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"Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" (1/3)

Sprache gilt von alters her als Grundbedingung des Menschseins. Im ersten Teil der Dreierserie "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz in ihrem Essay dem Thema "Sprechen und Sprechkrisen".

Von Dagmar Lorenz | 16.09.2012
    Bereits in der Antike taucht die Frage auf, ob Sprache wirklich zur Verständigung tauge - und ob sie imstande sei, Wirklichkeit zu beschreiben. In späteren Epochen wird dieser Zweifel als Bruch zwischen Sprache, Subjekt und Wirklichkeit bemerkt. Doch erst in den Jahren um 1900 erfährt die Sprachskepsis eine Radikalisierung: mit Konsequenzen auf die literarische Produktivität einer jüngeren Autorengeneration.

    Davon handelt auch die Dreierserie "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort". Den Beginn macht ein Essay der Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz zum Thema "Sprechen und Sprechkrisen". Im zweiten Teil folgt am 23.09.2012 ein Gespräch mit dem französischen Kulturhistoriker Jacques le Rider über den Provokateur und Sprachkritiker Fritz Mauthner (1849-1923), und Dagmar Lorenz wendet sich abschließend dem Sprechen und Schreiben in unserer Gegenwart zu – angefangen vom "Jargon der Eigentlichkeit" bis zum Gender-Slang.

    Im ersten Teil der Serie "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" widmet sich Dagmar Lorenz in ihrem Essay den "Sprach- und Sprechkrisen in der klassischen Moderne":

    "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
    Sie sprechen alles so deutlich aus:
    Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
    und hier ist Beginn und das Ende ist dort."


    So beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus dem Jahre 1897. Beschworen wird hier die Angst vor dem definitorischen Gebrauch der Wörter - eine paradoxe Angst, wie es auf den ersten Blick scheint, denn, so könnte man fragen: Besteht nicht gerade die Funktion von Sprache darin, Dinge und Sachverhalte zu bezeichnen und sie so erst begreifbar zu machen? Hier, bei Rilke, bewirkt das exzessive "Sich verständlich machen" offenbar eher das Gegenteil: Das Verstehen wandelt sich ins Verfehlen:

    "Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
    sie wissen alles, was wird und war;
    kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
    ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott."


    Von der Angst, über die Anklage, bis hin zum Appell: Am Schluss des Gedichtes ist es die Welt der Dinge, die gegen die Ansprüche des Benennens und Aussprechens bewahrt werden soll:

    "Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
    Die Dinge singen hör ich so gern.
    Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm.
    Ihr bringt mir alle die Dinge um."


    Dass die undefinierte, unbenannte Dingwelt als "lebendig" erscheint, ihre sprachliche Benennung sie hingegen "starr und stumm" mache, also gleichsam töte, ist ein Gedanke, der insbesondere in der Literatur der Jahre um 1900 in mehrfachen Varianten auftaucht: als Symptom und Ausdruck eines Sprachbewusstseins, das sich als krisenhaft begreift.

    Lässt man die Jahrzehnte zwischen 1880 und etwa 1920 Revue passieren, so fällt auf, dass in dieser Zeitspanne auf ganz unterschiedlichen Schauplätzen eine überaus intensive, ja nahezu obsessive Auseinandersetzung mit "Sprache als Problem" stattfindet: angefangen von der Wirkung, welche die Schriften Friedrich Nietzsches auf eine nachfolgende Generation ausübten, über die Sprachkritik eines Fritz Mauthner bis hin zu Ludwig Wittgenstein und den Anfängen des Wiener Neopositivismus.

    Parallel dazu finden sich die Sprachpolemiken eines Karl Kraus und Sigmund Freuds berühmter Aufsatz über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Im Wiener Parlament ebenso wie in den Regionen der vielsprachigen Habsburgermonarchie toben sogenannte "Sprachenkämpfe". Die Literatur jener Jahre bringt neue Sprechweisen hervor: Arthur Schnitzler kreiert den deutschsprachigen "inneren Monolog", und während Hugo von Hofmannsthal in seinem Opernlibretto "Elektra" die Ästhetik des Verstummens probt, wird in Jung Berliner Literatenkreisen das lyrische Sprechen zum expressionistischen Schrei.

