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"Ich habe immer nur deutsch geschrieben"

Seine letzten Jahre verbrachte Elias Canetti in Zürich - dem "Paradies" seiner Kindheit, wie er einmal sagte. Die, die ihn dort kannten, hoben immer wieder seine Fähigkeit zuzuhören und seine auffällige Erscheinung - klein, kompakt, mit dichtem Schnauzbart und gewaltigem Haarschopf - hervor.

Von Matthias Kußmann |
    Sein größter Feind war der Tod. In fast allen Werken kommt Elias Canetti auf ihn zu sprechen - als könne er ihn wenn nicht ungeschehen machen, so doch bannen. In einem Rundfunk-Interview sagte er: "Es ist das Hauptanliegen meines Lebens, den Menschen diese Zuneigung zum Tod, die sie oft haben, zu vergällen und sie dazu zu kriegen, dass sie den Tod wirklich nicht wollen, auch nicht mit ihm kokettieren, sondern ihn als etwas wirklich Schlechtes sehen".

    Bis zuletzt beschäftigte ihn der Plan eines großen kulturgeschichtlich-philosophischen Werkes über, oder besser: gegen den Tod. Canetti übrigens hatte diesem lange erfolgreich getrotzt. Er wurde 89 Jahre alt. Als er 1994 starb, blieb der Text Fragment. Und da der Autor seinen Nachlass mit allerlei Sperrklauseln versah, wissen wir nicht, wie weit das Buch gediehen ist. Im Programm seines Verlags sucht man es vergeblich. Allerdings erscheinen alle paar Jahre andere Texte aus Canettis Nachlasss. Man kann das durchaus als List eines Autors verstehen, der lange unbekannt blieb und erst mit 60 Jahren Erfolg hatte.

    Vielleicht fürchtete er, nach dem Tod vergessen zu werden - und sorgte deshalb mit gestaffelten Sperrfristen dafür, dass sein Name auch künftig im Gespräch bleibt. Doch von Vergessenwerden kann keine Rede sein. Die meisten Werke Canettis werden bleiben - vor allem seine Autobiografie und seine schier unerschöpflichen "Aufzeichnungen", geschrieben in einem herrlich klaren und frischen Deutsch.

    Elias Canetti, Sohn sephardischer Juden, wurde am 25. Juli 1905 im bulgarischen Rustschuk geboren - einem Ort, an dem damals mehr als 20 verschiedene Ethnien zusammenlebten. Den sprachbegabten und -interessierten Jungen muss das geradezu babylonische Sprachgewirr dort fasziniert haben. Die deutsche Sprache hörte er immer dann, wenn seine Eltern sich über Dinge unterhielten, von denen die Kinder nichts wissen sollten... Trotz der nationalsozialistischen Barbarei wurde Deutsch später seine Literatursprache:

    "Ich habe immer nur deutsch geschrieben und werde es nie anders halten. (...) Es wird auch Stolz mitgespielt haben. Ich wollte mir von niemand und schon gar nicht von Hitler vorschreiben lassen, in welcher Sprache ich schreibe. Meine Vorfahren hatten 1492 Spanien verlassen müssen und ihr Spanisch in die Türkei mitgenommen, wo sie sich niederließen. Dies Spanisch haben sie über 400 Jahre in ihrer neuen Heimat reingehalten, und es war auch meine Muttersprache. Ich lernte Deutsch mit acht und wuchs immer mehr in diese Sprache hinein. Mit 33 musste ich Wien verlassen und nahm Deutsch so mit, wie sie damals ihr Spanisch. Vielleicht bin ich die einzige literarische Person, in der die Sprachen der beiden großen Vertreibungen eng beieinander liegen. Eine so kuriose Konstellation soll man nicht stören; es ist klüger und vielleicht ergiebiger, sie sich auswirken zu lassen."

    Seine bewegte Kindheit, Jugend und Studienzeit hat Canetti ausführlich beschrieben. Die Bände "Die gerettete Zunge", "Die Fackel im Ohr" und "Das Augenspiel" erschienen zwischen 1977 und '85 - zu einer Zeit, als in der deutschsprachigen Literatur Innerlich- und oft genug auch Bekenntnishaftigkeit Mode waren. Nichts von dieser "neuen Subjektivität" bei Canetti. Hier schaut ein großer alter Autor, der in seinen Aufzeichnungen seit Jahrzehnten "Subjektivität" betrieb, auf jene frühen Jahre zurück, die ihn zum Schriftsteller machten - mit Detailreichtum, scharfen Figurenporträts und, gerade was Intimes betrifft, auch mit Diskretion. Man kann die drei Bände als Erfüllung jener "Aufgaben des Autors" sehen, von denen Canetti einige Jahre vorher sprach:

    "Ich würde zuerst sagen Neugier, Empörung, Stolz. Ganz verborgen Erbarmen, Raschheit im Erfassen, und für den Romancier auch männliche Geduld in der Verarbeitung. (...) Er muss sich allem entziehen, was Macht hat. Der einfachste, dümmste und schlechteste Mensch muss ihn so nah angehen und faszinieren wie der komplizierteste, klügste und beste. Um die ungeheure Vielfalt des Vorhandenen zu spüren und zu fassen, darf er sich keiner der üblichen Klassifizierungen verschreiben. Er muss misstrauisch und vertrauensvoll sein - und beide Haltungen auf die Spitze treiben können. Er muss sehr viel Früheres mit Passion aufgenommen haben, bevor er sich an Experimente wagt. Experimente, die sich aus Experimenten anderer und sonst nichts herleiten, sind so unergiebig, dass sie die Mühe gar nicht lohnen."

    Stationen der Lebensgeschichte sind unter anderem Zürich, Frankfurt, Berlin - und Wien, wo Canetti studierte. Dort traf er Autoren wie Karl Kraus, Robert Musil und Hermann Broch, die ihn prägten. Von einer reinen "Autobiografie" zu sprechen, ist freilich heikel. Wie bei allen großen Autoren mischen sich auch hier Dichtung und Wahrheit. So weiß man inzwischen etwa, dass die mehrwöchigen Gespräche mit Isaak Babel, von denen Canetti erzählt (Babel war eine Vaterfigur für ihn) so gar nicht stattgefunden haben können. Doch wie auch immer: Der Leser begegnet noch einmal jenem großen geistigen Europa, das dann von den Nazis zerstört wurde. - In Wien entstanden Canettis erste literarische Texte.

    Schon in ihnen fällt sein Interesse an menschlichen Abgründen auf, seine Faszination fürs Abseitige, Deformierte. Die dreiaktige "Komödie der Eitelkeit" spielt in einem fiktiven totalitären Staat, der die Eitelkeit abschaffen will. Er verbietet Spiegel und Fotografien - was nur zu umso größerer und schließlich völlig grotesker Selbstbespiegelung der Menschen führt. Canettis erster und einziger Roman "Die Blendung" erschien 1935. Er erzählt von einem Gelehrten, der ganz in der Welt der Bücher und des Wissens lebt. Als er eine dumme, geldgierige Haushälterin - als Vertreterin der "Masse" - in sein Haus nimmt, beginnt sein Untergang. Sie treibt ihn in den Wahnsinn. Am Ende verbrennt er sich und seine riesige Bibliothek.

    Canettis sprachmächtiger Roman über das Missverhältnis von Geist und Welt, der auch eine Attacke gegen den reinen Intellekt ist, wurde kaum wahrgenommen. Erst mit der dritten Ausgabe des Buches, 1963, erkannte man seinen Rang. Später wurde er nicht selten mit Texten von Joyce verglichen - und Canetti war endlich in der deutschsprachigen Literatur angekommen. - 1938 flüchtete er mit seiner Frau Veza aus Wien nach Paris, und dann England, wo sie sich schließlich in London niederließen. Angesichts des nationalsozialistischen Terrors gab er die Belletristik zunächst auf und widmete sich zwei großen Themen. So genannten "Aufzeichnungen" - und der Studie "Masse und Macht", die 1960 erschien:

    "Den Plan zu diesem Buch über die Masse fasste ich schon 1925, als ich 20 war, also lange vor der "Blendung". Ich schrieb mir schon damals viel dazu auf und sammelte von überall Material. 1931 erkannte ich, dass ein solches Buch ohne ein ergänzendes Studium der Macht wertlos bleiben müsste und erweiterte den Plan. So hat mich das Buch also eigentlich 35 Jahre lang begleitet und 20 davon, in England, habe ich mich ausschließlich darauf konzentriert."

