Der Denkende überwindet den Sturm in seiner kleinsten Größe, heißt es in Bertolt Brechts "Badener Lehrstück vom Einverständnis". Auf "Fingernagelgröße" sieht sich sein einstiger Schützling Günter Kunert in dem Gedicht "Google Earth" reduziert. Er stellt sich darin vor, wie sein norddeutsches Refugium von einem Satelliten erfasst wird. Kunerts lyrisches Ich beharrt darauf: "Winzig. Fingernagelgröße. Damit ich auch fernerhin unerkennbar bleibe." In dieser Haltung gedenkt der vielfach geehrte Dichter, Prosaautor und Essayist Günter Kunert auch den Sturm seines heraufziehenden achtzigsten Geburtstags an diesem Freitag zu überstehen. Mit preußischer Nüchternheit sieht er dem Ereignis entgegen:
"Es kommen ein paar Freunde zu meinem Geburtstag. Wir werden ein bisschen Sekt trinken, Kaffee, Kuchen, so das Übliche, aber ansonsten, nein. Nein, wir machen nichts."
Günter Kunerts produktiver Pessimismus ist ungebrochen, das beweist in aller Frische sein jüngster Gedichtband "Als das Leben umsonst war". Neben einigen Reprisen, etwa was seine antike Lieblingsgestalt des Ikarus betrifft, widmet sich der so versierte wie facettenreiche Lyriker unter anderem Themen wie Stadtgängen – vor allem durch seine alte Heimat Berlin – im Gegensatz zu ahnungsvollen Naturgedichten. Immer wieder erscheinen darin Menschen als "die Bestien künftiger Gegenwart", wie es im Gedicht "Lautlose Stimme" heißt. An anderer Stelle ist vom "Todestrieb des Planeten" die Rede. Und die Zeitläufe geben dem Autor recht: Angesichts der Weltwirtschaftskrise und ihrem ungebrochenen Primat der Ökonomie, der sämtliche Umweltschutz-Bemühungen bedroht, hat sich Kunerts seismographischer Geschichtspessimismus noch verstärkt. Eine latente Bedrohung grundiert seine Naturlyrik; auch der Hang zu sogenannten schwarzen Lehrgedichten ist ungebrochen. Günter Kunert erklärt:
"Sie wissen ja, ich bin ja die männliche Kassandra von Kaisborstel und der Schwarzseher vom Dienst, und wenn mir das vorgeworfen wird, dann erwidere ich immer mit einem Bonmot oder einem Aphorismus von Felix Pollack: "Ein Hellseher, der kein Schwarzseher ist, ist kein richtiger Hellseher." Ich bin nicht sehr glücklich dabei und darüber, muss ich Ihnen sagen, denn ich finde, die Erde ist eine ganz gute Erfindung, und das Leben ist auch eine ganz schöne Angelegenheit. Und dass dies alles jetzt so gefährdet ist, macht mich im Grunde betrübt."
Diese Achtsamkeit für die Natur und ihre permanente Gefährdung durch den Menschen verbindet Günter Kunert mit einer anderen Lyrikerin, die aus der DDR kommend das idyllische Schleswig-Holstein als neue Heimat wählte: Sarah Kirsch. Günter Kunert, der wegen seiner jüdischen Mutter in der Nazi-Zeit nur die Volksschule besuchen durfte und für wehrunwürdig erklärt wurde, war stets ein Individualist und "Außenseiter von Kindheit an", wie er sagt und in seiner Autobiographie "Erwachsenenspiele" beschrieben hat. Früh von Bertolt Brecht und dem DDR-Kulturminister Johannes R. Becher gefördert, aber genauso an amerikanischer Lyrik interessiert, wich Günter Kunerts Glaube an die sozialistische Utopie einem immer tieferen Skeptizismus. Die DDR vertrug Ironie bekanntlich schlecht. Ein Gedicht in der Zeitschrift "Weltbühne" über das Lampenverbot des blinden Königs Tharsos von Xantos machte ihn 1963 zur Unperson. Forthin wurde sein Telefon überwacht. Auch was sein Engagement für den Umweltschutz anbelangt, erwies sich Kunert als unbestechlich.
