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Ich flehe um Hinrichtung. Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten

1992 stellte Boris Jelzin eine Kommission zusammen, die ihn bei schwerwiegenden Urteilen über Leben und Tod sowie bei lebenslänglichen Strafen beraten sollte. Sie hatte den Auftrag, ein Korrektiv zur Justizpraxis Rußlands zu bilden und wurde deshalb vor allem mit Personen des öffentlichen Lebens, mit Schriftstellern, Künstlern und Ärzten, kaum mit Juristen, besetzt. Den Vorsitz übernahm der Schriftsteller Anatoli Pristawkin, der sich seit den Tagen von Glasnost und Perestroika einen Namen als moralische öffentliche Instanz gemacht hatte. In der Kommission arbeitete auch der Liedermacher und Lyriker Bulat Okudshawa mit. Fast zehn Jahre lang bearbeitete das Gremium Fälle, über die die Justiz ihr Urteil bereits gesprochen hatte und gab an den Präsidenten ihre Empfehlungen weiter, wie er verfahren und gegebenenfalls von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch machen könnte. Die Kommission hatte in ihrer Arbeit häufig mit versteckten Drohungen und offenen Anfeindungen durch eine reaktionäre Bürokratie und Presse zu tun. Öfters erregte sie auch den Unmut des Präsidenten, konnte jedoch anfangs auch unter dem neuen Staatsoberhaupt Putin weiterarbeiten. Erst Ende 2001 wurde sie aufgelöst: regionale Komitees sollen nun die Arbeit übernehmen und Anatoli Pristawkin ist ihr Berater.

Wilfried F. Schoeller | 04.05.2003
    Unter dem Titel Im Tal des Todesschattens hat er eine dreibändige Dokumentation dieser Kommissionsarbeit vorgelegt. Aus diesem Material hat der deutsche Verlag in Zusammenarbeit mit dem Autor eine eindrucksvolle einbändige Auswahl herausgelöst. Das von Renate und Thomas Reschke übersetzte Buch "Ich flehe um Hinrichtung" gehört zu den eindrucksvollsten Berichten der nachsowjetischen Zeit. Es schließt an die Gulag-Erzählungen von Warlam Schalamov und Alexander Solschenizyn an, obwohl es sich nicht auf sie, sondern auf Andrej Sacharow bezieht. Das Thema ist größer als sein Titel suggeriert; bereits im Vorwort des Buches wird es benannt: Klage um Rußland.

    Es handelt nicht nur von Häftlingen, von Menschen in der Todeszelle. Es handelt letztlich von uns allen, die wir eingesperrt sind in das kriminelle Straflager, das Rußland heißt.

    Die Menschen, mit denen die Begnadigungskommission umgegangen ist, verbreiten noch aus großer Entfernung Schrecken; sie sind Diebe im besten Falle, aber meistens Räuber, Vergewaltiger und Mörder, "der Abschaum der Gesellschaft". Es sind Dokumente aus dem kriminellen Volk, die hier versammelt sind:

    "Was sind wir denn nun? Mißgeburten, Unmenschen, wahnsinniger Pöbel, gefangen in hemmungslosem Suff und unentwegten Verbrechen?

    Es handelt sich um Fälle, bei denen das Fassungsvermögen oft streiken will, an den Ereignissen abgleitet, keinen Ansatz zum Begreifen findet. Man kann das Buch nicht in einem Zug durchlesen, dazu ist das versammelte Material zu schlimm. Man muß es immer wieder weglegen, um sich zu sammeln. Der Eröffnungsfall: Zwei betrunkene junge Kerle bedrängen ein Mädchen an einer Bushaltestelle, wollen es vergewaltigen. Die junge Frau flieht in eine Hütte, wird von den Unholden aufgegriffen, sie will sich selbst mit einem Messer töten, wird bewußtlos. Als sie wieder zu sich kommt, heben sie in ihrem Beisein ein Grab aus, vergewaltigen sie, hauen mit dem Messer auf sie ein, werfen sie, noch lebend, in die Grube, schütten Erde drüber und trampeln darauf herum, bis sie sich nicht mehr rührt. Am nächsten Tag kommen sie wieder, zünden die Leiche mit Benzin an und verbuddeln die Reste.

