Freitag, 19. April 2024

Archiv


ich brech dir das reimbein, dein satz wird hinken

Konkurrenz belebe das Geschäft, heißt es immer wieder. Rundfunksender kämpfen um Einschaltquoten, Zeitungen um Leser, Sportler um Medaillen, Politiker um Wählerstimmen und Unternehmen um Absatzmärkte - doch was ist mit den Dichtern?

Von Sascha Verlan und Almut Schnerring | 31.07.2004
    Theodor W. Adorno hat sich dazu eindeutig geäußert: "Wenn literarische Stile, Intentionen, Werke noch ernsthaft etwas wollen, muss zwischen ihnen Krieg walten." Durs Grünbein gegen Robert Gernhardt, Günter Grass gegen Peter Handke, Benjamin von Stuckrath-Barre gegen Feridun Zaimoglu? Die verstehen sich vielleicht nicht besonders, aber Krieg? Ernsthafte und erbitterte Konkurrenz um Inhalte und Positionen? Bedeutet das nun, dass die zeitgenössische deutsche Literatur nicht mehr ernsthaft etwas will, weil sie sich eingerichtet hat in den Verhältnissen, jeder sein Auskommen hat und seine Bestätigung? Oder ist dieser Umkehrschluss unzulässig?

    Dann andersherum gefragt: Was wollen die Rapper und Slam Poeten, die den Sängerkrieg offen auf der Bühne zelebrieren, Konkurrenz öffentlich ausleben und zu ihrem dichterischen Prinzip erkoren haben? Masche oder ernsthafte Suche nach neuen Wegen und literarischen Antworten? Ist, was hier entsteht, womöglich die wirkliche, die eigentliche Literatur, eine Literatur, die noch ernsthaft etwas will?

    Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es Sängerkriege, den öffentlich ausgetragenen Dichterstreit, zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab: Tiroler Gstanzln, bukolische Dichtung, der Agon in der antiken griechischen Kultur, Versduelle der Inuit, Reimwettkämpfe in Arabien, in Südamerika, die westafrikanischen Griots, Volkslieder aus China, Europa, der Sängerkrieg auf der Wartburg. Aristophanes, Heinrich von Ofterdingen, Edmond Rostand, Richard Wagner, James Krüss. Und nicht zu vergessen die Reim- und Versduelle der Kinder.
    Die Lange Nacht vom Sängerkrieg geht diesen Spuren dichterischer Auseinandersetzung nach. Was sind die Waffen der Dichter? Welche Regeln gelten? Wer entscheidet über Sieg und Niederlage? Wie kommt es überhaupt zu einem Sängerkrieg? Welche Auswirkungen hat so ein Dichterstreit? Ist der Sängerkrieg gar das alle Kulturen Verbindende, das wahrhaft Menschliche an der Literatur?

    Und am Ende steht dann wieder die Frage: Gelten für die Literatur die Gesetze der freien Wirtschaft? Sind Konkurrenz und das freimütige Bekenntnis zur Konkurrenz Voraussetzung und Notwendigkeit für ein Fortschreiten der Künste? "Reden ist Kampf", schrieb der französische Philosoph Jean-François Lyotard, "wenn auch in einem spielerischen Sinne". Und "um es endlich (mit Friedrich Schiller) auf einmal heraus zu sagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". Denn bei allem notwendigen Ernst im Ansatz, in den Fragen ans Thema, innerhalb der Sängerkriege allemal … das Spiel, es möge beginnen.
    Sascha Verlan
    Linguist - Rapper und Dichter

    Fiva MC: fiva & radrum

    Alfred Liede:
    Dichtung als Spiel.
    de Gruyter, Berlin 1992
    Hubertus Fischer (Hrsg.):
    Die Kunst der Infamie.
    Peter Lang, Frankfurt am Main 2003

    Stephan Krass:
    Tropen im Tau - Permutation.
    Anagrammgedichte. Elfenbein, Berlin 2002

    Alex Dreppec:
    Die Doppelmoral des Devoten Despoten.
    Ein Slam-Poetry-Alphabet. Eremiten-Presse, Düsseldorf 2003

    Jens Sparschuh:
    Waldwärts.
    Ein Reiseroman von A bis Z erlogen. Edition Büchergilde
    Frankfurt am Main 2004

