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"Ich habe keine Biografie und dazu beglückwünsche ich mich"

Die Theaterstücke Jean Anouilhs, der heute vor 100 Jahren geboren wurde, zählen zu den meistgespielten auf französischen Bühnen. International bekannt wurde Anouilh 1944 mit dem Drama Antigone, einer bis heute umstrittenen Interpretation des antiken Stoffes.

Von Ruth Jung |
    "Nur die Leute, die die andern amüsiert und unterhalten haben, haben der Menschheit einen Dienst erwiesen (…) Sie allein konnten die Gedanken an den Tod verscheuchen."

    So Ornifle, der Titelheld eines Theaterstücks von Jean Anouilh aus dem Jahr 1955. Es könnte das Lebensmotto des Autors selbst sein, denn der wollte vor allem unterhalten. Die Stücke des am 23.Juni 1910 in Bordeaux geborenen Autors zählen zu den meistgespielten auf französischen Bühnen. Dramen, bitterböse Farcen, Boulevardkomödien, Jean Anouilh beherrschte ein großes Repertoire, außerdem übersetzte er Shakespeare, inszenierte Molière und schrieb Filmskripte. In bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, der Vater war Schneider, die Mutter Klavierlehrerin, sah Anouilh seine Arbeit fürs Theater als die eines Handwerkers, der, so sagte er, "Akte herstellt wie andere Stühle machen".

    "Ich habe keine Biographie und dazu beglückwünsche ich mich",

    rühmte sich der als verschlossen, ja misanthropisch geltende Autor. Schon als Jugendlicher begeisterte sich Anouilh fürs Theater. Nach einem abgebrochenen Jurastudium in Paris arbeitete er als Sekretär des Schauspielers und Regisseurs Louis Jouvet an der Comédie des Champs Elysée, bevor er das Stückeschreiben zu seinem Brotberuf machte. Auch privat war Anouilh eng mit dem Theater verbunden. 1932 heiratete er die Schauspielerin Monelle Valentin, die in vielen seiner Stücke die Hauptrolle spielte. Und er verfasste 22-jährig sein erstes Bühnenstück: L'Hermine. Den größten Erfolg überhaupt feierte Anouilh mit dem Drama Antigone.

    "Nun werde ich bald nicht mehr das schmächtige, schwarze, verschlossene Mädchen sein, das keiner in der Familie ernst nimmt. Ich werde mich allein gegen die Welt stellen."

    Das während der deutschen Besatzung 1942 entstandene Stück wurde im Februar 1944 am Théâtre de l'Atelier in Paris uraufgeführt. Dieser umstrittenen Darstellung der Antigone applaudierten vor allem jene Intellektuelle, die sich als Kollaborateure hervortaten:

    "Es ist eindeutig, dass der Erfolg des Stückes zum größten Teil darauf zurückzuführen ist, dass es ein politisches Stück ist, ob der Autor das nun gewollt hat oder nicht" ,

    schrieb etwa der Dramatiker Robert Brasillach in einer Rezension. Antigone tritt hier als unscheinbare "kleine Magere" in Straßenkleidung auf die Bühne. Aus dem Alltag der Besatzungszeit genommen, ist sie anders als bei Sophokles keine unbeugsame Frau, die sich gegen Kreons unmenschlichen Befehl zur Wehr setzt, um moralische Werte gegen verlogene Staatsräson zu verteidigen. Vielmehr zeigt ihr Ende, wie sinnlos die Rebellion gegen den im Grunde väterlich-sorgsamen Machthaber doch ist. Viele Zuschauer verstanden dies als Aufruf, sich der Staatsräson eines Marschall Pétain zu fügen.

    "Der Erfolg des Stückes, das bis 1959 allein in Paris über tausend Aufführungen erreichte, ist bedenklich als Indiz für die Verbreitung jenes schlechten politischen Gewissens, das solchen Trostes bedarf",

    bemerkt dazu der Literaturwissenschafter Gerhard Goebel. Nach der Befreiung 1944 musste sich Anouilh vor einem Komitee zur "politischen Säuberung" wegen seiner Tätigkeit für nationalistische Zeitschriften verantworten. 1945 initiierte er eine Unterschriftenaktion, um Robert Brasillach vor der Todesstrafe zu retten. Brasillach hatte öffentlich zu Denunziation und Ermordung von Juden und Résistance-Kämpfern aufgerufen.

    1963 inszenierte Anouilh an den Münchner Kammerspielen "Victor oder die Kinder an der Macht", ein surrealistisches Stück des damals schon verstorbenen Autors Roger Vitrac, für den der Regisseur Anouilh gern, wie er sagte, den Handlungsreisenden spiele, weil er ihn sehr bewundere.

    Anouilh selbst schrieb in den 60er- und 70er- Jahren Boulevardstücke, denen die Kritiker Vereinfachung und Wiederholung vorwarfen. Stets ist die Bühne bevölkert mit zwielichtigen Figuren, kleinen Aufsteigern und boshaften Reichen, über deren Ränke und Gemeinheiten das Publikum lacht. Von der Kleinheit des Menschen überzeugt, provoziert Anouilh ein Lachen, das alle idealistischen Ideale verwirft.

    Jean Anouilh selbst mied die Öffentlichkeit, zurückgezogen lebte er in der Schweiz, wo er am 3. Oktober 1987 starb.