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"Ich bin nicht daran zerbrochen"

In Berlin finden Anfang kommenden Monats die Turn-Europameisterschaften statt. In der technischen Sportart Turnen gibt es kein Doping, weil es keinen Sinn macht. Das ist die Standardantwort wann und wo auch immer man das Wort Doping im Kreise der Gerätekünstler aufbringt.

Von Sandra Schmidt | 13.03.2011
    Falls man genauer wissen möchte, welche Mittel eventuell doch hilfreich sind, lohnt ein Blick auf das Turnen in der DDR. Dagmar Kersten, Vize-Olympiasiegerin am Stufenbarren bei den Olympischen Spielen 1988, ist ein anerkanntes Dopingopfer der DDR. Heute spricht sie vor Schülern über ihre Leistungssportkarriere, Doping inbegriffen. Doch auch sie ahnte lange Jahre nichts.

    Die Schüler der Domschule in Osnabrück haben sich schon häufiger außerhalb der Turnhalle mit dem Sport beschäftigt. In ihrer Klasse hängen Werbeplakate vom Deutschen Olympischen Sportbund. In diesem Jahr hat sich Lehrer Martin Sander für eine andere Sicht der Dinge entschieden und die ehemalige Turnerin Dagmar Kersten eingeladen: ein anerkanntes DDR-Dopingopfer:

    "Es wird von den Lehrern immer nur aus Schulbüchern, aber nicht aus eigener Erfahrung berichtet, und da ist es ganz schön, wenn man einen Zeitzeugen hat."

    Die olympischen Medaillen und ihre Krankenakte hat Dagmar Kersten mitgebracht und während sie aus ihrem Leben erzählt ist mal ein Video ihrer Bodenkür zu sehen, mal Listen der so genannten 'unterstützenden Mittel' - dem Doping, von dem sie selbst lange nichts ahnte.
    Bis Dagmar Kersten so frei aus ihrem Leben berichten konnte, musste viel geschehen.

    Mitte der neunziger Jahre lebt sie mit ihrer Familie in Oldenburg und wird zum ersten Mal mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert:

    " Da stand plötzlich die Polizei vor meiner Haustüre und wollte mich fragen, ob ich Aussagen zu einem Dopingprozess machen wollte und ich wusste überhaupt nicht, was los war, also ich hab' einfach nur gesagt: Kann ich nix zu sagen, ich wurde nicht gedopt."

    Die Akten besagten etwas Anderes. Dagmar Kersten beginnt sich mit dem Thema Doping in der DDR zu beschäftigen. Sie sucht den Kontakt zu anderen Ehemaligen, liest Bücher und Dokumente, in denen auch ihre Geschichte verhandelt wird:

    "Ich habe meine Karriere erst in den letzten Jahren als kritisch angesehen, ich habe mich davor einfach gar nicht damit beschäftigt. Ich habe einfach versucht, ein vernünftiges Leben zu führen."

    Als Zehnjährige siegte Dagmar Kersten erstmals bei der DDR-Spartakiade und wechselte kurz darauf ins Internat des SC Dynamo Berlin. Mit gerade 15 Jahren gewann sie bei ihrer ersten Weltmeisterschaft 1985 gleich vier Medaillen, bei den Olympischen Spielen 1988 war sie mit Silber und Bronze die erfolgreichste Turnerin der Republik. Erich Honecker ehrte sie dafür mit dem ‚Vaterländischen Verdienstorden’. Doch die Zeit hinter den Mauern des Berliner Sportforums war ein ständiger Kampf mit Verletzungen. In nur sieben Jahren wuchs die Krankenakte der Turnerin Kersten auf über hundert Seiten an:

    " Ich bin eigentlich ganz froh darum, dass ich diese Akte habe, weil sich dadurch vieles für mich erklärt hat."

    Die Akte dokumentiert akribisch jede Trainingseinschränkung und vor allem das Bemühen um die Wiederherstellung ihrer Wettkampffähigkeit. Als die sportärztliche Jahresuntersuchung bei der Fünfzehnjährigen schwere Schädigungen an der Wirbelsäule feststellte, wurde Kersten als "leistungssportuntauglich" eingestuft und musste das Training einstellen. Als Therapie wurde eine Gipsschale verordnet und die Verabreichung des so genannten Stoffwechselschemas nach Kaiser, ein Medikamentenmix, zu dem auch das androgene Steroid Oral-Turinabol gehörte. Der Mediziner Dr. Bernd Pansold, der die Behandlung anordnete, wurde 1998 wegen der Vergabe von Dopingmitteln an Minderjährige verurteilt.

    Außerdem probierte man an den Turnerinnen des Olympiakaders 1988 das Steroid STS646 sowie einer Reihe von neuen Präparaten aus, welche die Konzentration, die Reaktion und die Stressbelastbarkeit erhöhen sollten.

    "Wir haben zum einen Dopingmittel durch die Trainer erhalten, eben in dieser Tablettenform. Mein Trainer sagte mir damals, das sind Mittel, die auch Säuglinge für den Knochenaufbau bekommen. Zum anderen wurden wir natürlich von Ärzten gespritzt oder haben Kaugummis und so weiter bekommen, ich kann aber nicht genau sagen, wo die Dopingmittel dann verpackt waren, das ist mir nicht aufgefallen."