    Jannis Androutsopoulos:
    HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken.
    transcript, Bielefeld 2003

    Krüss, James:
    Der Sängerkrieg der Heidehasen.
    Mit Notensatz. Carlsen Taschenbücher Bd.137. 2002. -CARLSEN-

    Heinrich Heine - Die Minnesänger

    Zu dem Wettgesange schreiten
    Minnesänger jetzt herbei;
    Ei, das gibt ein seltsam Streiten,
    Ein gar seltsames Turnei!
    Phantasie, die schäumend wilde,
    Ist des Minnesängers Pferd,
    Und die Kunst dient ihm zum Schilde,
    Und das Wort, das ist sein Schwert.
    Hübsche Damen schauen munter
    Vom beteppichten Balkon,
    Doch die rechte ist nicht drunter
    Mit der rechten Lorbeerkron.
    Andre Leute, wenn sie springen
    In die Schranken, sind gesund;
    Doch wir Minnesänger bringen
    Dort schon mit die Todeswund.
    Und wem dort am besten dringet
    Liederblut aus Herzensgrund,
    Der ist Sieger, der erringet
    Bestes Lob aus schönstem Mund.

    Heinrich Hoffmann von Fallersleben - Der Kuckuck und der Esel

    … das klang so schön und lieblich,
    so schön von fern und nah
    Sie sangen alle beide, sie sangen alle beide
    Kuckuck kuckuck iahh, kuckuck kuckuck iahhh

    Heinrich Hoffmann von Fallersleben - Der Kuckuck und der Esel

    Wartburgkrieg - Sängerkrieg auf der Wartburg
    Auszug aus dem Manuskript:
    Auch das ein Sängerkrieg: im Hades gibt es eben nur einen Ehrenplatz für den jeweils besten seiner Zunft. Und den Ehrensitz der Tragödiendichter hatte Aischylos inne, unangefochten. Als nun aber Euripides nach seinem Tod in den Hades kommt, ist es vorbei mit der Eintracht. Selbstbewusst fordert er seinen Platz, den Ehrensitz, den Aischylos, versteht sich, nicht lassen will. Und Dionysos, der Gott des Theaters und des Weines trägt seinen Teil dazu bei, dass aus diesem Spektakel großes Theater wird.

    Euripides: Erst tut er feierlich, so wie er stets
    In seinen Stücken grandios sich spreizt!
    Dionysos: Hör, seltsamer Mann, nimm nicht den Mund
    zu voll!
    Euripides: Ich kenn ihn, ich durchschaut ihn längst, den
    Schöpfer
    Der Ungeheuer, den Posaunenmund,
    Unbändig reißend ohne Zaum und Zügel,
    Aufsprudelnd, wortgebälkverklammrungskundig!
    Aischylos: Ha, Sohn der Göttin vom - Gemüsemarkt
    Mir das von dir, du Bühnenlumpensammler,
    Du Bettelbrutaushecker, Fetzenstückler,
    Dein Wort soll dich verderben!
    Dionysos: Aischylos,
    Hör auf, erhitze dir die Galle nicht!
    Aischylos: Nein, nein, entlarven will ich erst den Vater
    Der Krüppelhelden, der so frech mir trotzt!
    Aristophanes - Die Frösche

    Es scheint den Dichtern zu allen Zeiten eine besondere Freude bereitet zu haben, möglichst berühmte Kontrahenten im Dichterstreit aufeinander zu hetzen: sei es im Sängerkrieg auf der Wartburg, wo Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und einige andere Dichterfürsten der Zeit gegen Heinrich von Ofterdingen in den Ring geschickt werden, seien es die Frösche von Aristophanes mit Aischylos und Euripides …
    Aristophanes:
    Die Frösche.
    Komödie. Übertr. u. hrsg. v. Heinz Heubner. Reclam Universal-Bibliothek Nr.1154.
    -RECLAM, DITZINGEN-

    Jeux Vocaux des Inuit - Inuit Throat-Singing
    Auszug aus dem Manuskript:
    Wenn zwei Männer sich entzweit hatten, meistens einer Frau wegen, oder wenn eine ungesühnte Blutschuld zwischen ihnen stand, konnte eine Affäre, bei der es um Leben und Tod ging, durch einen Sängerkampf entschieden werden. Zwei Feinde, die sich jahrelang aus dem Wege gegangen waren, die nie miteinander sprachen, und die, traditioneller Verpflichtungen zufolge, sich eine Harpune in den Leib rennen mussten, wenn sie sich auf dem Meere begegneten, versammelten Freunde und Bekannte als Zeugen und hielten so ihre Abrechnung.

