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Ich bin ein Narr und weiß es

Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands und bemüht sich seit Jahren, hauptstädtische Zeitungen hervorzubringen. Weil es aber vier Jahrzehnte lang im Frontbezirk des antikommunistischen Abwehrkampfes unter Generalfeldmarschall Axel Cäsar Springer lag, will die Konversion von Revolverblättern und Durchhaltepostillen zu bürgerlichen Journalen mit gewissem Tiefgang nicht so recht glücken. Die auflagenstärkste Zeitung jenseits des Boulevards, die "Berliner Morgenpost", wird vornehmlich am Wochenende wegen ihres Immobilienteils gelesen, nicht wegen der Seiten, über denen das Wort "Feuilleton" steht. Vom alten Feuilleton als Ort für kurze Geistesblitze, für elegante - wenngleich vielleicht nicht unbedingt lebensnotwendige - Betrachtungen ist kaum mehr etwas vorhanden, und doch - drei Sommer lang stieß man in eben jener "Berliner Morgenpost" auf Glanzstücke der alten Feuilletonkultur. Sie stammten aus der Feder von Rolf Schneider und beschäftigten sich - eben nicht ganz lebensnotwendig - mit Liebesaffären großer Geister.

Florian Felix Weyh |
    Diese Pralinees, von denen man allsonntäglich eine zum Nachmittagstee genießen konnte, brachten einen längst vergessenen Geschmack auf die Zunge des literarischen Connaisseurs zurück: das zartbittre Aroma edler Herrenschokolade, genannt Stil. So unspektakulär - ja geradezu als Wonnen der Gewöhnlichkeit - die Schreibanlässe daherkamen, Rolf Schneider machte daraus kleine literarische Ereignisse. Dies zu erkennen, bedarf es allerdings Leser, die über die Lektüre regionaler Tageszeitungen schon hie und da einmal hinausgekommen sind, denn der Stil Schneiders ist, wie alle vornehme Attitüde, vornehm zurückhaltend. Zum Glück liegen nun die versammelten Liebesfeuilletons im Taschenbuch vor und finden vielleicht in die Hände derjenigen, die zu schätzen wissen, wenn sich jemand fürs Zeitungsschreiben so verausgabt, daß die Produkte über den Tag hinaus Bestand haben.

    Was aber macht Schneiders Kurzprosa so elegant, wenn er über Klaus Mann und Gustav Gründgens, über Bert Brecht und Ruth Berlau, über Ingeborg Bachmann und Max Frisch schreibt, um die bekanntesten Konstellationen herauszugreifen? Es ist die Fülle des Verschwiegenen. Kein Stück länger als fünfzehn Buchseiten, enthält doch jedes eine komprimierte Epochendarstellung, manchmal in ein, zwei Sätzen kondensiert oder en passant in den Text eingewoben. Schneider weiß viel mehr, als er ausschreibt, und das ist eine Verbeugung vor dem Leser (wir erinnern uns: dem Tageszeitungsleser), den er für weitaus gebildeter und erheblich weniger dumm hält, als das Redaktionen für gewöhnlich tun. Ja, er traut ihm sogar den Griff zum Nachschlagewerke zu, nicht aus elitärem Hochmut, sondern weil sein Gestus manchmal nach Worten verlangt, die selbst der aktuelle Fremdwörterduden nicht mehr aufführt, "Sordonie" zum Beispiel, versuchen Sie Ihr Glück! In der Beschreibung des eskalierenden Streits zwischen Heine und Börne, der bekanntlich im Duell endete, erzeugt diese sprachliche Entrückung genau das, was sie wohl meint: den gedämpften Ton.

    Nicht allzu häufig beschert das Rezensentenleben mit seinem Fluch der Wiederholung solche Momente: Daß man Geschichten, die man so oder ähnlich andernorts gelesen hat, ein zweites Mal goutiert, weil sich die Zubereitung unnachahmlich vom Vorangegangenen unterscheidet. Das mag den warmen Ton der Empfehlung verständlich machen und gleichzeitig die Verwunderung erklären, die sich beim Blick ins "Verzeichnis lieferbarer Bücher" einstellt. Rolf Schneider - zu DDR-Zeiten ein Autor, der östlich und westlich der Elbe viel gelesen wurde - hat von der Wiedervereinigung ganz offensichtlich nicht profitiert; was um so mehr verwundert, als er schon die Jahre zuvor im westdeutschen Kulturbetrieb integriert schien. Hohe Zeit, ihn wiederzuentdecken, damit sich die Aufschrift auf seiner kleinen Pralineeschachtel nicht auf andere Weise gegen ihn wendet. Zu schreiben, obwohl man nicht mehr gehört wird, gleicht der Liebe, die niemand erwidert: "Ich bin ein Narr und weiß es".