Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Ich empfinde keinen Hass auf die Franzosen"

Die namenlose Protagonistin in "Ausgeblendet" trifft auf alte Franzosen, die im Algerienkrieg Dienst hatten. Ihr Vater hingegen, Algerierfranzose, war eines der Folteropfer in diesem Krieg. Das Buch weist deutliche Bezüge zur Biografie der Autorin Maïssa Bey auf.

Von Kersten Knipp | 23.08.2012
    Eine Zugfahrt nach Marseille wird eine Reise zur Wahrheit über den Algerienkrieg. Im Abteil konfrontiert sind ein älterer Franzose, eine Algerierin, die wegen des Bürgerkriegs in ihrer Heimat in Frankreich lebt, und ein junges Mädchen, Tochter von Algerienfranzosen, die ihr gegenüber den Unabhängigkeitskrieg stets totschwiegen. Die Gespräche führen zurück ins Jahr 1957. Der Vater der Algerierin stirbt unter der Folter der Franzosen. Der ältere Herr dient als Rekrut am Ort dieser Grausamkeiten. Man hatte das alles ausgeblendet. Aber die Tatsachen sind stärker, werden bedrängend. Ein Bericht von höchster Intensität, frei von Rachegedanken. Das Buch ist ein wichtiges Dokument humaner Gesinnung.

    Wie mögen solche Männer aussehen? Gibt es irgendein körperliches Detail, eine kleine Auffälligkeit, irgendein Merkmal, das verrät, wie brutal sie sind? Ein Anzeichen, irgendein physischer Hinweis darauf, dass sie vor nichts zurückschrecken, vor dem Schrecken keine Furcht haben und auch nicht davor, anderen Menschen entsetzliche Qualen zuzufügen? Wie also mögen Männer aussehen, die nichts dabei finden, andere Männer - und gelegentlich auch Frauen - über Stunden und Tage zu quälen, solange, bis diese äußern, was sie, die Folterer, hören wollen? Die namenlose Frau im Zentrum von Maïssa Beys kurzem Roman "Ausgeblendet" wird darauf keine Antwort erhalten. Aber sie trifft einen Menschen aus dem Umfeld dieser Folterer, einen alten Franzosen, der im Algerienkrieg Dienst hat, in der Nähe der Ortschaft Boghari, gut 150 Kilometer südlich von Algier. Hier wurde der Vater dieser Frau, ein algerischer Widerstandskämpfer, von den Franzosen gefoltert und getötet - eine Geschichte, die deutliche Bezüge auf die Vergangenheit von Maïssa Bey selber hat.

    "Mein Vater ist tot, weil er Anführer des FLN, der algerischen Befreiungsbewegung, war. Er wurde verraten. Eines Tages kamen wir von der Schule nach Hause und erfuhren, dass er unter der Folter der Franzosen gestorben war. Er war 48 Stunden lang gefoltert worden. Bevor er starb, sagte er meiner Mutter, sie solle nicht verzweifeln, denn er glaube an die französische Gerechtigkeit. Er glaubte, sein Fall würde untersucht werden, seine Peiniger kämen vor Gericht und würden dann verurteilt. Nichts von dem ist geschehen. Das Ganze war um so bitterer, als man behauptete, er sei auf der Flucht erschossen worden. Mir selbst hat dieser Vorfall dann aber die Augen für die Welt geöffnet, in der ich damals lebte."

    Eine Welt, die die Erinnerung okkupiert, die der Opfer und Täter gleichermaßen. Rund 40 Jahre nach der algerischen Unabhängigkeit - der Roman spielt zu Beginn des neuen Jahrtausends - sitzen sich in einem Nachtzug nach Marseille die vor dem in ihrer Heimat tobendem Bürgerkrieg geflohene Algerierin und ein alter Franzose gegenüber. Keiner kennt die Biografie des anderen. Die Algerierin ist als solche durch ihren dunklen Teint zu erkennen, was den Franzosen schließlich animiert, sie anzusprechen. Ganz langsam entwickelt sich das Gespräch, setzen sich Ungesagtes, Angedeutetes und schließlich offen Ausgesprochenes zu einer erschreckenden Erkenntnis zusammen: dass nämlich der alte Franzose als Arzt just in jener Kaserne Dienst tat, in der der Vater der Algerierin 1955 ermordet wurde. Kunstvoll inszeniert Bey die Sprachlosigkeit der beiden Protagonisten, ihre Mühe, Worte zu finden für den Schrecken der damaligen Zeit: einen Schrecken, der zum Hass einlud - eine Versuchung, der sich Bey nur mit einiger Disziplin widersetzen konnte.

