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Ich & John Wayne

Filme, sagt der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal, seien die Lingua Franca des 20. Jahrhunderts, die zehnte Muse, die die anderen neun vom Olymp vertrieben habe - zumindest von dessen Gipfel. Bücher übers Kino gibt es inzwischen bibliothekenweise, von filmtheoretischen Abhandlungen über filmhistorische Enzyklopädien bis hin zum bunten Starbilderbuch. Aber um gleich mit der Tür ins Haus beziehungsweise ins Foyer zu fallen: Kurt Scheels "Ich & John Wayne" ist das schönste und klügste Buch übers Kino, das ich je gelesen habe. Schöner ist nur noch das Kino selbst - vorausgesetzt, man geht wie der Autor Scheel, wie übrigens auch ich, wie eigentlich alle, die nicht zur schau- und wunschlustfeindlichen Sekte der kritischen Cineasten gehören, wesentlich deshalb ins Kino, "weil wir mal für neunzig Minuten die Realität schwänzen wollen." Das Zentrum der Vitalität des Kinos liegt laut Scheel nämlich darin begründet, daß es "nicht Abbild, sondern Wunschbild der Realität ist, und seine vornehmste Aufgabe (der die richtige Literatur seit hundert Jahren bekanntlich immer unwilliger nachkommt) ist es daher, uns über unser verpfuschtes Leben zu trösten: Evasion eben, und das ist ja mein tiefster, humanistisch-egalitärer Grund, warum ich das Kino gegen die Kunschtfraktion verteidige."

Klaus Modick |
    Scheels Buch ist also durchaus eine Apologie des Kinos als Traumfabrik, als Traumort zumindest, an dem sich insofern Utopien konkretisieren, als sie hier, wenn auch nur als Spiele aus Schatten und Licht, in unserer Wahrnehmung Gestalt und Ereignis werden. Zugleich attackiert Scheel mit ansteckender Lust an der Polemik und mit sehr guten Gründen alle Versuche, den Film im Museum eines hochkulturell-verblasenen Kunstbegriffs zu einem Minderheitenprogramm für Kritiker zu machen. "Denn trotz der geringen Bedeutung des Kunstkinos", so seine Argumentation, "im Bereich der seriösen deutschen Filmkritik geben die Cineasten' den Ton an. Also Leute, die an den Mythos des Autorenfilms glauben, die Kunst statt Kino wollen, die literarisch und nicht filmisch denken ... Es gibt Kirchen. Es gibt Museen. Es gibt das Kino und diese drei Orte sollten wir ... hübsch auseinanderhalten."

    Scheel unterscheidet eben deshalb nicht zwischen Kitsch und Kunst, spielt nicht Unterhaltsamkeit gegen ästhetisches Anspruchsdenken aus und hat mit der dummdeutschen Alternative von U und E so wenig am Cowboy-Hut, daß er sie erst gar nicht mehr, oder gewissermaßen nur noch unter der Hand, diskutiert. Die Differenzierungslinien seiner Argumentation verlaufen bemerkenswert anders. Er hält, mit gelegentlichen, aber nur ganz dezent theoretisierenden Rückgriffen auf Ernst Bloch und Walter Benjamin, gerade das wahrhaft populäre, kritische Einwände bewußt und lustvoll wegreißende Element des Films für seine entscheidende Dimension - auch durchaus für seine egalitär-demokratische Funktion. Scheel geht es vor allem um das sogenannte Genre-Kino, den Western also, den Ritter- oder Polizeifilm, den Slapstickfilm und so weiter. Natürlich geht er nicht jedem Schwachsinn auf den Leim, bloß weil er erfolgreich und massenwirksam ist, sondern er weiß sehr wohl zwischen guten und schlechten Filmen zu unterscheiden. Aber er beharrt auf der Kraft des Sentiments, und er nimmt eben auch das Steckengebliebene, unfreiwillig Komische und Mißlungene ernst, zumindest als Symptom; und deshalb gelingt ihm beispielsweise eine hinreißend ironische und zugleich eindrucksvoll analytische Ehrenrettung der unsäglichen Edgar-Wallace-Filme aus den frühen 60er Jahren, die sich ja nicht zufällig heute wiederum einer Art Kult-Status des Schrillen erfreuen.

