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Ich habe dich anders gedacht.

Ich bin die Eule. Auf der Fotografie hänge ich am äußersten rechten Rand, in verängstigter Aggressivität, wie im Genist der Gartenbäume: scharfe Nase, vogelrunde, zu weit auseinander stehende Augen, die groß flappenden Ohren Seitenlider, schwarz strubbelndes Haar. Abseits.

Elke Biesel |
    So beginnt die neue Erzählung von Fritz J. Raddatz - gelesen vom Autor selbst. Schon die Worte dieses ersten Satzes weisen darauf hin: Mit der kleinen ängstlich-aggressiven Eule, wird es kein gutes Ende nehmen. Raddatz hat sich in seiner neuesten Erzählung viel vorgenommen: Am Beispiel des kleinen Achim Moesgaard erzählt er von der Geschichte der verhängnisvollsten Verführung des letzten Jahrhunderts, Millionenen Deutsche sind ihr erlegen, der tödlichen Verführung durch die Sprache und die Ideen des Nationalsozialismus.

    Doch im August 1930, als Achim zusammen mit seiner Mutter und dem älteren Bruder in die Fotolinse blickt, ist er gerade erst acht Jahre alt und seine Welt hat noch einen mächtigen Fixstern: Der heißt "Onkel Sami" und wohnt in einem Haus am Wannsee. Achim hat es "den Dampfer" getauft und Onkel Sami ist sein bewunderter Kapitän.

    Für mich ist der Dampfer ein begehbares Spielzeug, immer in Bewegung, nicht dumpf sondern hell, heiter, ohne Schnörkel an den Zimmerdecken und ohne dunkle Parkettflure. Er hat ein Deck, das ist die Terrasse, er hat ein eigenes Meer, das ist der Garten, in dessen Himbeerhecken ich mir die Haut zerkratze und auf dessen akkurat geharkten roten Kieswegen ich mir beim heimlichen Üben mit Onkel Samis Fahrrad die Knie blutig schürfe. Ein Märchen, das lebt (...)

    Onkel Sami, sehnsüchtig witternd begehrt, ist der Kapitän des Dampfers. Das weiträumige Haus – mit hellen Couches statt der dunkelbraunsamtgerippten Sofa-Särge und mit weiß bespannten Einbauschränken statt der Walnussungetüme in Tempelhof – und sein Kapitän Sami in seinen strohfarbenen Leinenjacken und obligaten Saffianpantoffeln sind meine Knabenliebe.


    Onkel Samis Welt ist die Gegenwelt zu der "grämlichen Ordnung" des Moesgaardschen Haushaltes in Tempelhof. In diesem Stadtteil Berlins ist auch Raddatz ein Jahrzehnt nach seiner Hauptfigur geboren und er hat das Berliner Milieu, das er schildert, detailreich recherchiert.

    Im Hause Moesgaard weht die kühle Luft eines protestantischen Bürgertums. "Das tut man nicht" lautet die wichtigste Regel. Der unnahbare Vater verschanzt sich hinter den Akten seiner Anwaltskanzlei. Die Mutter - und hier entgeht Raddatz nicht dem Klischee – verdankt ihre lebensfrohe Seite der katholischen Herkunft. Aber auch sie wird neben ihrem strengen Mann zu einer ständig besorgten Hausfrau, der nichts wichtiger zu sein scheint als die richtige Lage der Suppenlöffel. Bei Onkel Sami und Tante Mary, der Ausländerin, ist dagegen alles licht und hell. Ein Hauch von lässigem Luxus durchweht ihr Haus und der Onkel selbst riecht nach Schokolade, wie es sich für einen Schokoladenfabrikanten gehört. Raddatz:

    Wie macht man Schokolade? Es hat für mich etwas Hexenhaftes. An einem Nachmittag zog er die Schublade eines winzigen Tischchens mit kleinen Elfenbeingriffen auf (...) und zeigte mir sein silbernes Zigarrenetui und einen länglichen Karton, in dem kleine Stanniolflaschen lagen (…) es war Schokolade, und als ich es anbiß, schmeckte ich eine dicklich-scharfe Flüssigkeit. Mir wurde übel. Schokoladenfabrikant also?

    Doch eines Tages ist Onkel Sami fort. Abgereist nach Paris. Achims Kinderliebe wird enttäuscht und erst Jahre später wird er erfahren , warum. Seine Eltern sagen wie immer nichts, Kinder sind keine ernst zu nehmenden Gesprächspartner.