    Warum also kommt es ausgerechnet in den Jahren um 1900 zu einer solchen Ballung von Sprach- und Sprechdiskursen auf ganz unterschiedlichen Ebenen? Ein Rückblick in die Vorgeschichte der abendländischen Sprachreflexion zeigt, wie sehr sich der Blick auf die Sprache im Verlaufe des neuzeitlichen Denkens gewandelt hat - und welche Problemlage sich in den Jahren um 1900 daraus ergibt.

    Reflexion über die menschliche Sprache findet von alters her statt. Schon an deren Anfang war bekanntlich, wie es in der Bibel heißt, das Wort - und mit ihm der Gedanke vom göttlichen Ursprung der Sprache. Aristoteles betrachtete den Menschen als "zoon logon echon": als ein "Lebewesen, das Sprache hat" und aufgrund dieser Eigenschaft erst in der Lage sei, ein soziales Gemeinwesen zu schaffen.

    Und spätestens seit Platon wird das Verhältnis zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit diskutiert. Entspringen die Wörter dem Wesen der Dinge? Stehen die sprachlichen Bezeichnungen in einer gleichsam natürlichen Beziehung zu den bezeichneten Dingen? Oder sind die Wörter bloß das Resultat einer sozialen Konvention, einer Verabredung unter den Menschen? Und wie steht es mit dem Verhältnis zwischen der Sprache und dem Denken? Gibt es ein vorsprachliches Erkennen, dem die Sprache dann nachträglich zugeordnet wird? Und ist Sprache in der Lage, sämtliche Dinge dieser Welt angemessen abzubilden?

    Die Forderung, dass sie es zumindest sein sollte, beeinflusste noch die neuzeitliche Philosophie. So beispielsweise galt es für Denker wie Francis Bacon, John Locke oder Gottfried Wilhelm Leibniz als ausgemacht, dass Sprache dafür da sei, Wirklichkeit abzubilden. Dass dieses Ideal jedoch schon an der konstitutiven Unzulänglichkeit der Sprache selbst scheitern muss, erkannte im 18. Jahrhundert schon ein Aufklärer wie Georg Christoph Lichtenberg, als er formulierte:

    "Es ist ein ganz unvermeidlicher Fehler aller Sprachen, dass sie nur Genera von Begriffen ausdrücken und selten das hinlänglich sagen, was sie sagen wollen."

    Lichtenberg erkannte: Die Differenz zwischen den sprachlichen Zeichen und dem, was bezeichnet werden soll, ist unaufhebbar. Ebenso unmöglich ist es, etwa Empfindungen bruchlos auszudrücken, oder das Denken unmittelbar zur Sprache zu bringen.

    Dies alles scheitert schon daran, dass es immer einen Spielraum zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck gibt, der die Wirkung des Ausgesprochenen unkontrollierbar erscheinen lässt. Doch diese Erfahrung des doppelten Bruchs zwischen Sprache, Bewusstsein und Wirklichkeit führt bei den Aufklärern des 18. Jahrhunderts nicht etwa zu einer prinzipiellen Sprachskepsis, sondern entweder zu einer Haltung der Selbstbeschränkung, wie etwa bei Gotthold Ephraim Lessing:

    "Die Sprache kann alles ausdrücken, was wir deutlich denken; dass sie aber alle Nuancen der Empfindungen soll ausdrücken können, das ist ebenso unmöglich, als es unnötig sein würde."

    … oder allenfalls zu einer aufklärerisch motivierten Kulturkritik, die sprachliche Irrtümer zu vermeiden sucht oder sich an der Wirklichkeit selbst abarbeitet.

    Ein grundlegender Wandel des Sprachverständnisses vollzieht sich in der Sprachphilosophie der Romantik, insbesondere bei Wilhelm von Humboldt, der im Anschluss an Herder und Hamann eine Theorie der sprachlichen Weltanschauung formuliert – was bedeutet: Sprache formt, nach Humboldt, die vorgegebene Realität zu einer Weltsicht. Insofern prägt sie das individuelle Vorstellungsvermögen des Menschen. Damit aber wird Sprache nicht mehr als untergeordnetes Werkzeug zum Abbilden von Realität begriffen. Sie wird stattdessen in das Bewusstsein des Menschen selbst verlegt. Der Einzelne ist also an die Sprache und ihre jeweiligen Gesetzmäßigkeiten unwiderruflich gebunden. Humboldt sagt:

    "Durch denselben Act, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern herauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinüber tritt."