    Die Mitglieder der Begnadigungskommission waren gehalten, die Wahrheit in den Sätzen der Aussagen und Gerichtsakten zu finden, aber was mag man angesichts eines solchen Falls mit dem Wort "Wahrheit" anfangen? Kein Anzeichen von Reue findet sich im dem Bericht des einen Täters, der um Begnadigung bittet. Die Todesstrafe wird in lebenslänglich umgewandelt, aber nicht alle Mitglieder der Kommission stimmten dafür. Es gibt in diesem Nachtbuch der menschlichen Existenzen geradezu Monster an Gewaltlust, zum Beispiel den Triebtäter Tschikatilo - einer der unfaßbaren Serienmörder des abgelaufenen Jahrhunderts, der 1992 zur Todesstrafe verurteilt worden ist. Er kam vor Gericht

    für unzüchtige Handlungen an Minderjährigen, für vorsätzliche Tötung von 17 Jungen im Alter von acht bis 16 Jahren, von zehn Mädchen im Alter von neun bis 17 Jahren und von 16 jungen Frauen. Die Morde wurden aus sexuellen Motiven verübt, im Gebiet Rostow und anderen Gebieten der Russischen Föderation, in der Ukraine und in Usbekistan. Zwischen 1978 und 1990 lockte Tschikatilo Kinder und Halbwüchsige beiderlei Geschlechts, auch junge Mädchen und Frauen in schwer zugängliche Waldgebiete und führte durch zahlreiche Messerstiche ihren Tod herbei. Nachdem er seine Opfer getötet hatte, trennte er ihnen die inneren und äußeren Geschlechtsorgane heraus, schnitt in einigen Fällen die Nase und die Zunge ab.

    Sogar die Kommission kam mit überwältigender Mehrheit zum Schluß, daß er sein Leben verwirkt habe und hat es abgelehnt, ein Gnadengesuch an den Präsidenten zu richten. Er wurde hingerichtet.

    Anatoli Pristawkin läßt keinen Zweifel: für ihn ist das Gefängnis eine russische Daseinsform. Ein Fünftel der Gesamtbevölkerung hätten sie bisher durchlaufen. Das Land ist für ihn verrottet, seit altersher und ohne daß sich seit der Sowjetherrschaft irgendwelche prinzipiellen Änderungen ergeben hätten. Manchmal ist unklar, wann Pristawkin seine Aufzeichnungen geschrieben hat: Anfang der neunziger Jahre oder jetzt?

    Heute sind statistische Daten zugänglicher geworden, und wir konnten uns überzeugen, daß in diesem Land alles verrottet ist und verurteilt zu Havarien und Katastrophen, von Flugzeugen bis zu Atomkraftwerken. Verrottet ist auch das Land selbst mit seinem dauernden Drang, sich nur auf 'revolutionäre' Weise zu ändern, das heißt mit Gewalt. Wir sind verurteilt zur Selbstzerstörung. Ein Indiz dafür ist, daß die fähigsten Menschen ausreisen. Auch das macht unsere allgemeine Hoffnungslosigkeit noch größer.

    Das Ziel der Begnadigungskommission ist eindeutig: die Todesstrafe außer Kraft zu setzen. Westeuropa hatte Anfang der neunziger Jahre von Rußland gefordert, diesen Schritt zu vollziehen, damit es die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in europäischen Institutionen erfülle. Die Duma, das russische Parlament, widersetzte sich diesem Vorschlag; sie hat sich wohl auf die Tradition berufen. Die Todesstrafe wurde in Rußland erstmals Ende des 14. Jahrhunderts gesetzlich verankert. Unter Zar Peter dem Ersten konnte sie für insgesamt 123 Delikte verhängt werden. Im 19. Jahrhundert, unter dem angeblich so barbarischen Zarismus, wurden nach Pristawkin nur etwa 300 Menschen hingerichtet. Die erste Staatsduma schaffte um die Wende zum 20. Jahrhundert die Todesstrafe gar ab, erst nach der Oktoberrevolution wurde sie wieder eingeführt. Besonders häufig waren dann die Hinrichtungen hinter der Front. Hunderttausende von Opfern der Tscheka, der mörderischen Geheimpolizei, die von Leo Trotzki geschaffen worden ist, sind zu erwähnen, Millionen Menschen starben im den Stalinschen Gulags. Sogar unter Chrustschow, zur Tauwetterzeit, wurden noch etwa 3000 Menschen erschossen. Für die Zeitspanne von 1962 bis 1990 nennt Pristawkin die Zahl von 24 000 Menschen.