    Dagmar Kersten erinnert sich, dass Trainer Wolfgang Riedel ihr Tabletten gegeben hat, aber auch, dass er sie während ihrer Verletzungsphase positiv unterstützte. Riedel wurde nach der Wende vom Deutschen Turner-Bund übernommen und war bis 2002 Junioren-Bundestrainer. Er lehnt jeden Kommentar zu dem Thema ab. Anders Jürgen Heritz, der Dagmar Kersten vor Riedel betreut hatte:

    "Von mir hat niemand Anabolika oder Tabletten bekommen und ich habe auch keine Rückmeldung von Sportlern, obwohl ich's ihnen gesagt habe."

    Er habe von den Dopingversuchen im Turnen gewusst, seine Turnerinnen gemahnt, ihm alles zu erzählen und er habe damals – auch durch Unterhaltungen mit Leichtathletiktrainern im Lehrgangszentrum Kienbaum – entgegen anders lautenden Vorgaben die Überzeugung gewonnen:

    "Gottseidank arbeitest Du in einer Sportart, wo Du das nicht brauchst und deswegen habe ich das auch prinzipiell abgelehnt und ich weiß auch nicht, bis heute nicht, ob eine meiner Turnerinnen dort von anderen Dopingmittel oder leistungsfördernde Mittel oder was gekriegt hat."

    Gegen Jürgen Heritz liegt nichts vor. Er allerdings wurde nicht vom Deutschen Turner-Bund übernommen.

    Die Aufarbeitung dessen, was Dagmar Kersten ohne ihr Wissen angetan wurde, aktivierte auch ihre Erinnerungen an die Trainingsjahre auf's Neue und die sind nicht nur positiv. Turnen ist ein klassischer Kinderhochleistungssport: frühe Spezialisierung hohe Trainingsumfänge und Belastungen sowie die Notwendigkeit eines geringen Gewichts. Daraus entstehen – nicht zwingend, aber häufig – vielfältige Probleme und die sind keineswegs DDR-spezifisch.

    "Für mich war eigentlich das Schlimmste, in der ersten Zeit, als ich in die Nationalmannschaft gekommen bin, dass ich permanent in Angst gelebt habe, in Angst vor meinem Trainer, dass ich, in Angst, zu viel Gewicht auf die Waage zu bringen, den Leistungen nicht gerecht zu werden."

    Dieser Trainer war Jürgen Heritz, bis heute der erfolgreichste deutsche Turntrainer: Karin Janz, Doppel-Olympiasiegerin von München, gehörte ebenso zu seinen Schützlingen wie Maxi Gnauck, Olympiasiegerin 1980 und fünfmalige Weltmeisterin. Dagmar Kersten wirft ihm "seelische Misshandlungen" vor, eine Aussage, die Heritz nach eigenem Bekunden zu denken gibt:

    "Wenn sie das so ausdrückt und meine Forderungen so empfindet, dann war das, dann muss ich das so akzeptieren, irgendwie, aber ich hab’s nicht gesehen und ich hab’s auch nicht gewollt."

    Die Angst, von der Dagmar Kersten spricht, erinnert ihren ehemaligen Trainer an die Ängstlichkeit seiner Turnerin:

    "Sie war veranlagt, für’s Turnen vom Körperlichen her, sonst wären ja auch nicht die Ergebnisse gekommen, ganz klar, aber das große Problem war bei ihr die Angst. Natürlich geht jeder Trainer an die Leistungsgrenze, sowohl körperlich als auch psychisch, physisch als auch psychisch, eines Athleten, um auszutesten, kann ich noch, geht es noch, geht er mit oder geht es nicht mehr. So, und das hab' ich bei Dagmar auch gemacht."

    Sie brachte ihren Trainer auch an seine Grenzen. Nach der erfolgreichen Weltmeisterschaft 1985 wollten beide nicht länger miteinander arbeiten.

    Jürgen Heritz arbeitet weiterhin mit jungen Turnerinnen in Berlin. Ein Umstand, der vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen für Dagmar Kersten schwer verständlich ist. Doch auch sie kann der Zeit im Rückblick Positives abgewinnen:

    "Eine Körperbeherrschung erlernt zu haben, die mir keiner nehmen kann und ich bin einfach daran gewachsen, ich bin nicht daran zerbrochen, sondern ich bin daran gewachsen."

    Kersten arbeitet mittlerweile selbst im Turnen, als Referentin des Niedersächsischen Turner-Bundes und als Trainerin einer Showakrobatikgruppe, in der auch ihre Tochter Alina aktiv ist. Außerdem begann sie sich für das Taekwan-Do zu interessieren, als Sohn Erik diese Sportart ergriff. Als Inhaberin des 2. Dans und einer Zusatzausbildung zur Budo-Pädagogin lehrt sie die traditionelle Kampfkunst in Vereinen und Schulen. Die eigenen Erfahrungen sind dabei wichtig:

    "Eigentlich spielt meine sportliche Karriere eine ganz große Rolle, weil ich aufgrund dieser Erfahrungen, die ich damals gesammelt habe, vieles vieles heute anders mache und auch viele Trainer dazu anhalten möchte, mit Menschen anders umzugehen, als es mit uns getan wurde."

    Dagmar Kersten verfolgt in ihrer Arbeit ein klares Konzept, das nicht auf Sieg setzt, sondern die persönliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt.
    "Ich würde den Wunsch haben, dass die Trainer und Ärzte, die damals für das Doping verantwortlich waren, mit uns sich austauschen. Es würde mich interessieren, warum sie so was gemacht haben und wie sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren können."

    Eine Antwort darauf steht bis heute aus.