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"Ich bin stolz auf die Art, wie wir die Trennung abgewickelt haben"

Schluss. Aus. Vorbei. Nach 31 Jahren, 15 Alben und 85 Millionen verkaufter Tonträger hat R.E.M. ihren Ausstand erklärt. In Corso spricht Frontmann Michael Stipe über die Hintergründe der Trennung. R.E.M. sei es wichtig gewesen, "auf einem Höhepunkt" zu enden, sagt er.

Michael Stipe im Gespräch mit Marcel Anders |
    Marcel Anders: Herr Stipe, warum so ein überraschender Abgang?

    Michael Stipe: Weil es uns wichtig war, dass wir auf einem Höhepunkt enden. Und dass wir es so machen, wie wir es wollen – nach unseren Vorstellungen. Die meisten Bands versanden doch einfach nur oder enden in diesem explosiven "Ich hasse dich, du hasst mich, rede mit meinem Anwalt". Das sollte bei uns definitiv anders sein. Nämlich in einem Moment, den wir für einen Höhepunkt unserer Karriere halten. Denn wir sind sehr glücklich mit den letzten beiden Alben und mit der letzten Tour. Mit uns. Von daher war es einfach eine gute Zeit, um zu sagen: "Das war´s. Wir schließen die Tür."

    Anders: Soll das heißen, es gab keine schmutzige Wäsche, keine internen Spannungen?

    Stipe: Natürlich gab es die. Wir haben uns halt nicht erwischen lassen. Deshalb brauchten wir auch keine Anwälte. Klar, sind wir drei ein bisschen traurig. Und das Ganze hat etwas Bittersüßes. Aber ich bin stolz auf die Art, wie wir die Trennung abgewickelt haben.

    Anders: Wie lange haben Sie diese Entscheidung mit sich herumgetragen?

    Stipe: Ungefähr drei Jahre.

    Anders: Dann war das Stück "All The Best" vom letzten Album schon ein Hinweis auf die Trennung?

    Stipe: Sogar ein unübersehbarer Hinweis, wenn sie mich fragen. "Collapse Into Now" war nichts anderes als ein einziges "Auf Wiedersehen" – und zwar mit den besten Songs, die wir schreiben konnten. Deshalb habe ich ja auch all diese musikalischen Gäste und Filmemacher eingebracht. Das war etwas, was ich schon jahrelang machen wollte. Aber nie die Zeit, die Energie oder das Geld dazu hatte. Eben, einen Film für jeden einzelnen Song zu drehen, und die Idee des Albums ins 21. Jahrhundert zu transportieren – eben auf unsere Weise. Außerdem war es das erste Cover der Bandgeschichte, auf dem wir selbst zu sehen waren. Und auf dem ich auch noch winke. Was man auf unterschiedliche Weise interpretieren kann. Aber ich würde sagen, es war ein "good-bye".

    Anders: Was sie in damals aber nicht weiter erörtert haben. Ihre Formulierung war: "Die Zukunft steht weit offen".

    Stipe: Und das tut sie ja auch. Wenn sie es noch weiter führen wollen, dann handelt "Discoverer", der erste Song auf dem Album, davon, wie ich mir als 19jähriger all die Möglichkeiten anschaue, die New York City als Stadt zu bieten hat. Eben die Freiheit, alles aus deinem Leben machen zu können, was du willst. Und der allerletzte Song endet mit Patti Smith – ehe er wieder in den ersten übergeht. Es ist also fast schon zu offensichtlich. Aber es ist nun mal ein Rock-Album und nicht der größte amerikanische Roman. Es ist, was es ist.

    Anders: Und das hat niemand erkannt?

    Stipe: Nein! Ich dachte es wäre zu offensichtlich. Aber wahrscheinlich war es das gar nicht – selbst, wenn ich es so empfunden habe.

    Anders: Gibt es Pläne für ein Abschiedskonzert oder etwas in der Art?

    Stipe: Nein, dazu wird es nicht kommen. Man sollte niemals nie sagen. Aber: Das hier ist kein Publicity-Stunt, der in fünf oder zehn Jahren zu einer Reunion oder Abschiedstour führt. Darum geht es nicht.

    Anders: Also ist PART LIES, PART HEART, PART TRUTH, PART GARBAGE so etwas wie ihr musikalisches Testament – mit 40 Songs und einem kryptischen Titel?

    Stipe: Der stammt von Peter – von wann auch immer. Jemand meinte zu ihm: "Beschreiben sie R.E.M.". Und da kam er auf diese Formulierung. Wobei das Ganze für mich so etwas wie unsere Version von "Changesone" von David Bowie ist. Eben eine Einführung in das Schaffen eines Künstlers, mit dem ich vorher nicht wirklich vertraut war. Ich war damals 16 und kannte von Bowie vielleicht einen Song.

    Als wir uns dann an die Zusammenstellung unserer eigenen Retrospektive gemacht haben, wollte ich einem Teenager im Jahr 2011 dieselbe Erfahrung ermöglichen. Eben einem 12- oder 13-Jährigen irgendwo auf der Welt, der vielleicht "Losing My Religion" als Fahrstuhlmusik oder als Hintergrundmusik aus dem Kaufhaus kennt. Aber der sonst keinerlei Beziehung dazu hat. Diesen Teenager wollte ich mit etwas versorgen, das ihn auf ähnliche Weise beeinflusst, wie "Changes One" das bei mir getan hat. Nämlich indem man ein Fenster zu einem Gesamtkunstwerk öffnet, das ziemlich umwerfend ist.