    Wie und wo hingerichtet wurde, von welchem Personal und unter welchen Umständen, ist für ihn geheim geblieben. Er erwähnt nur Berichte vom Hörensagen, keine authentischen Quellen. Nach Verkündung des Urteils wurden die Delinquenten offensichtlich in einem anderen Raum sogleich liquidiert. Auf den Tod konnten sie sich nicht vorbereiten, ein letztes Wort stand ihnen nicht zu. Die Leichen wurden entweder verbrannt und ihre Überreste in alle Winde verstreut oder sie fanden in anonymen Nummerngräbern ihre letzte Ruhestätte: Die Angehörigen wurden über den Verbleib der Toten nicht verständigt, keinesfalls wurden ihre Körper übergeben.

    Also, wer wird bei uns hingerichtet? - Ich habe den beiden letzten Mappen 20 Fälle von Verurteilten entnommen und nachgelesen, wie alt sie waren und was für einen Beruf sie hatten. Alter zwischen 22 und 39, das heißt Menschen in der Blüte ihrer Kraft. Berufe: Gelegenheitsarbeiter (Heizer, Sanitärtechniker, Stauer), ein Obdachloser (Flüchtling aus Kasachstan), Bauhilfsarbeiter, Sowchos-Traktorist, Elektriker, Kraftfahrer, Kellner, Schweißer, Viehwärter, Hirt...In der Liste fehlen Ingenieure, Menschen mit Hochschulbildung. Auch Leute aus kreativen Berufen.

    Die Kommission hat rund 1000 Fälle von Todeskandidaten untersucht. Das Gremium, "in der Morgenröte der neuen Macht" eingesetzt, hatte ein aussichtsloses Unterfangen vor sich: es konnte nur von Fall zu Fall stolpern, nur punktuell mitentscheiden, die Strukturen des Strafvollzugs blieben unberührt. Sie stammen von altersher: noch aus den Zeiten der Leibeigenschaft und der Rechtlosigkeit des Volkes vergangener Jahrhunderte, die in der Sowjetherrschaft nur übernommen und umgetauft, keinesfalls abgeschafft worden sind. Der Bogen reicht von Zar Iwan dem Schrecklichen über Peter den Großen bis zu Stalin und zu seinen Erben, in einer Grausamkeit und Straflust, die ihre eigene Tradition begründet hat.

    Die Kommission traf auf eine Art institutionalisierter Absurdität. Das Butyrki-Gefängnis, im 18. Jahrhundert für einige hundert Gefangene gebaut, ist mit fast 8000 Häftlingen belegt. Ein Kommissionsmitglied war zur Stalinzeit inhaftiert, durfte aber seine ehemalige Zelle nicht besichtigen. In die Holztäfelung des Arbeitszimmers, das dem Kommandanten gehört, ist das Porträt von Feliks Dzierzynski, der stalinistischen Geheimdienst-Größe, geschnitzt. Um die großen Industriekomplexe finden sich wie zu Stalins Zeiten die Lager der verurteilten Arbeitssklaven; das "Fließband der Entmenschlichung" aus den Zeiten des Gulag ist nicht gestoppt. Einer der Lebenslänglichen schreibt, das Rechtsbewußtsein sei auf dem Stand des Höhlenzeitalters. Die Forderung nach Menschenrechten wirkt angesichts der Verhältnisse wie Hohn. Anatoli Pristawkin zitiert den Dichter Wladimir Sokolow, der vor seinem Tod 1997 schrieb:

    Bin des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen Blutströmen müde, ich brauche keine Menschenrechte, denn ich bin längst kein Mensch mehr.

    Pristawkin fügt fragend hinzu:

    Das Recht, sich Mensch nennen zu dürfen? Aber wir wissen ja noch nicht, was das ist. Oder allenfalls vom Hörensagen, wie in dem Gleichnis von dem Hühnerbein, das gut schmeckt, dabei hat man selbst noch nie eines gegessen, und nur der Koch hat gesehen, wie der Herr eines verspeist hat. Aber bei Lichte besehen irritiert uns dieses fast jenseitige Thema der Rechte, versetzt uns in Gereiztheit und weckt sogar inneren Protest. Alles, was das persönliche Leben des Menschen in Rußland betrifft, die legale Wahrnehmung seiner Rechte auf individuelle Freiheit, auf Privateigentum, auf Unantastbarkeit seiner Wohnung, auf Rechtsprechung, auf Arbeit, auf Religionsfreiheit und so weiter, findet bei uns nicht den erwarteten Widerhall, denn wir sind anders.

    Eine soziale Ursache der Gewaltexplosion sieht Pristawkin im Suff. Der Wodka ist für ihn einer der Treibsätze der Verbrechen. Brave Familienväter, unbescholtene Nachbarn, ein erfolgreicher Staatsanwalt, Zufallsbekannte, Passanten werden zu Mördern, wenn sie den Alkoholpegel über ein bestimmtes Maß hinaus erhöht haben. Lakonischer könnte die Auskunft nicht sein:

    Alles beginnt mit der Flasche.

