Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


"Ich bin Gott"

"Ich bin Gott!", behauptete der russische Komponist und Pianist Alexander Nikolajewitsch Skrjabin. Er verstand sich als moderner Prometheus, brach mit allen Traditionen seiner Zeit, entwickelte eine radikal neuartige Tonsprache und entwarf zuletzt ein musikalisches Mysterium, in dem Klänge, Farben und Düfte zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk verschmelzen sollten: Ein Visionär an der Grenze zum Wahnsinn.

Von Michael Stegemann | 27.04.2005
    "Ich bin ein Nichts, ein Spiel, bin Freiheit, bin das Leben. Ich bin eine Grenze, ein Gipfel."

    "Ich bin Gott."

    1904 war der russische Komponist und Pianist Alexander Nikolajewitsch Skrjabin erstmals mit dem religions-philosophischen Kreis der Theosophen in Kontakt getreten - eine Begegnung, die sein Leben und Schaffen grundlegend verändern sollte. Bis dahin war seine Biographie relativ geradlinig und unspektakulär verlaufen. Geboren 1872 als Sohn eines Militärs und einer Pianistin, tritt Skrjabin als 11jähriger in das 2. Moskauer Kadetten-Korps ein und nimmt gleichzeitig sein Musikstudium auf: Klavier bei dem renommierten Nikolai Swerew (in dessen Klasse der ein Jahr jüngere Sergej Rachmaninow sein Mitschüler ist), Musiktheorie und Komposition bei Sergej Tanejew.

    Die Werke jener frühen Jahre - Sonaten, Etüden, Préludes und Salon-Piécen für Klavier - verraten im Spannungsfeld zwischen brillanter Virtuosität und poetischer Innigkeit deutlich den Einfluss Frédéric Chopins.

    1891 schließt Skrjabin das Konservatorium mit einer Goldmedaille ab und beginnt - gefördert von dem Musikverleger Mitrofan Belajeff - eine glanzvolle Karriere als Klaviervirtuose und Komponist, die ihn durch ganz Europa führt. Indessen verlässt seine Musik zunehmend die sicheren Grundlagen der Dur/Moll-Tonalität, und auch das Klavier reicht ihm bald als Ausdrucksmittel nicht mehr aus: Drei Symphonien, die zwischen 1900 und 1905 entstehen, bereiten das Poéme de l'extase für Orchester vor, in dem sich eine völlig neue Klangwelt manifestiert - so wie die Theosophie auch Skrjabins Gedankenwelt verändert hat. Er versteht sich als neuer Prometheus, der alle schöpferischen Kräfte des Lebens in sich trägt. In Gedichten und Tagebuch-Notizen hält er seine Ideen fest.

    "Ich bin tätig - ich bin in Zeit und Raum. Ich will leben. Ich will schaffen. Ich will siegen. Die Welt sucht Gott. Ich suche mich. Ich bin Gott, der dein Bewusstsein durch die Kraft meines freien schöpferischen Aktes hervorgebracht hat. Die Welt lebt in meinem Bewusstsein, als mein Schöp-fungsakt."

    1910 entsteht Prométhée ou le Poéme du feu für Solo-Klavier, Orchester, Chor und Farbenklavier - ein synästhetisches Manifest, dessen aus Quarten aufgeschichteter "Prometheus-Akkord" alle tonalen Bindungen aufgegeben hat; Leonid Ssabanejew stellt das Werk im Blauen Reiter vor, Arnold Schönberg wird von ihm bei der Entwicklung seiner Zwölftonlehre beeinflusst. Skrjabins zutiefst erotischer Jugendstil-Mystizismus spiegelt sich auch in den Titeln seiner späten Klavierwerke wider, die immer kühnere harmonische Wege beschreiten und die Grenzen des Instru-ments zu sprengen scheinen: Désir und Caresse dansée ("Verlangen" und "Getanzte Liebkosung"), Vers la flamme und Flammes sombres ("Der Flamme entgegen" und "Dunkle Flammen"), oder die Beinamen der siebenten und neunten Sonate, Weiße Messe und Schwarze Messe. Zuletzt plant der Komponist (gemeinsam mit dem englischen Theater-Pionier Gordon Craig) den Bau eines spiralförmigen Kunst-Tempels in Indien, in dem - begleitet von Farbklavier und Duftorgel - sein Orchester-Mysterium aufgeführt werden soll: Ein Gesamtkunstwerk aller Sinne als Initiations-Ritual, das in einem orgiastischen Geschlechtsakt aller Zuhörer gipfelt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzögert das Projekt, der plötzliche Tod des Komponisten lässt es endgültig scheitern: Alexander Skrjabin stirbt am 27.April 1915, 43 Jahre alt, in Moskau an den Folgen einer Blutvergiftung.