    Anders: Worauf sind sie im Hinblick auf R.E.M. besonders Stolz?

    Stipe: Einfach, dass wir alles auf unsere Art getan haben. Egal, welche Entscheidung wir auch getroffen haben – es war unsere. Das gilt für die Höhen wie für die Tiefen. Also auch für Dinge, die ich für schreckliche Fehler halte – wirklich peinlich. Wie die schlechteste Frisur der 80er – die ich auf der "Green"-Tour hatte. Einfach nur schlimm. Das waren sechs miserable Frisuren in einer. Was ein gutes Indiz dafür ist, in welchem geistigen Zustand ich mich damals befunden habe. Und welchen Grad der Erschöpfung wir erreicht hatten, weil wir Nonstop getourt sind und ein Jahrzehnt lang nur Alben aufgenommen haben. Das waren schreckliche Fehler.

    Anders: Und was haben sie in Zukunft vor? Wie sieht ihr Leben nach R.E.M. aus?

    Stipe: Ich habe nicht so sehr das Gefühl, das ich mich an einer Kreuzung meines Lebens befinde, sondern ich spüre vielmehr eine gewisse Freiheit. Und es herrscht auch kein Druck, diese Frage "was kommt als Nächstes?" zu beantworten. Denn ich weiß es nicht. Aber ich denke, dass ich es mir nach 31 Jahren R.E.M. verdient habe, einfach mal nichts zu tun, mich treiben zu lassen und in aller Ruhe herauszufinden, wie mein nächster Schritt aussieht.

    Anders: Wobei sie sich schon seit Jahren als Fotograf, Filmproduzent und Videokünstler betätigen. Als letzterer haben sie sich vor kurzem auf ihrer Homepage www.michaelstipe.com ausgezogen, was einen ziemlichen Proteststurm ausgelöst hat. Hat sie das amüsiert?

    Stipe: Oh, die "I´m Going To Bed"-Geschichte. Ja, ich war ziemlich geschmeichelt von den Reaktionen. Ich wusste, was ich da hochgeladen habe. Aber mir war nicht klar, was passieren würde. Denn wie es das Schicksal so will, hat sich das Video erst am Tag vor der Bekanntgabe unserer Trennung im Netz verbreitet. Aber: Das war ich. Und vielleicht lebe ich meine FKK-Fantasien einfach mehr aus als der durchschnittliche Amerikaner.

    Anders: Zudem stellen sie klobige Bronze-Objekte her, die Polaroidkameras, Minikassetten aus Anrufbeantwortern und Ähnliches darstellen. Was hat es damit auf sich?

    Stipe: Das ist ein Kommentar zur Kurzlebigkeit, den ich auf ein ziemlich absurdes Level geführt habe. Nämlich indem ich sage: Hier ist ein Gegenstand, der komplett überholt ist. Durch die Entwicklung der Digitalfotografie und die Technik ist er schlichtweg hinfällig geworden. Trotzdem stellen wir ihn ins Regal, um ihn auf sentimentale und nostalgische Art zu betrachten. Dabei war das ursprünglich einfach ein Apparat der Bilder aus unserem Leben festhalten sollte. Mehr nicht. Ich habe dann eines der frühesten Metalle genommen, die wir aus der Erde gewonnen haben. Denn die Idee ist: OK, die Welt kommt irgendwann zum Ende. Plastik wird zerstört, alle vergänglichen Dinge verschwinden, alle digitalen Dateien ebenfalls. Aber dieser Klumpen Bronze, der Objekte aus dem späten 20. Jahrhundert verkörpert, ist immer noch da. Das finde ich interessant.

    Anders: Und warum stehen ihre Werke nicht zum Verkauf?

    Stipe: Weil ich nicht weiß, was ich dafür nehmen sollte.

    Anders: Darf man fragen, wie Michael Stipe zur Occupy-Bewegung steht?

    IStipe: Ich stehe hundertprozentig dahinter. Auch wenn ich ja eher zu dem einen Prozent gehöre, das reich ist - weil ich sehr hart dafür gearbeitet habe. Aber ich zähle zu denjenigen in der Kategorie, die die anderen 99 Prozent unterstützen. Und ich bin stolz, das von mir zu sagen.

    Anders: Sollte es Gesetze geben, die Banken kontrollieren?

    Stipe: Absolut! Also, ich würde nie behaupten, dass ich mich in der Wirtschaft auskenne. Aber ich weiß, dass das Bankgewerbe eine Industrie ist, die auf Betrug und Korruption basiert. Und das ist momentan ausgeprägter, denn je. Es ist sehr unfair, was da in meinem Land passiert. Und ich finde die "Occupy Bewegung" allein deshalb aufregend, weil die Amerikaner zum ersten Mal seit meiner Kindheit, seit den 60ern, erkennen, dass sie eine Stimme zum Protest haben. Und zwar keine, die von jemandem kontrolliert und manipuliert wird. Sondern diese Bewegung kommt von Herzen. Da haben Menschen ihre Stimme gefunden und sie im Protest erhoben. Was es zu einem sehr wichtigen Moment in der Geschichte macht.

    Anders: Also denken sie, das Ganze könnte durchaus etwas bewirken?

    Stipe: Nun, es ist zumindest interessant zu beobachten, wo es hinführt. Und ich glaube sehr wohl, dass es wichtige Veränderungen bewirken kann.