    Als weitere Ursache der kriminellen Gewaltbereitschaft erkennt Pristawkin die Verwilderung und Barbarisierung in der Armee durch die beiden Kriege in Afghanistan und in Tschetschenien. Oft spielt die Rache für Schikanen durch Vorgesetzte eine entscheidende Rolle, aber auch die Demütigung von Untergebenen durch erzwungenen homosexuellen sexuellen Verkehr.

    Schon früh in dieser abgründigen Kasuistik menschlicher Bösartigkeiten fällt der Blick verallgemeinernd auf etwas Charakterologisches:

    Wir Russen sind ein höchst merkwürdiges Volk. Wir sind human in den Legenden und grausam in der Realität. Wir sind gleichsam in zwei Lager geteilt: auf der einen Seite Menschen, die in Not, ins Gefängnis geraten sind, und die um sie leidenden Angehörigen, die um Gnade flehen, die nichts sehen wollen oder nach Rache rufen, nach noch grausamerer Bestrafung bis hin zur Abrechnung ohne Gericht und Untersuchung. - Aber es kann auch geschehen, daß sie die Plätze tauschen, wie es einem ehemaligen Generalstaatsanwalt widerfuhr, der sehr die Todesstrafe befürwortete und eines schönen Tages selber im Gefängnis landete. - Und da zeigte sich plötzlich, daß die aus dem zweiten Lager gern über Barmherzigkeit sprechen, wenn es um sie selber geht, während die aus dem ersten Lager, die im Gefängnis einen Zorn auf die ganze Welt angesammelt haben, auf Rache sinnen und Grausamkeit mit noch größerer Grausamkeit beantworten möchten.

    Nicht alle Todeskandidaten baten um Begnadigung. Manche waren auch so verzweifelt, daß sie einen raschen Tod dem Weiterleben im Strafvollzug und in der Hölle des Gewissens vorzogen. Einer, der im Suff einem Kumpel den Kopf abgetrennt und im Keller versteckt , den Rumpf jedoch im Kleiderschrank deponiert hatte und schließlich auch noch eine Mitwisserin ermordete, wollte keinesfalls eine Umwandlung der Strafe. An Präsident Jelzin schrieb der 31jährige:

    Ich bitte Sie, mein Todesurteil zu unterschreiben und das Innenministerium Rußlands anzuweisen, es zu vollstrecken. Ich bitte von Herzen darum, daß Sie mich erschießen lassen. Wie kann man denn einen Menschen so verhöhnen, selbst wenn er zum Tode verurteilt ist. Man darf ihn nicht endlos erniedrigen, was er auch sein mag. Ich bin des ewigen Wartens müde. Ich spreche in meinem Gesuch nicht zu dem Präsidenten, sondern zu einem russischen Menschen! Finden Sie in sich den Mut und die Kraft, das Gesetz anzuwenden, wenigstens in bezug auf mich, denn ich will es selbst und bitte darum als eine große Gnade und als Befreiung von einem Alptraum. Wozu soll ich leben, wenn ich für alle anderen kein Mensch bin?

    Viele der Todeskandidaten berufen sich bei ihrem Wunsch nach Exekution auf die Genfer Konvention, auf das Privileg des Todes angesichts einer lebenslangen Haft unter unmenschlichen Bedingungen, auf den christlichen Glauben, der ihnen verbiete, Hand an sich zu legen, knüpfen ihre Sehnsucht nach Auslöschung an die Hoffnung auf Beibehaltung der Todesstrafe.

    Seit 1996 ist sie ausgesetzt, allerdings nicht abgeschafft. Sie war das probate Mittel, um Justizschlamperei und Korruption zu vertuschen, aber selbstverständlich auch eine Strafe für schweren Raub, Vergewaltigung und Mord. Es herrscht Einigkeit zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, daß sie ein richtiges Mittel zur Sühne und zur Abschreckung sei. So gesehen, hat die Kommission immer gegen die Mehrheiten in Rußland gearbeitet. Aber Pristawkin hält sie nicht für das Schlimmste, was einem Delinquenten zustoßen konnte:

    Die Erschießung ist ja keine Strafe und schon gar nicht die Höchststrafe: Einmal Luft geholt, und schon hat man die Kugel im Genick. Erschießung - das ist Begnadigung. Die Strafe besteht darin, alle Unbilden zu ertragen: Hunger, Kälte, Arbeit, Schläge, Beleidigungen, Sehnsucht nach der Freiheit und der Familie.