    Ein anderer Erwachsener tritt an die Stelle von Onkel Sami. Es ist Achims neuer Sportlehrer, genannt der Jagdfuchs. Er schenkt dem einsamen Jungen Anerkennung. Und das ist ein Gegenprogramm zu den Hänseleien in der Klasse. Da ist Achim nur der Kleine mit den schwarzen Haaren, die "Eule mit dem Riesenzinken" im Gesicht. Er ist der Außenseiter, und an denen darf es in "unserem deutschen Charakterstück" ja nie fehlen. So hat es vor gut zehn Jahren Ludwig Harig in seinem Roman "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" geschrieben, einem Buch über Harigs eigene Jugend im Dritten Reich.

    Etwas haben Achim und Harigs Ich-Erzähler gemeinsam: Sie wollen dazu gehören. Achim versucht über den Sport zu erreichen, was ihm im übrigen Leben verwehrt ist. "Leben lernen, heißt siegen lernen", sagt der Lehrer und lockt ihn mit Uniform und markigen Sätzen: Für ein "drahtiges Bürschchen" wie dich ist es doch "die höchste Ehre" zu uns zu kommen und den "Eid zu leisten", so wie all die "Barone und Grafen und Millionäre .

    Von hier aus nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Die lieblose Atmosphäre des Elternhauses und die leidvolle Außenseiterrolle in der Schule, das sind in Raddatz’ Erzählung die Grundbedingungen, die Achims Verführbarkeit den Boden bereiten. Raddatz schildert den Jungen als verwirrten Pubertierenden und politisch Naiven.

    Bei einem Besuch in Paris trägt er dem Juden Sami stolz einen Aufsatz über seinen Eintritt in die Hitlerjugend vor. "Du bist kein Kind mehr. Merkst du denn nicht, was bei uns vorgeht", fragt die Mutter entsetzt. Achim will es nicht wissen. Wenig später, bei den Olympischen Spielen hört er Hitler sprechen, aber Achim "hört gar nicht hin", so sehr überwältigen ihn die "geordnete Masse, die Fahnen, der Gleichschritt, die Musik". Er ist besessen von einem athletischen Körperkult. Als Gegenstück dazu konstruiert Raddatz eine im Lauf der Erzählung immer grotesker werdende Körperfeindlichkeit, für die er drastische Worte ganz im Klang der Zeit findet:

    Stahl wollte ich greifen, nicht mein zu langes, dünnes, krummes Ding, und Eisen wollte ich speien , nicht diesen gelblichen Eiter. Der war Krankheit.

    Der absurd-grausige Höhepunkt des Buches kommt wie ein Paukenschlag. Und die zuvor geschilderten Motive reichen kaum aus, um ihn glaubhaft zu machen.

    Achim als junger Soldat und Eroberer in einem Bordell in Marseille: "Kotzen, Heulen, Wichsen, Schießen." Getrieben von Ekel und Wahnsinn tut er das, was die Kameraden auch tun: er schießt auf Juden, die auf dem Dachboden versteckt waren. Einer von ihnen ist Sami, der mehr als nur der Onkel seines Mörders war.

    Manches in dieser Erzählung fügt sich zu eindeutig, zu glatt ineinander. Wie ein Zug, der stetig an Geschwindigkeit gewinnt, läuft die Handlung auf das Finale zu. Brüche, gibt es nicht. Der Hauptperson, Achim, verleiht diese spürbare Zielgerichtetheit des Erzählers etwas Modellhaftes. Wer ist dieser Ich-Erzähler, dessen Stimme nicht Kind ist und nicht Erwachsener?

    Literatur muss nichts erklären, aber sie kann zeigen. Auf die immer wieder kehrende Frage "Wie ist es passiert?" muss sie nicht die große historische Antwort finden, sondern kann einzelne Geschichten erzählen. Die Verve, mit der der Autor seine Geschichte voran treibt, deutet darauf hin, dass ihm dieses literarische "Zeigen" ein Anliegen ist. Doch er bettet es ein in eine harte Dramatik und wählt eine bisweilen opulente Sprache, die mit expressionistischen Stilelmenten arbeitet.

    Das Anliegen wird so mehr ausgestellt als ihm gut tut.