beide zur Logik der Normalsprache haben, in der Fremdheit, die sie wachhalten und würdigen. Fleißers Werk, das zur literarischen Avantgarde zählt, hatte ganz andere Voraussetzungen als die Arbeiten ihrer männlichen Zeitgenossen - Fleißers Texte besetzen kein Zentrum, sie leben neben, unter oder über der literarischen Moderne. Die Ich-Erzählerin in Friederike Kretzens Roman spricht aus einer ähnlichen Position, vom Rand aus; auch sie ist fremd in der grammatischen Ordnung der Sprache. Ihrer Rede fehlt die selbstgewiße Routiniertheit, mit der ein Ich sich so gern selbst in Szene setzt. Die Tatsache, daß das weibliche Subjekt keinen, oder allenfalls einen ganz ungewissen Ort in der symbolischen Ordnung hat, diese Tatsache kann, das läßt sich speziell bei Fleißer nachlesen, einen subtilen, trockenen Humor hervorbringen. Friederike Kretzens Humor liegt in der Verwandlungskunst, mit der sie die Dinge um eine Idee dreht, - und alle Stricke reißen. Dieser Humor ist ganz von jetzt; er öffnet neue Möglichkeiten, verspricht Zukunft; da, wo Marie Luise Fleißer wohl vom Scheitern bedroht war. Dabei wissen Friederike Kretzen und ihre Ich-Erzählerin schon auch von der Möglichkeit des Zugrundegehens, von der Gefährdung des Durchgestrichen-werdens. Und so "schwingt" dieses Buch nicht nur, wie eingangs gesagt; man liest hier gelegentlich auch ein leises Beben; das hier ist ein ungepanzerter Text. Vielleicht ist es das, was einen an dem Roman "Ich bin ein Hügel" berührt: Friederike Kretzen buchstabiert das Rätsel der Jugend so nüchtern wie achtsam nach, und sie tut es mit der Unerschrockenheit der Dünnhäutigen.