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"Ich bin Weltbürger"

Am 5. Juli 1906 vor 100 Jahren wurde René König geboren. Der berühmte Kölner Soziologe kam in Magdeburg zur Welt. 1949 folgte er dem Ruf auf den renommierten Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Köln. René König war sein Leben lang ein polyglotter Mensch, der viele Sprachen beherrschte und gerne reiste. Der redegewaltige Querdenker hat die Soziologie mit zahlreichen Werken bereichert und ist dennoch heute ein fast vergessene Größe.

Von Anja Arp | 06.07.2006
    "Der Umstand, der für meine intellektuelle Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung war, ist zweifellos die Tatsache, dass ich als Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter über eine Grenze hinweg geboren worden bin. Für einen künftigen Soziologen ist das darum so entscheidend, weil er bei entsprechend zweiseitiger Erziehung von Anfang an instand gesetzt wird zu beurteilen, dass selbst in einer relativ einheitlichen Kultur wie der europäischen für gewisse elementare Lebensaufgaben durchaus mehrere Lösungen möglich sind. Diese sind weder besser noch schlechter, sondern einfach anders. "

    "Leben im Widerspruch" heißt denn auch seine Autobiografie. Das Wandern zwischen Kulturen mit all ihren Widersprüchen ist ihm quasi in die Wiege gelegt worden.

    "Ich bin Weltbürger. Ich gehöre der Welt, wem sonst? "

    Oliver König: "Mein Vater ist 1906 geboren. Und als ich zur Welt kam war er 45. In dieser Zeit war er schon ein ziemlich dicker Mann, ein bisschen kleiner als ich, also unter 1,80. Sehr vital, dunkelhaarig, lange Haare, für einen Professor in dieser Zeit eher unkonventionell - er war berühmt für seine Cordanzüge. Er war sehr Impuls-gesteuert, sehr stark auf Beziehung, sehr stark in der Rede, sehr raumgreifend auch. "
    Sohn Oliver ist in Vaters Fußstapfen getreten: Er hat ebenfalls Soziologe studiert und ist zusätzlich Psychotherapeut.

    Sein Vater René hatte eine bewegte Kindheit, bis die Familie Anfang des 1. Weltkrieges nach Halle an der Saale zieht.

    "Ich kam am Tag des Kriegsausbruch 1914 nach Deutschland und sprach kein Wort Deutsch. Ich habe Deutsch erst mit acht Jahren angefangen zu lernen. Das Ergebnis können sie deutlich in meinen Schulzeugnissen von damals nachlesen. Ich habe nicht einmal mangelhaft gehabt, sondern tadelnswert, das ist noch eine Nummer schlechter. "
    Dennoch macht René 1925 in Danzig Abitur und studiert anschließend orientalische Sprachwissenschaften und Psychologie in Wien.

    Oliver König: "Er ist aus dem Elternhaus raus als ein übermäßig selbstbewusster, eher konservativ denkender junger Mann, der in seinen Briefen an zu Hause immer darüber klagt, dass er kein Geld hat. Und ist dann in Berlin in den 20er Jahren in die dortige Bohème gekommen. "
    In Berlin studiert König Philosophie, Kulturwissenschaften und Ethnologie:

    "Ich habe auf der Straße gelernt, denn ich sah ein neues Leben. Die Weimarer Republik war nur lebendig in Berlin. In der Provinz dachte man noch stramm kaiserlich und deutsch-national. Aber eine aufgeschlossene und demokratische Massengesellschaft, das gab es als Realität nur in Berlin. Das war das Neue: Film, Theater, das experimentelle Theater bis hin in die Bars, die Cabarets, das hat uns enorm beeinflusst und gelockert in einer ungeahnten Weise. Das war ein neues Leben. "

    Oliver König: "Er hat das einerseits genutzt, um zu brechen mit dem Herkunftsmilieu, hat aber gleichzeitig auch das Zerbrechen dieser Bohème sehr aufmerksam gesehen und hat wohl selber so das Gefühl entwickelt, davongekommen zu sein. "

    In Berlin vollzieht René König die Wende vom Bildungsbürger zum links-liberalen Weltbürger. Sein besonderes Interesse gilt dem französischen Soziologen Emile Durkheim, über den er auch habilitieren möchte. Doch es kommt anders. Die Nazis verbieten sein Buch "Vom Wesen der deutschen Universität". Seine Karriere steckt fest, auch wenn er nicht zu den politisch Verfolgten zählt. Nach einigem Zögern emigriert König in die Schweiz:

    "Es gibt einen Spruch: Einmal Emigrant, immer Emigrant. Das ist richtig. Man muss sich einmal entschließen völlig herauszugehen aus den Verhältnissen in denen man gewesen ist. Wenn man das kann, dann ist man nicht mehr derselbe, dann ist man überall auf Abbruch. "
    1937 nimmt die Universität in Zürich den deutschen Soziologen auf. Er habilitiert dort ein Jahr später und stürzt sich in die Arbeit. In der Schweiz legt er den Grundstein seiner objektiven Soziologie, einer Mischung aus empirischer Forschung und theoretischer Analyse. Heute würde man sagen, er ist ein Vertreter der qualitativen Sozialforschung.