    Die Verbrechen sind oft so kraß, daß die Mitglieder der Gnadenkommission gespalten sind, ob sie nicht doch die Todesstrafe empfehlen sollen. Jedes ihrer Mitglieder hatte durchaus ein ambivalentes Verhältnis zur Frage von Leben oder Tod. Die vorgefaßten Meinungen gerieten angesichts der Fälle ins Wanken, lösten in den einzelnen zermürbende Konflikte aus. Dazu kam die Versuchung, nach dem Spruch des Gerichts noch einmal den Richter zu spielen, den Herrn über Leben und Tod. Eine Selbsterschaffung nennt Pristawkin den Prozeß der Skepsis, den die Kommissionsmitglieder im Lauf ihrer Arbeit durchmachten. Die Hälfte von ihnen bestand aus Schriftstellern, als sie 1992 die Arbeit aufnahmen. Das legte literarische Vergleiche der Zustände, zum Beispiel mit Dostojewskis Schilderungen der Todeskandidaten im Roman "Der Idiot" nahe. Er hat geschrieben:

    Wie, wenn man nicht sterben müßte! Wie, wenn man das Leben zurückholen könnte - welche Unendlichkeit! Und das alles wäre mein! Ich würde jede Minute in ein Jahrhundert verwandeln. - Was geschieht mit der Seele in diesem Moment, in was für Krämpfe wird sie gestürzt? Man denke zum Beispiel an die Folter: Leiden, Wunden, körperliche Qualen, all das lenkt von der seelischen Pein ab... Dabei rührt der fürchterlichste Schmerz nicht von den Wunden, sondern daher, daß du sicher weißt: In einer Stunde, in zehn Minuten, in einer halben Minute und dann jetzt, in diesem Moment fliegt die Seele aus dem Körper, und du bist kein Mensch mehr. Eine größere Qual gibt res nicht auf der Welt.

    Dostojewski hat dieses Dasein, diese Bestimmung zum Wahnsinn als Todeskandidat selbst erlebt. Ein grausiger, oft gräßlicher Anprall von unmenschlicher Wirklichkeit bestimmt dieses Buch. Pristawkin läßt, scheinbar ungerührt, vor allem die Protokolle sprechen. Sie durchkreuzen in ihrer wilden Brutalität, die aus ihnen strahlt, fast mit jedem Satz, worum es diesem Schriftsteller geht: um Barmherzigkeit und damit um die Wiederherstellung des Menschlichen gerade im Angesicht der Verbrechen. Der Widerstreit zwischen der Bestialität vieler Taten und der christlichen Botschaft macht die Gegenläufigkeit der Motive in diesem Buch aus. Oft ergibt sich daraus eine Ratlosigkeit, die zu den ehrlichsten Momenten in dieser Materialsammlung des abseitigen Lebens gehört.

    Zuweilen lebt in ihm ein wilder moralischer Impuls auf, eine rückbezügliche Empörung, die sich nicht damit begnügen will, die Geschäfte der Reichen und die Machenschaften der Nomenklatura zu geißeln, die vielmehr die eigene Gleichgültigkeit ins Visier nimmt: Nun ja, ein paar kleine Fische werden erwischt, gestehen auch, aber die Richtigen, die sind nicht dabei. Sie haben viele Gesichter und sind vermögend. Sie sind sich ihrer Sache sicher, noch mehr verlassen sie sich auf uns. Sie sitzen in uns wie ein Virus. Daher sind sie beständig. Man höre auf, an die Macht zu appellieren. Haben wir etwas getan, als vor unseren Augen Gerechte drangsaliert wurden, so wie Sacharow, oder auch nur ehrliche Bürger? Haben wir Protestbriefe geschrieben? Sind wir auf die Straße gegangen, um Schwache zu verteidigen?

    30 000 Morde verzeichnet nach Pristawkin die russische Kriminalstatistik jedes Jahr. Er nennt das, der Häufigkeit wegen, "Alltagsverbrechen" und meint, daran sei die ganze Nation beteiligt. Dieses Buch ist jedenfalls ein menschliches Dokument, das seinesgleichen sucht: ein Zeugnis der menschlichen Abgründe, ein Spiegel der Natur, die alles andere als gut ist, fast so etwas wie eine Beichte über das, was der Mensch dem Menschen antun kann, aber auch eine Botschaft über die Erprobung christlicher Werte wie Verzeihung und Barmherzigkeit in auswegloser Lage.