    Die Literatur, bemerkte Robert Louis Stevenson einmal, sei für den Erwachsenen das, was dem Kind das Spielen sei. Diese Einsicht, die ja darauf beruht, daß das kindliche Spiel auf einer vorübergehenden, vollständigen Einfühlung und Identifikation mit der Wirklichkeit des Imaginierten beruht, ist auch der Kern dessen, was man mit Scheels Argumentation als eine Art filmischer Rezeptionsästhetik bezeichnen könnte - nur daß Scheel zum Glück für den Leser solche begrifflichen Verrenkungen meidet. "Um in einen Film hineinzukommen", schreibt er schlicht und wahr, "muß man sich in ihm wiederfinden: ... in jeder genuinen Beschäftigung mit Kunst hat sich etwas Unerwachsenes, Kindliches erhalten." Das Kino wäre demnach das Medium, in dem das legendäre Kind im Manne, in der Frau natürlich auch, in seine legitimen Rechte eingesetzt wird - aber nicht in infantiler Regression, sondern mittels eines ebenso bewußt wie freiwillig wie lustvoll herbeigeführten Identifikationsaktes. "Das ist Kino", sagt Kurt Scheel: "Wenn die Wandlung, die Verwandlung stattfindet, auf die wir so dringlich gehofft hatten und die uns das schnöde Leben nicht gewährt." Wer so ins Kino geht, dem geht es nicht um Kunst; jedenfalls nicht in erster Linie und nicht im emphatischen Sinn. Dem geht es um Lebensglück. Und wenn es im eigenen Leben nur schwer zu haben ist, so haben wir es eben für ein paar schöne Stunden auf der Leinwand, überlebensgroß und unwirklich-wirklich schön. Daß Geschichten, die das Leben nicht schrieb, sondern ein guter Drehbuchautor, in Beziehung gesetzt werden können zum eigenen Leben, daß sie in Beziehung gesetzt werden müssen zum eigenen Leben, wenn solche Geschichten und das Leben überhaupt einen Sinn machen sollen, das ist das ganze Geheimnis des Kinos. Es ist, glaube ich, auch immer noch das ganze Geheimnis eines guten Romans, aber darüber reden wir ein anderes Mal.

    Wie unmittelbar Scheels Kinogeschichten jedenfalls auch Geschichten seiner eigenen Kindheit in den fünfziger und frühen sechziger Jahren spiegeln, wie sehr er Kino als persönliche Erfahrungsgeschichte präsentiert, wird unter anderem aus der Bemerkung deutlich, daß John Fords Western-Klassiker "Der Mann, der Liberty Valance erschoß", die Unschuld des Westerns für ihn zerstört habe - und damit auch die Unschuld des damals Vierzehnjährigen. Kurt Scheel hat nicht zuletzt deshalb ein so inniges Verhältnis zum Kino, weil seine Eltern in Altenwerder, vor den Toren Hamburgs, ein Dorfkino betrieben; der Autor hat nicht nur viele Filme gesehen, er hat sie erlebt, er hat gewissermaßen in und mit ihnen gelebt. Diese Verbindung zwischen Kindheitsbericht und Kino macht das Buch so glaubwürdig und überzeugend. Kein Wunder also, daß der Fokus hier auf Filmen der 50er und 60er Jahre liegt; das ist kein Manko, aber gerade an neueren Entwicklungen wie etwa dem Science-Fiction-Genre oder den Filmen Steven Spielbergs, die nur am Rande gestreift werden, ließen sich Scheels Thesen bestens fortentwickeln. Auch die Geringschätzung, die der Westerfan Scheel dem Italo-Western entgegenbringt, den er als bloß parasitären Appendix des klassischen, amerikanischen Western abtut, gründet wohl darin, daß er diese Filme nicht mehr mit naiver Kindlichkeit zu sehen bekam, sondern gewissermaßen schon mit einem filmhistorischen Blick. Ich glaube, die Quintessenz dieses klugen, witzig-ironischen, gelegentlich streitbaren, sehr persönlichen und gar nicht zynischen Buchs übers Kino bildet folgende Passage: "Der Film ist eine junge Kunstform, und seine historische und ästhetische Jugendlichkeit ist ein Grund für seine Schönheit und Vitalität. Vor dem Buch sind wir älter, zynischer als vor der Leinwand, und da wir von ganz alleine immer älter werden, wollen wir es dem Kino nicht vorwerfen, wenn es uns Helden schenkt, mit denen wir uns identifizieren können, wenn es uns, für einige Stunden, in das Staunen und die Begeisterung der Kindheit zurückführt."

    Kurt Scheels Buch liest sich übrigens ganz locker weg - wie ein spannender Film eben. Der Spaß an der Lektüre läßt sich mittels einer Tüte Popcorn oder einer Schachtel Eiskonfekt noch erhöhen. Machen Sie sich also ein paar schöne Stunden: lesen Sie "Ich & John Wayne".