    Es gibt also, nach Humboldt, keine Möglichkeit, die Grenzen des Sprachlichen an sich zu überschreiten. Andererseits ist Sprache nun gleichsam von der Funktion befreit, Realität abbilden zu müssen - was ihr zwar neue, individuelle Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet, ihr aber auch die Grundlage für eine selbstverständliche Rückbindung an die Welt der Dinge entzieht.

    Eine weitere Wende in der Sprachreflexion wird im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Friedrich Nietzsche eingeleitet, dessen Einfluss auf die kulturellen Avantgarden der Generationen nach 1870 kaum überschätzt werden kann. So wird in Nietzsches Schrift "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" der romantische Gedanke von der Sprache, die Welt im Bewusstsein des Menschen erst hervorbringt, nochmals radikalisiert. Dass Sprache überhaupt die Verhältnisse zwischen realen Dingen adäquat beschreiben könne, verneint Nietzsche:

    "Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen."

    Fassen wir zusammen: Für Friedrich Nietzsche sind Verstand und Sprache nicht etwa Mittel zur Abbildung von Wirklichkeit oder zur Erhellung von Sachverhalten oder gar zur Suche nach Wahrheit. Ganz im Gegenteil! Sprache hat vor allem eine soziale Funktion. Sie dient dem Menschen als Mittel der Verstellung, der Täuschung und Illusionsbildung. Er bedient sich ihrer, um seine eigennützigen Bedürfnisse zu maskieren und sich das Wohlwollen der Gesellschaft zu sichern.

    Auch hinter Aussagen wie "wahr" oder "falsch" verbirgt sich eine Übereinkunft zwischen den Menschen über die verbindliche Verwendung von Zeichen. "Wahres" Sprechen meint also ausschließlich die Übereinstimmung mit den Konventionen des Sprachgebrauchs - und muss - da Sprache und Wirklichkeit völlig unterschiedlichen Sphären angehören - notwendigerweise in Lüge umschlagen: ja, die Annahme, es gäbe Wahrheit, bringt die Lüge erst hervor.

    Nietzsches Schlussfolgerung daraus: Nicht der Trieb zur Wahrheit, sondern der "Trieb zur Metaphernbildung" reguliert die Verwendung von Sprache. Erst indem sich der Mensch als "Sprachbildner" betätigt, sich also eines ästhetischen Verfahrens bedient, werden Subjekt und Objekt überhaupt sinnvoll aufeinander beziehbar. Wie Sprache konkret funktioniert, beschreibt Nietzsche wie folgt:

    "Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedes Mal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue."

    Dass Bild und Laut eigenständige Funktionen übernehmen und Sprache nicht primär als bedeutungstragendes Medium aufzufassen sei, sind Gedanken, die auf die späteren Lautmalereien des Expressionismus und Dadaismus verweisen.

    Verschärft wird dieses Krisenbewusstsein auch durch die Entwicklungsschübe in den Naturwissenschaften im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Mit zunehmender Verwissenschaftlichung und der Ausdifferenzierung in Natur- und Geisteswissenschaften ergaben sich neue Anforderungen an die Sprache als Beschreibungswerkzeug - was das Problem aufwarf, dass die natürliche Sprache als zunehmend untauglich für die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis begriffen wurde.

    Wie sehr diese Skepsis gegenüber der Vermittlungsfunktion von Sprache zugleich eine Krise des Sprechenden darstellt, formuliert in den Jahren um die Jahrhundertwende der experimentelle Physiker Ernst Mach, der mit Richard Avenarius als ein Vertreter des sogenannten Empiriokritizismus gilt. Machs Bedeutung insbesondere für die Literaturavantgarde der Wiener Moderne ist beachtlich. Allein sein seit 1886 in immer neuen Auflagen herausgegebenes Werk "Die Analyse der Empfindungen" erwies sich als ein Erfolgsbuch, von dem der einflussreiche Wiener Publizist Hermann Bahr 1903 behauptete, dass es

    "die Lebensstimmung der neuen Generation auf das Größte ausspricht."