    "Die wichtigste Aufgabe der Soziologie ist, möglichst vielen Menschen Einblick zu geben, in die Strukturen der Gesellschaft in der sie leben und in die Mechanismen, nach denen sie selbst reagieren, damit sie sich selbst besser verstehen lernen. "

    Seine Devise: Soziologie soll Orientierung sein, aber ohne ideologisches Korsett. König ist ein Anhänger der empirischen Sozialforschung, was seine Schweizer Schüler ungern zu spüren bekommen. 1947 bietet man ihm zwar eine Honorarprofessur an, allerdings gehaltsneutral.

    Oliver König: "Er selber hat nie eine harsche Kritik aufkommen lassen, vielleicht auch einfach aus der Dankbarkeit heraus, dass trotz aller widriger Umstände er in der Schweiz überlebt hat, während viele seiner Freunde in Deutschland nicht überlebt haben. "
    1949 kommt dann der Ruf auf den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Köln. König war die Emigration schwer gefallen, mit der Rückkehr war es ebenso. Doch inzwischen hatte er geheiratet und einen Sohn bekommen.
    Die junge Familie musste schließlich ernährt werden.

    Oliver König: "Als er sich dann letztendlich 53 entschieden hatte nach Köln zu gehen und wir auch als Familie hier hingezogen sind, hat er sich in einer unvergleichlichen Arbeitswut auf die Möglichkeiten gestürzt, die ihm Köln auch bot. Das war ein Lehrstuhl, ein Institut, mit das älteste soziologische Institut und die älteste soziologische Zeitschrift in der Bundesrepublik, die er 1955 von Wiese übernommen hat. Damit hatte er eine ungemein mächtige und einflussreiche Gestaltungsposition für die deutsche Soziologie in der Nachkriegszeit und die hat er dann unglaublich genutzt."
    René König geht mit großem Elan an die Arbeit. Er schreibt das legendäre "Fischer-Lexikon der Soziologie", das zu einem Bestseller wird. Er ist ein zentraler Motor der Soziologie in Deutschland und arbeitet in zahlreichen Gremien mit. Seine Publikationen füllen mehrere Regalbretter. Er will den Mechanismen einer hochkomplexen Industriegesellschaft auf die Spur kommen. Dabei setzt er auf die empirische Sozialforschung und die Psychologie.

    "Diesen Positivismus für den man mich manchmal verantwortlich macht, habe ich nie geteilt. Und wer das sagt, der hat nie eine Zeile von mir gelesen. Außerdem ist der moderne Positivismus etwas ganz anderes als der französische, aus dem ich komme. Bei Auguste Comte heißt es: Positivisme c´ést action – Positivismus heißt Handlung, ist also nicht Scientismus als eine Vertrocknung im technischen und methodologischen Problem, sondern genau umgekehrt, ist Reform, ist sogar gelegentlich Revolution. Allerdings mit rationalen Maßstäben."
    Toleranz, Menschenwürde und Respekt vor dem Fremden, sind seine Ideale. Sein Interesse gilt den Menschen und ihren Beziehungen. Das spiegelt sich auch in seinen Forschungsthemen: die Familie, die lokale Gemeinde, informelle Gruppen und ethnische Gemeinschaften. Neben der Forschung hängt sein Herz aber auch an der Lehre:

    Oliver König: "Er war ein sehr lebendiger und charismatischer Lehrer. Er hat nie verlangt, dass die Leute irgendeiner Richtung folgen müssen. Es gibt in dem Sinne eigentlich keine Schule, sondern es gibt nur Schüler, von denen manche interessant sind und von denen andere furchtbare Fachidioten geworden sind."
    Als René König 1992 im Alter von 85 Jahren stirbt, hinterlässt er ein umfangreiches Werk – aber nicht die Theorie.
    Vielleicht ist er deshalb aus der Soziologie heute fast verschwunden. Angesichts der Herausforderungen einer globalen Welt ist seine aufgeschlossene Grundhaltung allerdings überaus modern:

    "Ich bin Weltbürger. Ich gehöre der Welt, wem sonst?"