    Der Kampf ging auf die Weise vor sich, dass die Feinde inmitten der Zuhörer voreinander Aufstellung nahmen, im Winter im Wohnhause, im Sommer in einem Tal. Der Herausforderer hatte das erste Wort, und es war seine Aufgabe, bei Trommelschlag ein Spottlied von dem Gegner zu singen:

    Worte will ich spalten
    Kleine scharfe Worte
    Wie Holzsplitter, die ich
    Mit meiner Axt zerhacke
    Ein Lied aus alten Zeiten
    Ein Atemhauch der Ahnen
    Meiner Frau ein Sehnsuchtslied
    Ein Lied, das Vergessen bringt
    Ein frecher Schwätzer hat sie geraubt
    Hat sie zu erniedrigen versucht
    Ein Elender, der Menschenfleisch liebt
    Ein Kannibale aus Hungerszeiten.
    Frechheit, die in Erstaunen setzt
    Wut und Mut zum Lachen
    Ein Spottlied
    Das die Schuld mir geben will
    Schreck willst du mir einjagen
    Mir, der ich gleichmütig dem Tode trotze
    Hei - du besingst meine Frau
    Die einst war die Deine
    Damals warst du nicht so liebenswert
    Während allein sie war
    Vergaßest du, durch Gesang sie zu preisen
    Durch herausfordernden Kampfgesang
    Jetzt ist sie mein
    Und nimmer sollen sie besuchen singende, falsche Liebhaber
    Frauenverführer
    Im fremden Zelt

    Wer seinem Gegner so zusetzte, dass er die Lacher auf seiner Seite hatte, wurde mit Beifallsgeschrei zum Sieger erkoren. Wenn später alles entschieden war, vergaß man alte Zwietracht, und ehemalige Feinde wurde häufig die besten Freunde, die sich gegenseitig beschenkten.
    Rasmussen, Knud:
    Der Sängerkrieg.
    Eskimosagen aus Grönland. Nachdr. d. Ausg. v. 1922. Aufl. 2001.
    -ZERLING-

    Sängerkrieg – Zitate aus der Langen Nacht:
    Hubertus Fischer: "Ich würde durchaus annehmen, dass unser Begriff der Fiktion immer ein bisschen daneben liegt. Jede Fiktion lebt ja doch von ganz bestimmten Wirklichkeiten, und ich denke auch, dass dem Sängerkrieg, dem legendären Sängerkrieg und natürlich in jeder Hinsicht auch mythischen Sängerkrieg, dass ihm aber vorausgegangen sind Formen, sagen wir mal, der Agonalität zwischen einzelnen Dichtern die dann also gleichsam verdichtet worden sind in dieser Sängerkriegsszenerie."

    Sebastian Neumeister: "Wir müssten also vielleicht unterscheiden zwischen einem Sängerstreit auf der Wartburg als einem echten Konkurrenzverfahren, so wie wir das in der modernen Hitparade oder bei dem Eurovisionspreis oder wie der heißt, haben und dieser viel geselligeren Form der Streitgedichte, in der es darum geht, einer Spielregel gerecht zu werden unter Zurückstellung der eigenen Karrierewünsche oder der Möglichkeit zum Besten aller Troubadours erklärt zu werden, dazu waren die Verhältnisse auch viel zu klein. Also Spiel gegen Wettstreit, wobei die Grenzen fließend sind, weil Spiel ist ja auch Wettstreit und Wettstreit ist auch Spiel."