    "Masse und Macht" ist eine 500seitige Studie über Verführung, Ideologie und die Wurzeln des Faschismus - und eine fulminante Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Es ist ein im besten Sinn grenzüberschreitendes Werk, das in kein Raster passt. Den Soziologen ist es zu literarisch, den Ethnologen zu philosophisch. Überhaupt ließ sich Canetti ungern festlegen. Er bediente eine ganze Reihe literarischer Genres, die er, und das ist selten genug, allesamt beherrschte. In seiner poetologischen Rede "Der Beruf des Dichters" nannte er den Autor einen "Hüter der Verwandlung", der sich gegen alles verkrustete Denken zu wenden habe; sich bestimmten Theorien zu unterwerfen - zumal akademischen -, lehnte er ab. Bester Ausdruck dieser geistigen Unabhängigkeit sind Canettis "Aufzeichnungen", aphoristische und tagebuchartige Notate:

    "Die Aufzeichnungen waren für mich eine Zeit der Freiheit während der Arbeit an "Masse und Macht". Ich nahm mir ein oder zwei Stunden täglich Zeit dazu - und während dieser Stunden durfte ich alles niederschreiben, was mir durch den Kopf ging. Ohne an die Folgen zu denken, ohne Verantwortung, ohne den Gedanken, dass ich je etwas davon wieder aufnehmen würde. "

    Bald schon waren Canetti diese täglichen Notate unverzichtbar. Bis zu seinem Tod entstanden tausende von ihnen - nicht einmal die Hälfte ist bisher ediert. Gerade aber wurde im Hanser-Verlag ein neuer kleiner Band aus dem Nachlass herausgegeben. Die "Aufzeichnungen für Marie-Louise" entstanden 1942 im englischen Exil; der Autor hatte sie der befreundeten Malerin Marie-Louise von Motesiczky geschenkt. Sie beweisen schon jene Meisterschaft der Prägnanz und Zuspitzung, die für Canettis spätere Notate so typisch ist - wie in den folgenden fünf "Umkehrungen":

    "Mein größter Wunsch ist es zu sehen, wie eine Maus eine Katze bei lebendem Leibe frisst. Sie soll aber auch lange genug mit ihr spielen.

    Beim Begräbnis ging der Sarg verloren. Man schaufelte die Leidtragenden eilig ins Grab. Der Tote tauchte plötzlich aus dem Hinterhalt auf und warf jedem eine Handvoll Erde in sein Grab.

    Der Hund nahm seinem Herrn den Maulkorb ab, behielt ihn aber an der Leine.

    In einer Lichtreklame tauschten die Buchstaben ihre Stelle und warnten vor der angepriesenen Ware.

    Gott tat die Rippe in Adams Seite zurück, blies ihm den Atem aus und verformte ihn wieder zu Lehm."

    Nach "Masse und Macht" und der dreibändigen Lebensgeschichte hat Canetti kein "geschlossenes" Werk mehr vorgelegt. Der Augenmensch und "Ohrenzeuge" schrieb vor allem Aufzeichnungen und Reiseberichte wie "Die Stimmen von Marrakesch".

    Seine letzten Jahre verbrachte er, inzwischen ein weltbekannter, hoch geehrter Autor, in Zürich - dem "Paradies" seiner Kindheit, wie er einmal sagte. Werner Morlang hat jetzt bei Nagel & Kimche einen schönen Band herausgegeben, in dem sich Zeitgenossen an "Canetti in Zürich" erinnern - vom Friseur und der Buchhändlerin bis zu seinem Verleger und befreundeten Autoren. Was immer wieder hervorgehoben wird: seine Präsenz; seine Fähigkeit zuzuhören; und, nicht zuletzt, seine auffällige Erscheinung - klein, kompakt, mit dichtem Schnauzbart und gewaltigem Haarschopf - Anschauen kann man dieses "Löwenhaupt" im übrigen in dem Band "Elias Canetti, Bilder aus seinem Leben", der im Hanser-Verlag erschienen ist.

    Kristian Wachinger hat reichhaltiges Bild-Material zusammengestellt und mit Texten des Autors und von Zeitzeugen kombiniert. So entsteht ein regelrechtes Jahrhundert-Panorama, von 1905 bis 1994. - Elias Canetti hat viel geschrieben, aber nur wenig veröffentlicht, nur das, was vor seinem kritischen Blick Bestand hatte. Sein größter Wunsch sei es, sagte er einmal, dass seine Bücher noch in hundert Jahren gelesen würden. Es ist ihnen sehr zu wünschen.

    Elias Canetti: Bilder aus seinem Leben. Hg. von Kristian Wachinger
    Hanser Verlag, 175 großformatige Seiten, 24 Euro 90

    Elias Canetti: Aufzeichnungen für Marie-Louise.
    Aus dem Nachlass hg. und mit einem Nachwort von Jeremy Adler
    Hanser Verlag, 120 Seiten, 12 Euro 90.

    Canetti in Zürich. Erinnerungen und Gespräche. Hg. von Werner Morlang
    Verlag Nagel & Kimche, 240 Seiten, 19 Euro 90.