    Die "Lebensstimmung", die Ernst Mach und seinem Denken zugeschrieben wurde, faszinierte ganz unterschiedliche Autoren: Unter ihnen finden wir den Sprachkritiker Fritz Mauthner, aber auch Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal oder Richard Beer Hofmann. Sie alle zeigten sich beeindruckt von den Konsequenzen, welche die von Ernst Mach entworfene Psychologie der Sinneswahrnehmung zeitigte. Was ist damit gemeint?

    Ernst Mach zufolge existiert kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der äußeren Welt der Dinge und uns, die wir subjektiv diese Welt wahrnehmen. Jede Art von Wirklichkeit, so Mach, löst sich vielmehr auf in subjektiv wahrgenommene Sinnesgegebenheiten oder anders formuliert: Sowohl die innere, psychische Welt des Menschen als auch die äußere Welt bestehen aus gleichartigen Elementen der Empfindung und Wahrnehmung. Es sind die unterschiedlichen, mehr oder weniger flüchtigen Sinneseindrücke, die wir von außen empfangen und die unsere jeweilige Weltwahrnehmung bestimmen. Welt und Wirklichkeit erscheinen uns also als Resultate einer impressionistischen Wahrnehmung unserer Sinne: Eine Auffassung, die an den Impressionismus in der Malerei denken lässt, aber auch an die poetischen Großstadtimpressionen etwa eines Charles Baudelaire.

    Da in der Perspektive Ernst Machs sich auf diese Weise alle Arten von Wirklichkeit und Erkenntnis relativieren, kann es natürlich auch keine objektive Wahrheit geben. Auch Sprache kann nie eindeutig sein. Denn Wörter erhalten ihre Bedeutungen dadurch, dass sie subjektive Empfindungen hervorrufen - und zwar sowohl im Sprechenden als auch im Angesprochenen. Und da diese Empfindungen schon bei zwei Menschen nie hundertprozentig übereinstimmen, umgrenzen Wörter allenfalls einen Bedeutungsraum.

    Auch das sprechende Individuum selbst ist keine eindeutige, von der Außenwelt abgegrenzte Einheit. Das "Ich" eines individuellen Menschen besteht nämlich ebenfalls aus einem Komplex von Erinnerungen, Stimmungen und Gefühlen, die sich im Verlaufe der Jahre - je nach Situation, Lebenslage und Zufall ständig verändern oder neu kombinieren.

    "Größere Verschiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn ich mich heute meiner frühen Jugend erinnere, so müsste ich den Knaben (einzelne wenige Punkte abgerechnet) für einen anderen halten, wenn nicht die Kette der Erinnerungen vorläge."

    Insofern sei es eigentlich unsinnig, so Mach, überhaupt noch von einem "Ich" zu sprechen, denn es existiert einfach nicht. Fazit also:

    "Das 'Ich' ist unrettbar!"

    Im Hinblick auf die Sprache aber stellt sich dann die Frage:

    "Wer eigentlich spricht wirklich, wenn ein 'Ich' 'Ich' sagt?"

    Man könnte die bekannten Schlüsseltexte der literarischen Moderne um 1900 getrost als mögliche Antworten auf diese eine Frage lesen - wobei die jeweilige Antwort zu einem guten Teil aus der innovativen Formensprache herauszulesen ist, deren sich etwa Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann oder Rainer Maria Rilke - letzterer in seinem Tagebuchroman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" bedienen.

    Ein anderes berühmtes Beispiel hierfür bietet einer der ersten literarischen Texte, die konsequent in der Form eines "inneren Monologs" verfasst sind: Arthur Schnitzlers Novelle "Leutnant Gustl". Der Text protokolliert den sich ununterbrochen abspulenden Gedankenstrom aus der Innenperspektive einer fiktiven Figur. Es sind die Gedanken eines Leutnants der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Monarchie, eben jenes Leutnant Gustl, die ihm innerhalb eines begrenzten Zeitraums - nämlich exakt zwischen 21:45 bis 06:00 Uhr am Morgen des darauffolgenden Tages - in den Sinn kommen.