    "Es wäre sehr leicht für mich gewesen, in Hass zu verfallen - in den Hass auf den Anderen, den Hass auf Frankreich, das Land, das mir meinen Vater geraubt und mich zu einer Waise gemacht hatte. Eine Waise zu sein, ist sehr schwierig in Algerien, weil es fast immer auch mit einem sozialen Abstieg verbunden ist. Und doch sage ich, Aragon folgend: Ich empfinde keinen Hass auf die Franzosen. Aragon hatte das während des Zweiten Weltkriegs über die Deutschen gesagt. Ja, man könnte in Hass verfallen. Ich aber habe mich auf die Literatur verlegt und mich in das verliebt, was die Schönheit der französischen Kultur ausmacht."

    Schweigen, Verdrängen, Bagatellisieren - das waren die Techniken, mit deren Hilfe die Franzosen über Jahrzehnte die koloniale Vergangenheit entsorgten. "Ausgeblendet" - schon der Titel der Romans verweist auf diesen Versuch kollektiver Amnesie, der doch nicht gelingt. Und so entwickelt die sich anbahnende Unterhaltung eine doppelte Ebene: die einfache, scheinbar eindeutige der Worte - und die der durch sie verborgenen Empfindungen, des Entsetzens, das sich unter ihnen zu verbergen sucht, der Schmerz der Algerierin und die Scham des Franzosen - Regungen, die sie beide nicht zeigen wollen, die sich eine Weile beherrschen lassen, dann aber durchbrechen, in Form heftiger Anschuldigungen einerseits und hilflose Versuche andererseits, die Verbrechen durch die Umstände zu entschuldigen, durch den bis heute in allen Fällen von Staatsterrorismus gebräuchlichen Verweis darauf, man habe es mit unberechenbaren und terroristischen Menschen zu tun. Einzig Marie nähert sich der Vergangenheit relativ unbefangen. Sie ist die dritte Person dieses kammerspielartig angelegten Romans: eine junge, sehr junge Frau, gerade an der Schwelle zum Erwachsenenalter und darum der Gnade der späten Geburt teilhaftig. Eine Gnade, die ihr ihre Sprache schenkt, die Bereitschaft - und, kaum weniger wichtig: die Fähigkeit - unbefangen hinzuschauen und zu fragen. Sie, die eigentlich mit dem Krieg nichts zu tun hat, will wissen, was geschehen ist und auch, warum ihre beiden Gesprächspartner so versteinert sind. Maïssa Bey versteht es, Maries Unbefangenheit in all ihrer Ambivalenz aufzuzeigen: Einerseits spiegelt sich in ihrer Haltung umso deutlicher die Befangenheit der beiden anderen, älteren Gesprächspartner, die auf immer in ihren Erfahrungen gefangen sind, die nicht los zu können von einer Geschichte, die stärker ist als sie selbst, verbunden mit Erinnerungen, die sich Opfer und Tätern wie eine Tätowierung eingebrannt haben. So verstanden sind sie das vollständige Gegenteil zu Marie, die furchtlos und ganz und gar unbefangen, dafür aber auch naiv durch das Leben geht. Andererseits ist diese Naivität aber auch eine gute Voraussetzung für einen Neuanfang, ein neues Kapitel der französisch-algerischen Beziehungen, ein Kapitel, das die Vergangenheit hinter sich lässt und in die Zukunft führt. Genau das stellt sich auch Maïssa Bey selber vor:

    "Heute glauben viele Menschen, dass Frankreich weiterhin das Recht hat, ein besonderes Auge auf Algerien zu werfen. Andere denken, dass Frankreich Algerien einfach aufgegeben hat. Darüber wird heute viel diskutiert. Mir scheint, Frankreich hat seine eigene Geschichte mit diesem Krieg, die es noch nicht aufgearbeitet hat. Erst in den letzten zehn Jahren hat man in Frankreich für diese Ereignisse eine Sprache gefunden. Seitdem erscheinen in Frankreich Bücher über den Krieg, auch über die Tortur. Frankreich klebt noch an dieser Schuld, die es in Algerien auf sich geladen hat. Frankreich und Algerien sind durch die Geschichte unauflöslich aneinander gebunden. Aber jedes Land führt sein eigenes Leben, und es besteht kein Grund, die Vergangenheit umzuschreiben. Vor allem darf man ihr nicht erlauben, die Beziehungen zu belasten, die wir heute haben."

    Maïssa Bey hat einen subtilen Roman geschrieben, ein Sprachkunstwerk über die ausgesprochenen wie auch verschwiegenen Erinnerungen an eine politische Katastrophe, an einen Krieg, der von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt wurde, und der auch 50 Jahre nach seinem Ende - 50 Jahre auch, die die Unabhängigkeit Algeriens jetzt schon währt - nicht vergangen scheint. Warum das so ist, welche Wunden dieser Krieg geschlagen hat und warum diese so schlecht heilen, das zeigt dieser kurze, große Roman in bedrückender, aber durchaus auch eleganter Intensität.

    Maïssa Bey:
    Ausgeblendet". Aus dem Französischen von Christine Belakhdar. Verlag Donata Kinzelbach, 87 S., 16 Euro