"Das hat bei mir sehr früh begonnen. Nach dem Kriege konnte man ja – ich wohnte damals im Ostsektor, Sowjetsektor war es ja – konnte man bis 1948 etwa auch alle Zeitungen und Zeitschriften deutscher Produktion kaufen. Und ich war abonniert auf das "Life Magazine". Das gab’s da auch schon. Und ich entdeckte da – das muss 1946, 1947 gewesen sein – einen Bericht über eine kleine Stadt in Pennsylvania […]. Dort gab es ein Aluminiumwerk. Und eines Tages war es derart neblig und so eine Inversionsatmosphäre, dass die Abgase aus dem Aluminiumwerk auf den Ort gedrückt wurden. Und da wachten am nächsten Morgen 56 Leute nicht mehr auf. Das hat mich sehr beeindruckt.
Das war eigentlich mein erster Blick in das zerstörerische Moment der Industrialisierung. Und das habe ich von da an nie verloren. Und ich habe auch in der DDR dann Schwierigkeiten nicht nur aus politischen Gründen gehabt, sondern auch wegen dieser Umweltfragen. Ich habe dann eben manchmal auch geschrieben, dass der Kaiser wirklich nackt ist, und das mochte man ja nicht. Und ich […] habe mich dann eben auch kundig gemacht durch Sach- und Fachbücher und war in der DDR ein ganz früher Ökofreak."
Seit nunmehr dreißig Jahren leben Marianne und Günter Kunert im ehemaligen Schulhaus des Dorfes Kaisborstel, vom nächsten Bahnhof Itzehoe eine gute halbe Autostunde entfernt. Das hätte sich der gebürtige Großstädter, für den Berlin als Menetekel und Verheißung allgegenwärtig ist, nicht träumen lassen. Ab 1972 konnte Kunert Gastprofessuren in den USA und Großbritannien wahrnehmen - Aufenthalte, die nicht zuletzt sein Talent als Reiseschriftsteller befeuerten. Im Zuge der Biermann-Petition, die das einstige SED-Mitglied unterschrieben hatte, verließ er im Oktober 1979 Ost-Berlin endgültig - mit seiner Frau und sieben für die Fahrt betäubten Katzen im Kofferraum.
"Ich bin ja mit fünfzig weggegangen. Und wesentliche Veränderungen im Denken und im Schreiben ereignen sich nicht mehr. Es kommen neue Aspekte hinzu, andere verschwinden. Dann hat man selber von sich den Eindruck, hier beginnt etwas Neues. Aber es ist im Grunde nur eine Variante dessen, der man ja schon vorher war. Und insofern, im Leben auf dem Lande habe ich das Gefühl gehabt von einem großen Zeitgewinn. In Schleswig-Holstein gehen die Uhren langsamer. Es gibt keine Hektik, keine Hast. Und schon nach kurzer Zeit habe ich mich diesem ganz langsamen Rhythmus hier angepasst. Also wenn mir jemand gesagt hätte, vor vierzig Jahren, du wirst mal in Schleswig-Holstein auf dem Lande leben, den hätte ich für irrsinnig gehalten. Und ich finde jetzt, dass es das Beste war, was ich hatte machen können für mich und für mein Schreiben."
Im neuen Band "Als das Leben umsonst war" finden sich auffallend viele Elegien – über die Vergänglichkeit, einschließlich der eigenen. Schwankt Günter Kunert als Lyriker zwischen dieser getragenen Form und dem ironischen, auch parabelhaften Gedicht, wie er es in dem Anti-Keuner-Band "Der alte Mann spricht mit seiner Seele" meisterhaft exerzierte?
"Es ist eigentlich kein Schwanken. Es ist einfach so, dass sich bestimmte Themen doch einfach ihre eigene Form suchen, beziehungsweise eine bestimmte Haltung beim Schreiben verlangen. Das heißt, diese ja doch ironisch-augenzwinkernden Texte im "Alten Mann" hätten sich auf ernsthafte Weise gar nicht schreiben lassen, sie wären dann zu einer Weinerlichkeit und Klage gediehen und damit unerträglich geworden. Und gerade durch die – einerseits Ironie, andererseits Missbrauch klassischer Zitate berühmter Autoren – ist jede Peinlichkeit aufgehoben. Das heißt, das ist eine Form, in der man auch Unangenehmes sagen und sich selber belächeln kann und den Zuhörer oder Leser zum Lächeln bringen kann.