    "Wie lang' wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren... Erst viertel auf zehn?... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's halt nicht gewohnt..."

    Nur wenige Absätze weiter wird ein banaler Zwischenfall in der Menschenmenge vor der Konzertsaal-Garderobe eine Kaskade unterschiedlichster Gefühle, Assoziationen und Handlungsimpulsen im Kopf unseres Leutnants auslösen. Gustl wird in der anonymen Masse von einem ihm flüchtig bekannten Bäckermeister angerempelt und fühlt sich als Leutnant in seiner Ehre gekränkt. Da es der niedrige soziale Rang des Bäckers dem Leutnant verbietet, seinen Beleidiger zum Duell zu fordern, glaubt Gustl, seine Ehre nur noch durch seinen Selbstmord wiederherstellen zu können - zumal er davon ausgeht, dass der Bäcker den Vorfall herumerzählen wird.

    Den Rest der Nacht verbringt Gustl in der inneren Überzeugung, ein Todeskandidat zu sein - bis er am darauffolgenden Morgen durch Zufall erfährt, dass der Bäcker noch in derselben Nacht an einem Schlaganfall verstorben ist. Das ändert die Lage für Gustl schlagartig: Denn nun ist es ausgeschlossen, dass der scheinbar ehrverletzende Vorfall allgemein bekannt wird. Gustl stellt erleichtert fest, dass er am Leben bleiben darf: Doch das Gefühl der Erleichterung bewirkt keineswegs die Einsicht in die Absurdität des militärischen Ehrenkodexes. Stattdessen fiebert der Leutnant einem für denselben Tag angesetzten Duell entgegen.

    Was diesen Text zu einem Dokument der modernen Sprachkrise macht, ist die paradoxale Verfasstheit der hier präsentierten inneren Rede: Als Leser bleibt uns nahezu kein Gedanke, keine Gefühlsregung des fiktiven Leutnants verborgen: Das ganze Psychodrama eines von Minderwertigkeitskomplexen, kompensatorischer Aggressivität, hasserfülltem Antisemitismus und Standesdünkel geprägten Subalternen wird aufgerollt, die ganze seelische Misere eines auch materiell armen Teufels, der seine jämmerliche Lage hinter einer äußeren Renommier-Fassade eines k.u.k.-Offiziers verbirgt.

    Wir erfahren alles über den Leutnant, indem wir seinem assoziativ gelenkten Bewusstseinsstrom folgen: - ein Verfahren, das übrigens an die psychoanalytische Erzählmethodik des Schnitzler-Zeitgenossen Sigmund Freud erinnert. - Und doch erfahren wir so gut wie nichts über Gustl selbst.

    "Ein Gemeiner von der Verpflegsbranche ist ja jetzt mehr als ich: ich bin ja überhaupt nicht mehr auf der Welt... es ist ja aus mit mir... Ehre verloren, alles verloren!... Ich hab' ja nichts anderes zu tun, als meinen Revolver zu laden und... Gustl, Gustl, mir scheint, du glaubst noch immer nicht recht d'ran? Komm' nur zur Besinnung... es gibt nichts anderes... wenn du auch dein Gehirn zermarterst, es gibt nichts anderes! - Jetzt heißt's nur mehr, im letzten Moment sich anständig benehmen, ein Mann sein, ein Offizier sein, sodass der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Angedenken bewahren! ... "

    Je subjektiver, persönlicher und einzigartiger Gustels Erzählung anmutet, desto mehr fällt auf, dass das Gespräch, das Gustl mit sich selbst führt, fast ausschließlich aus stereotypen Redewendungen, standestypischen Werturteilen und Alltagsweisheiten besteht. Nicht ein unverwechselbares "Ich"-Individuum offenbart sich hier, sondern ein mehr schlecht als recht aus Versatzstücken eines längst überlebten militärischen Ehrenkodexes zusammengezimmertes Rollen-Ich eines beliebigen Leutnants.