    Neumeister, Sebastian:
    Literarische Wegzeichen.
    Vom Minnesang zur Generation X. Hrsg. aus Anlaß d. 65. Geburtstags v. Sebastian Neumeister v. Roger Friedlein, Sabine
    Greiner u. Annett Volmer.. Germanisch-romanische Monatsschrift Beih.18. 2004.
    -UNIVERSITÄTSVERLAG WINTER-

    Kofi Yakpo: "Es gibt Berichte, wie zum Beispiel Professoren,
    Ethnologieprofessoren in Jugoslawien, da gibt 's auch 'ne gute alte Minnesängertradition, die gusla-Sänger, hießen die, die sind auch durchs Land gezogen, durchs alte Jugoslawien gezogen und haben auf Hochzeiten und in Cafés gespielt und haben auch gefreestylet, improvisiert und alte Songs, die schon jahrhundertelang existierten, wieder neu aufgearbeitet und solche Sachen. Und auch die guslas, da gibt 's 'ne Anekdote, dass ein Ethnologieprofessor, der diese Songs sammeln wollte, in einem Café saß und drei von diesen Barden haben vorgesungen, und er hat es aufgenommen, und er hat allen die gleiche Summe von Geld gegeben. Und der eine hat es kategorisch abgelehnt, hat gesagt, auf keinen Fall."

    Dreppec, Alex:
    Die Doppelmoral des Devoten Despoten.
    Ein Slam-Poetry Alphabet. Bilder v. Sonja Burri. Broschur Bd.203. 2003.
    -EREMITEN-PRESSE-

    Jens Sparschuh: "Kraniche des Ibykus, Schiller, schönes Gedicht, aber das mein ich gar nicht, ich meine die Bürgschaft, jetzt mal klassische Bildung … wir kennen dieses Gedicht, diese Ballade, wo der Freund als Pfand dableiben muss, und ich erinnere mich nämlich noch ganz genau, es gibt auf dem Rückweg drei Fährnisse, Räuberbande, der entkommt er, reißender Strom, schafft er gerade so, und das dritte, was ihn fast hindert, pünktlich anzukommen, um die Rübe des Freundes zu retten, ist die eigene Müdigkeit, also von der Steigerung her die höchste Sache, die uns hindern kann, ist die eigene Müdigkeit, das eigene Versagen."

    Sparschuh, Jens:
    Waldwärts.
    Eine Reiseroman von A bis Z erlogen. 2004.
    -EDITION BÜCHERGILDE-
    Richard Wagner - Tannhäuser

    G'horsamster Diener, es freut mich meine hochgelehrten Herren!
    Es ist heut Sängerkampf, 's wird auch gesungen werden.
    Preisrichter seid ihr bei dem Spiel der Lieder,
    Drum setzt euch hier auf diese Stockerln nieder
    Ihr Sänger, durch Apollo groß,
    Lasst jetzt die schönsten Lieder los.
    Machts mit der Stimm nur keinen Gix
    Am Text, o mein! da liegt ja nix. -
    Und wenn bei einem von euch, ihr Herrn
    Die Tön schon etwas wacklet wern,
    So helft euch, Philomelerer
    Und nehmt das Tempo schnellerer
    Dass ich das Tremuliern nicht hör,
    Sonst kriegts ös keinen Preis auf Ehr!
    Nehmt eure Harfen jetzt und tut vor allen Dingen
    Aus vollem Hals die Liebe mir besingen.
    Den Preis mag ungeniert der Sänger fordern
    Ich werde diese hier (zeigt auf Elisabeth) dazu beordern
    Dass sie - das wird die andern alle fuchsen -
    den Singsangsieger heirat' ohne Muxen.
    Und weil die G'schicht langweilig werden kann,
    so fangen wir gleich bei dem letzten an.
    Wolfram von Dreschenbach! Beginne!

    Lyrik Zwei
    4 Audio-CDs:
    Gelesen von den Autoren. Live-Mitschnitt. 207 Min.. Mit Timo Brunke, Durs Grünbein, Andi Strickland u. a.. 2002.
    -DHV DER HÖRVERLAG-
    Krass, Stephan:
    Tropen im Tau, Permutation.
    Anagrammgedichte. 2. Aufl. 2003.
    -ELFENBEIN-
    Verlan, Sascha:
    French Connection.
    HipHop-Dialoge zwischen Frankreich und Deutschland. 2003.
    -HANNIBAL-
    Verlan, Sascha; Loh, Hannes:
    20 Jahre HipHop in Deutschland.
    1989-2000. 2000.
    -HANNIBAL-