Hingegen gibt es dann natürlich bestimmte Themen - die eigene, sehr intensive Beziehung zur Natur, Erscheinungen, Vorkommnissen und überhaupt zu dem, was Natur bedeutet im Denken und Fühlen – das ist eigentlich auf unernste Weise nicht recht sagbar. Wenn man dann diese Bindung, die man ja hat als Säugetier – wir sind ja auch alles Säugetiere – in einer Welt, die doch uns entfremdet hat, wenn man dann noch Kontakte findet zu diesem, was wir heute als "Außen" empfinden, mit dem wir aber einstmals sehr intensiv gelebt haben, als Teil davon, wenn man da sich wieder hintasten kann, dann ist das ein Moment doch voller Ernsthaftigkeit. Ironie würde das aufheben."
In "Als das Leben umsonst war" erweist Günter Kunert neben Zeitgenossen wie Bertolt Brecht oder Peter Huchel auch Autoren vergangener Epochen Reverenz, vor allem dem Barockdichter Andreas Gryphius sowie Heinrich Heine. Kunerts eigene Szenen einer in die Jahre gekommenen Erotik stehen Heines Deutlichkeit in nichts nach.
"Bei Heine ist es die Melancholie eines Intellektuellen und tief verwundeten Menschen. Während bei Gryphius natürlich immer der Glaube aufschimmert und die Rettung, was bei Heine ja nur am Ende seines Lebens als eine letzte Praxis getrieben wurde. Aber das spielt bei Heine nicht diese Rolle. Das liegt aber auch daran, wie ich glaube, dass das Verhältnis zu Gott bei Juden ein ganz anderes ist als bei Christen.
Es ist ein eher familiäres. Und es gibt ja sehr gute jüdische Witze, es sind die besten überhaupt, und es gibt natürlich auch Witze, in denen Gott vorkommt. Er gehört zur Mischpoche, das ist der Unterschied. Und er ist nicht herausgehoben, diese […] große Gestalt mit dem weißen Bart, die über allem schwebt. Und so ist das bei den Juden eigentlich nicht. Es ist eher ein Gott des Wortes, es ist ja das Volk des Wortes. Und das ist eben auch Heines Sache."
Und mit einem Blick in seinen spätwinterlichen Garten, in dem sich die aktuellen sieben Katzen zum Bedauern der Besucherin nicht zeigen wollen, rezitiert Günter Kunert zum Abschied das Poem Landleben.
Günter Kunert: "Als das Leben umsonst war: Gedichte", Carl Hanser Verlag, 160 Seiten.
"Es kommen ein paar Freunde zu meinem Geburtstag. Wir werden ein bisschen Sekt trinken, Kaffee, Kuchen, so das Übliche, aber ansonsten, nein. Nein, wir machen nichts."
Günter Kunerts produktiver Pessimismus ist ungebrochen, das beweist in aller Frische sein jüngster Gedichtband "Als das Leben umsonst war". Neben einigen Reprisen, etwa was seine antike Lieblingsgestalt des Ikarus betrifft, widmet sich der so versierte wie facettenreiche Lyriker unter anderem Themen wie Stadtgängen – vor allem durch seine alte Heimat Berlin – im Gegensatz zu ahnungsvollen Naturgedichten. Immer wieder erscheinen darin Menschen als "die Bestien künftiger Gegenwart", wie es im Gedicht "Lautlose Stimme" heißt. An anderer Stelle ist vom "Todestrieb des Planeten" die Rede. Und die Zeitläufe geben dem Autor recht: Angesichts der Weltwirtschaftskrise und ihrem ungebrochenen Primat der Ökonomie, der sämtliche Umweltschutz-Bemühungen bedroht, hat sich Kunerts seismographischer Geschichtspessimismus noch verstärkt. Eine latente Bedrohung grundiert seine Naturlyrik; auch der Hang zu sogenannten schwarzen Lehrgedichten ist ungebrochen. Günter Kunert erklärt:
"Sie wissen ja, ich bin ja die männliche Kassandra von Kaisborstel und der Schwarzseher vom Dienst, und wenn mir das vorgeworfen wird, dann erwidere ich immer mit einem Bonmot oder einem Aphorismus von Felix Pollack: "Ein Hellseher, der kein Schwarzseher ist, ist kein richtiger Hellseher." Ich bin nicht sehr glücklich dabei und darüber, muss ich Ihnen sagen, denn ich finde, die Erde ist eine ganz gute Erfindung, und das Leben ist auch eine ganz schöne Angelegenheit. Und dass dies alles jetzt so gefährdet ist, macht mich im Grunde betrübt."
Diese Achtsamkeit für die Natur und ihre permanente Gefährdung durch den Menschen verbindet Günter Kunert mit einer anderen Lyrikerin, die aus der DDR kommend das idyllische Schleswig-Holstein als neue Heimat wählte: Sarah Kirsch. Günter Kunert, der wegen seiner jüdischen Mutter in der Nazi-Zeit nur die Volksschule besuchen durfte und für wehrunwürdig erklärt wurde, war stets ein Individualist und "Außenseiter von Kindheit an", wie er sagt und in seiner Autobiographie "Erwachsenenspiele" beschrieben hat. Früh von Bertolt Brecht und dem DDR-Kulturminister Johannes R. Becher gefördert, aber genauso an amerikanischer Lyrik interessiert, wich Günter Kunerts Glaube an die sozialistische Utopie einem immer tieferen Skeptizismus. Die DDR vertrug Ironie bekanntlich schlecht. Ein Gedicht in der Zeitschrift "Weltbühne" über das Lampenverbot des blinden Königs Tharsos von Xantos machte ihn 1963 zur Unperson. Forthin wurde sein Telefon überwacht. Auch was sein Engagement für den Umweltschutz anbelangt, erwies sich Kunert als unbestechlich.
"Das hat bei mir sehr früh begonnen. Nach dem Kriege konnte man ja – ich wohnte damals im Ostsektor, Sowjetsektor war es ja – konnte man bis 1948 etwa auch alle Zeitungen und Zeitschriften deutscher Produktion kaufen. Und ich war abonniert auf das "Life Magazine". Das gab’s da auch schon. Und ich entdeckte da – das muss 1946, 1947 gewesen sein – einen Bericht über eine kleine Stadt in Pennsylvania […]. Dort gab es ein Aluminiumwerk. Und eines Tages war es derart neblig und so eine Inversionsatmosphäre, dass die Abgase aus dem Aluminiumwerk auf den Ort gedrückt wurden. Und da wachten am nächsten Morgen 56 Leute nicht mehr auf. Das hat mich sehr beeindruckt.
Das war eigentlich mein erster Blick in das zerstörerische Moment der Industrialisierung. Und das habe ich von da an nie verloren. Und ich habe auch in der DDR dann Schwierigkeiten nicht nur aus politischen Gründen gehabt, sondern auch wegen dieser Umweltfragen. Ich habe dann eben manchmal auch geschrieben, dass der Kaiser wirklich nackt ist, und das mochte man ja nicht. Und ich […] habe mich dann eben auch kundig gemacht durch Sach- und Fachbücher und war in der DDR ein ganz früher Ökofreak."
Seit nunmehr dreißig Jahren leben Marianne und Günter Kunert im ehemaligen Schulhaus des Dorfes Kaisborstel, vom nächsten Bahnhof Itzehoe eine gute halbe Autostunde entfernt. Das hätte sich der gebürtige Großstädter, für den Berlin als Menetekel und Verheißung allgegenwärtig ist, nicht träumen lassen. Ab 1972 konnte Kunert Gastprofessuren in den USA und Großbritannien wahrnehmen - Aufenthalte, die nicht zuletzt sein Talent als Reiseschriftsteller befeuerten. Im Zuge der Biermann-Petition, die das einstige SED-Mitglied unterschrieben hatte, verließ er im Oktober 1979 Ost-Berlin endgültig - mit seiner Frau und sieben für die Fahrt betäubten Katzen im Kofferraum.
"Ich bin ja mit fünfzig weggegangen. Und wesentliche Veränderungen im Denken und im Schreiben ereignen sich nicht mehr. Es kommen neue Aspekte hinzu, andere verschwinden. Dann hat man selber von sich den Eindruck, hier beginnt etwas Neues. Aber es ist im Grunde nur eine Variante dessen, der man ja schon vorher war. Und insofern, im Leben auf dem Lande habe ich das Gefühl gehabt von einem großen Zeitgewinn. In Schleswig-Holstein gehen die Uhren langsamer. Es gibt keine Hektik, keine Hast. Und schon nach kurzer Zeit habe ich mich diesem ganz langsamen Rhythmus hier angepasst. Also wenn mir jemand gesagt hätte, vor vierzig Jahren, du wirst mal in Schleswig-Holstein auf dem Lande leben, den hätte ich für irrsinnig gehalten. Und ich finde jetzt, dass es das Beste war, was ich hatte machen können für mich und für mein Schreiben."
Im neuen Band "Als das Leben umsonst war" finden sich auffallend viele Elegien – über die Vergänglichkeit, einschließlich der eigenen. Schwankt Günter Kunert als Lyriker zwischen dieser getragenen Form und dem ironischen, auch parabelhaften Gedicht, wie er es in dem Anti-Keuner-Band "Der alte Mann spricht mit seiner Seele" meisterhaft exerzierte?
"Es ist eigentlich kein Schwanken. Es ist einfach so, dass sich bestimmte Themen doch einfach ihre eigene Form suchen, beziehungsweise eine bestimmte Haltung beim Schreiben verlangen. Das heißt, diese ja doch ironisch-augenzwinkernden Texte im "Alten Mann" hätten sich auf ernsthafte Weise gar nicht schreiben lassen, sie wären dann zu einer Weinerlichkeit und Klage gediehen und damit unerträglich geworden. Und gerade durch die – einerseits Ironie, andererseits Missbrauch klassischer Zitate berühmter Autoren – ist jede Peinlichkeit aufgehoben. Das heißt, das ist eine Form, in der man auch Unangenehmes sagen und sich selber belächeln kann und den Zuhörer oder Leser zum Lächeln bringen kann.
Hingegen gibt es dann natürlich bestimmte Themen - die eigene, sehr intensive Beziehung zur Natur, Erscheinungen, Vorkommnissen und überhaupt zu dem, was Natur bedeutet im Denken und Fühlen – das ist eigentlich auf unernste Weise nicht recht sagbar. Wenn man dann diese Bindung, die man ja hat als Säugetier – wir sind ja auch alles Säugetiere – in einer Welt, die doch uns entfremdet hat, wenn man dann noch Kontakte findet zu diesem, was wir heute als "Außen" empfinden, mit dem wir aber einstmals sehr intensiv gelebt haben, als Teil davon, wenn man da sich wieder hintasten kann, dann ist das ein Moment doch voller Ernsthaftigkeit. Ironie würde das aufheben."
In "Als das Leben umsonst war" erweist Günter Kunert neben Zeitgenossen wie Bertolt Brecht oder Peter Huchel auch Autoren vergangener Epochen Reverenz, vor allem dem Barockdichter Andreas Gryphius sowie Heinrich Heine. Kunerts eigene Szenen einer in die Jahre gekommenen Erotik stehen Heines Deutlichkeit in nichts nach.
"Bei Heine ist es die Melancholie eines Intellektuellen und tief verwundeten Menschen. Während bei Gryphius natürlich immer der Glaube aufschimmert und die Rettung, was bei Heine ja nur am Ende seines Lebens als eine letzte Praxis getrieben wurde. Aber das spielt bei Heine nicht diese Rolle. Das liegt aber auch daran, wie ich glaube, dass das Verhältnis zu Gott bei Juden ein ganz anderes ist als bei Christen.
Es ist ein eher familiäres. Und es gibt ja sehr gute jüdische Witze, es sind die besten überhaupt, und es gibt natürlich auch Witze, in denen Gott vorkommt. Er gehört zur Mischpoche, das ist der Unterschied. Und er ist nicht herausgehoben, diese […] große Gestalt mit dem weißen Bart, die über allem schwebt. Und so ist das bei den Juden eigentlich nicht. Es ist eher ein Gott des Wortes, es ist ja das Volk des Wortes. Und das ist eben auch Heines Sache."
Und mit einem Blick in seinen spätwinterlichen Garten, in dem sich die aktuellen sieben Katzen zum Bedauern der Besucherin nicht zeigen wollen, rezitiert Günter Kunert zum Abschied das Poem Landleben.
Günter Kunert: "Als das Leben umsonst war: Gedichte", Carl Hanser Verlag, 160 Seiten.