    Dem Leser präsentiert sich eine entindividualisierte Rede, in der das "Ich" der Figur Gustl vor allem als Sprachrohr von zeittypischen Allgemeinplätzen erscheint: als Leerstelle sozusagen, die stellvertretend für eine Art - Freud würde sagen - "Über Ich-Instanz" steht. Und tatsächlich: Das französische Lexem "Lieutenant", das Arthur Schnitzler einst im Originaltitel seines Textes verwendete, heißt wörtlich übersetzt nichts anderes als "Stellvertreter".

    Am Beispiel dieses "Lieutenants Gustl" wird deutlich, dass am vorläufigen Ende der sprachkritischen Betrachtungen im 18. und 19. Jahrhundert ein Subjekt steht, das seiner sprachlichen Autonomie beraubt ist. Statt eines autonomen Individuums, das Sprache sozusagen von außen kritisch betrachten kann, erfährt sich nun ein prekäres "Ich" als gleichsam untrennbar eingesponnen in Sprachlichkeit. Zugleich ist dieses "Ich" scheinbar ausweglos einer vergesellschafteten Sprache unterworfen.

    Die spezifischen Ausprägungen dieser vergesellschafteten Sprache um 1900 sind vor allem auf zwei zeittypische Tendenzen zurückzuführen: zum einen auf den Bedeutungszuwachs von Sprache überhaupt, zum anderen auf den Boom der modernen Massenpresse.

    Dass die Versprachlichung von Welterfahrung ins Zentrum der europäischen Kultur um 1900 rückt, belegt nicht nur die literarische Moderne dieser Jahre. In den Jahren 1901 und 1902 erscheint die Erstausgabe der "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" in drei Bänden von Fritz Mauthner. In Anlehnung an Ernst Mach und Nietzsche wettert Mauthner darin gegen den von ihm als "Wortaberglauben" geschmähten Geist seiner Epoche. Und ein junger Kritiker, Hermann Häfker, bestätigt indirekt die Diagnose Mauthners in der Rezension von dessen Werk wie folgt:

    "In der That gewinnt die Sprache, das Wort, im heutigen praktischen Leben eine Bedeutung, wie sie eine solche wohl noch nie in der Weltgeschichte gehabt hat. […] Sie beginnt allmählich die wahre Rolle eines Mittlers zwischen allen menschlichen Werten anzunehmen."
    Eine notwendige Folge, so erscheint es jedenfalls im Rückblick, von Modernisierungsprozessen. So werden beispielsweise in den sich industrialisierenden Gesellschaften Europas zunehmend konkrete, personale Beziehungsnetze durch abstrakte sprachliche Kommunikation ersetzt: sei es auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Verwaltung, der Technik, der Schulbildung, aber etwa auch der politischen Repräsentation: In einem Zeitalter, das durch das Aufkommen von Massenparteien gekennzeichnet ist, gewinnt der manipulativ geschickte Redner an Gewicht. Nicht umsonst vermerkt der Dichter Hugo von Hofmannsthal in seinem "Buch der Freunde":

    "Politik ist Magie. Wer die Mächte aufzurufen weiß, dem gehorchen sie."

    Und solch ein Aufruf ist noch umso wirkungsvoller, wenn er in der Zeitung abgedruckt ist. Das neue Massenmedium und seine Machart erfordert auch eine neue Sprache: eingängige Formulierungen, schmückende Vergleiche, bildkräftige Beschreibungen, grelle Reklameslogans - und dies alles in kurzer Zeit von professionellen Journalisten niedergeschrieben und auf die erforderliche Anzahl und Länge der Zeilen gestutzt.

    Der schnelle Erscheinungstakt des neuen Mediums - in manch europäischer Hauptstadt erschienen manche Zeitungen zweimal am Tag - erforderte veränderte Schreibgewohnheiten. Schriftsteller, die ihre Texte einst ausschließlich im Medium "Buch" veröffentlichten, ergriffen die Gelegenheit, ihr Gehalt durch das Verfassen von Zeitungsfeuilletons aufzubessern. Der Zeitungsroman in Fortsetzungen etablierte sich als ökonomisch lukrative Textform. Und so ist es auch kein Zufall, dass selbst Arthur Schnitzlers "Lieutenant Gustl" im Jahre 1900 zunächst nicht als Buch, sondern in der Wiener Neuen Freien Presse erschien.

    Von den Zeitgenossen erbittert diskutiert wurden freilich auch die Konsequenzen, die der Wandel von der literarisierten Büchersprache zum kommerzialisierten journalistischen Schreiben erzeugte. Das kommerzialisierte Schreiben und Reden unter Zeitdruck bringt die Sprache als stereotype Wendung und Phrase hervor - in deren Gestrüpp, so empfanden es wenigstens zahlreiche Kritiker, die wirklichen Sachen und Sachverhalte - so sie überhaupt existent sein sollten - zum Verschwinden gebracht werden. So klagt der radikale Pressekritiker Karl Kraus:

    "Ich habe die Überzeugung, dass die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern dass die Klischees selbsttätig fortarbeiten. Oder wenn die Ereignisse, ohne durch die Klischees abgeschreckt zu sein, sich doch ereignen sollten, so werden die Ereignisse aufhören, wenn die Klischees zertrümmert sein werden. Die Sache ist von der Sprache angefault."

    Die Sprache, die alles anfault, was sie berührt, wird zum Thema und Krisensymptom vor allem in den literarischen Texten der deutschsprachigen Moderne um 1900. In Rainer Maria Rilkes Großstadtroman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" ringt der Ich-Erzähler mit der vorgegebenen Sprache, die sich ihm als Mittel der literarischen, aber auch mündlichen Mitteilung zusehends entzieht.

    In Hugo von Hofmannsthals berühmtem Chandos-Brief von 1902 hingegen, ist es kein moderner Dichter wie Rilkes Malte, sondern ein fiktiver Adliger des Renaissance-Zeitalters, der in die Bodenlosigkeit einer Sprach- und Daseinskrise stürzt.

    In beiden Fällen wird der Krisenhaftigkeit von Sprache und Sprechen mit einer Art von subversiver Strategie begegnet. Rilkes "Malte"-Text endet mit der Legende vom verlorenen Sohn, die, sozusagen gegen den Strich gebürstet, von einer geglückten Verweigerung des kommunikativen Einverständnisses erzählt. Über den in den Schoß seiner Familie zurückgekehrten Sohn heißt es dort:

    "Es muss für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, dass ihn alle missverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, dass die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast musste er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten."

    Hofmannsthals Lord Chandos hingegen erfährt zuweilen Augenblicke einer Art von Offenbarung, die ihm zumindest punktuell einen Zugang zu den Dingen der unverstellten Wirklichkeit ermöglichen.

    "Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen."

    Das angemessene Ausdrucksmedium für diese Art von Erfahrung ist nicht im Bereich des Sprachlichen zu finden. Der Zugang zum "Leben", wie Hofmannsthal und seine Zeitgenossen es auszudrücken pflegten, verweist vielmehr auf das Problem einer Metasprache, das einige Jahre später von Ludwig Wittgenstein in seinem "Tractatus logico-philosophicus" aufgegriffen werden sollte: Demnach kann Sprache allenfalls zum Gemeinten heranführen. Das Gemeinte selbst aber ist nicht durch Sprache vermittelbar. Wittgenstein schreibt:

    "Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist."

    Das Bewusstsein für das Prekäre des vergesellschafteten Sprachgebrauchs und die Suche nach einem Jenseits der Sprache förderte vermutlich auch das um die Jahrhundertwende zu beobachtende Interesse etwa Hofmannsthals an außersprachlichen Ausdrucksformen wie Ballett oder Pantomime. Nicht zufällig finden sich auch in den gemeinsam mit Richard Strauß realisierten Opernprojekten immer wieder Gesten des sprachlichen Verstummens.

    Freilich: Manchmal schützt auch die allzu nachdrücklich betriebene Geste des Verstummens nicht vor Geschwätzigkeit: Das zeigen die vielen populären Rilke Nachahmer, Ursprungs- und Innerlichkeitsjünger bis in unsere Tage hinein. Es schadet daher nicht, sich letztlich an Ludwig Wittgenstein zu halten und an seinen berühmten Satz:

    "Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen."