Dirk-Oliver Heckmann: Fast 9 Kilometer hoch türmt er sich in die Höhe, genauer sagenhafte 8.848 Meter, der höchste Berg der Erde: der Mount Everest im Himalaya-Gebirge. Am 8. Mai 1978 gelang es Reinhold Messner, gemeinsam mit Peter Habeler, den Gipfel des Mount Everest erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff zu erreichen. Zwei Jahre später, am 20. August 1980, erreichte Messner den Gipfel ein zweites Mal, diesmal alleine, wieder ohne Sauerstoff. Heute genau 30 Jahre ist das jetzt her, doch die Faszination, die das Extrembergsteigen ausübt, scheint ungebrochen, auch wenn immer wieder, zuletzt vor wenigen Tagen, Menschen zu Tode kommen. – Am Telefon begrüße ich jetzt den Mann, der nicht nur den Mount Everest bezwang, sondern als erster Mensch auf den Gipfeln aller 14 8.000er stand. Guten Morgen, Reinhold Messner.
Reinhold Messner: Guten Morgen!
"Die Motivationen, auf einen Berg zu steigen, sind unendlich viele." Trotz persönlicher Schicksalsschläge wie dem Tod seines Bruders während einer Expedition ist Reinhold Messner stets seiner großen Leidenschaft treu geblieben.
Heckmann: Herr Messner, können Sie sich noch an den Augenblick erinnern, an dem Sie den letzten Schritt auf den Gipfel des Mount Everest gemacht haben? Was sehen Sie da vor Ihrem inneren Auge, wenn Sie daran zurückdenken?
Messner: Ich sehe da weniger den letzten Schritt, sondern ein Kreuchen, ein Hochkriechen. Ich bin am Ende ja auf Knien und Ellenbogen gegangen, um die Spurarbeit zu schaffen. Es war eine reine Schinderei und ich stehe auch dazu, dass ich am Rande meiner Belastung war. Es war nicht meine schwierigste Tour, aber ich war weiter weg von den Menschen denn je, denn ich musste ja noch zurück, auch allein. Es schneite ganz leise, ab und zu hat es ein bisschen aufgerissen. Es war dieses Dreieck, also ein Dreipol, von Chinesen dort oben gelassen, vor mir, verschneit mit einer Gebetsfahne oben darumgewickelt, und ich hockte mich einfach in den Schnee und habe geschnauft, habe meinen eigenen Herzschlag gehört, habe die Augen geschlossen und hatte zum Glück nach einer Stunde des Rastens die Kraft, um aufzustehen für den Abstieg.
Heckmann: Was ist das für ein Gefühl, das geschafft zu haben nach diesen Strapazen?
Messner: Also es ist völlig falsch, wenn man annimmt, dass da oben sozusagen der Höhepunkt schlechthin stattfände. Es ist das Ende einer Schinderei, einer Japserei, denn der Sauerstoffgehalt in der Luft ist sehr gering. Es bleibt immer die Angst vorhanden, ich muss es noch zurück ins letzte Biwak schaffen. Ich war ja ziemlich spät oben, mea culpa, im Grunde zu spät. Ich habe es zurück geschafft, sonst wäre ich heute nicht da. Aber die eigentliche Euphorie, diese Glücksmomente, die sich der Laie vorstellt, als Gipfel-Climax. Die kommen erst, wenn ich wieder unten bin bei den Menschen, und das war beim Nanga Parbat, erster Alleingang, den ich gemacht habe, und beim Mount Everest, als ich eben zurückkam zu den ersten Gletscherbrunnen, wo die Gletscher dann flossen, wo man trinken konnte, zu den ersten Insekten in der Luft, zu den ersten Vögeln, zu den ersten menschlichen Gesichtern, und dieses Zurückkommen ist wirklich wie eine Wiedergeburt. Das sind eben die starken Erfahrungen, die bleiben, viel stärker als das Hinaufkommen auf den Gipfel. Auf dem Gipfel oben dreht sich im Grunde der Spieß nur um. Vorher geht es hinauf und dann geht es herunter. Man kommt zwar dann der Zivilisation, der Sicherheit immer ein bisschen näher, aber bevor ich nicht festen Boden, flachen Boden unter den Füßen habe, gibt es immer noch Gefahrenmomente, eventuell Steinschlag oder Lawinen oder ein eigener Fehler. Ich bin in der Schlussphase so kaputt gewesen, dass ich auf dem Hintern heruntergerutscht bin das letzte Stück, war dann absolut nass, aber ich konnte dann einfach über diesen Gletscher kriechen und trinken, trinken, trinken.
Heckmann: Weshalb setzt man sich diesen Strapazen aus? Was macht die Faszination dieser Bergsteigerei aus? Spielt dabei auch eine Todessehnsucht eine Rolle?
Messner: Ich streite das absolut ab. Todessehnsucht gibt es bei einem Bergsteiger nicht. Ich drehe es sogar um und sage, wenn jemand ein potenzieller Selbstmörder wäre und dann die Kraft aufbringt, 100 Meter den Berg hinaufzusteigen, hat er so viel Energie gewonnen und so viel Lebensfreude gewonnen, dass er sich nicht mehr umbringen kann. Das heißt, ich wäre in der Lage, eine Art Medikament, ein psychisches Medikament anzubieten für Menschen, die verzweifelt sind: sie sollten die Berge hinaufsteigen. Aber die Motivationen, auf einen Berg zu steigen, sind unendlich viele. Jeder und jede hat seine, ihre eigene Motivation. Bei mir war es mehr oder weniger diese Neugierde, hinter die Berge zu schauen, hinter die nächste Ecke zu schauen, und so ist es geblieben. Ich war mehr ein Abenteuerbergsteiger und nicht ein Sportler. Heute ist das Bergsteigen mehr Sport, und das ist nicht schlechter oder besser, sondern eben etwas anderes als es in den 70er- und 80er-Jahren war. Wir hatten ja auch noch die Möglichkeit, auf unbekannten Routen auf die Berge raufzusteigen, in die Wildnis zu gehen. Wir waren völlig auf uns allein gestellt. Heute sind ja viele, viele Expeditionen jährlich am Mount Everest zum Beispiel, wo dann die Sherpas eine Piste, eine Infrastruktur herrichten, dass man relativ sicherer wie früher hinauf und herunter kommt. Das ist halt so und das ist auch nicht schlimm. Das Bergsteigen hat sich sehr touristisiert, wenn wir so wollen, und eben mehr sportliche Elemente gekriegt als früher.
Heckmann: Wird es das immer geben, dieses immer schneller, immer extremer, immer spektakulärer?
Messner: Das wurde beim Bergsteigen von Anfang an so gehalten, wie fast in allen menschlichen Tätigkeiten. Wir Menschen sind eben so. Obwohl wir aus verschiedenen Kulturen kommen, am Ende ist nur das schneller, höher, weiter messbar. Und natürlich wollen die Leute, die besser sind als die anderen, auch die entsprechende Anerkennung, die entsprechende Aufmerksamkeit. Heute wird weniger mit Mitteln gerechnet, wenn es um wichtige Bergsteiger geht, sondern um Anerkennung. Auch bei uns war das so. Also das ist nicht wegzudiskutieren. Das ist auch nicht gut oder schlecht. Es wird immer wieder unterstellt, das sei da nur eine Machenschaft. Aber ich glaube schon, dass der Mensch einfach den Wunsch hat, vor sich selber besser zu werden, und ich stehe eindeutig dazu, dass ich immer wieder hohe Ansprüche an mich selber gestellt habe. Und ich habe es halt nicht so gemacht, dass ich dann ein drittes Mal noch schneller auf den Everest hinauf bin, nachdem ich allein den Aufstieg geschafft hatte, sondern ich habe mir dann neue Herausforderungen in anderen Spielfeldern gesucht. Meine dritte Phase des Bergsteigens, nach der alpinen und nach den großen Bergen, den höchsten Bergen der Welt, war dann das Abenteuer in den Wüsten und an den Polen, und auch das war spannend.
Heckmann: Herr Messner, erst vor wenigen Tagen, am 6. August, da ist der schwedische Kamerad der Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner, Fredrik Ericsson, vor ihren Augen abgestürzt, bei dem Versuch, den K2 zu besteigen. Ist das Gefühl, das Sie gerade eben beschrieben haben, dieses Risiko wert?
Messner: Nein, das ist es nicht wert, und niemand geht los mit dem Wissen, dass er da runterfallen könnte, oder dass er von einem Stein getroffen werden könnte. Die Gefahren sind ja viele. Und trotzdem gehen wir los! Also man muss zuerst einmal wissen: Jeder trägt seine Verantwortung selbst, auch im kleinen Team wie bei Frau Kaltenbrunner und Herrn Ericsson. Und was genau passiert ist, werden wir nie erfahren. Es reicht ein einziger Fehltritt, ein kleiner Rutscher, und schon ist jemand gestürzt, und da kann er sich da oben in dieser Steilheit nicht mehr halten. Das ist ja das Schizophrene, dass wir etwas tun – es ist wirklich schizophren -, wobei wir das Leben verlieren könnten, und trotzdem alles, was wir haben, unsere Begeisterung, unsere Mittel, unsere Zeit einsetzen, um das zu machen.
Heckmann: Herr Messner, Sie haben bei der Besteigung des Nanga Parbat Ihren eigenen Bruder verloren, im Jahr 1970 war das. Verfluchen Sie eigentlich diesen Tag, an dem Sie mit Ihrem Bruder aufgebrochen sind, und spüren Sie eine Mitverantwortung?
Messner: Natürlich spüre ich eine Mitverantwortung. Ich bin ja der Überlebende und mir bleibt immer die Tragödie des Überlebenden. Der Tote kann sich ja nicht mehr wehren, er kann auch nicht Verantwortung übernehmen. Die Verantwortung liegt allein bei mir. Die ganze Geschichte ist ja so, dass ich fast angehalten bin, an eine Art Schicksal zu glauben. Mein Bruder sollte nicht zum Nanga Parbat mitgehen. Ausnahmsweise hat sich mein Vater stark gemacht, dass er auch mitgehen könne. Am Ende hat der Expeditionsleiter Herrligkoffer damals auch meinen Bruder mitgenommen, weil andere Kameraden zurückgetreten waren. Die haben dann andere Expeditionen gemacht. So kamen wir zufällig gemeinsam zu diesem Berg. Es gab nur eine ganz kurze Möglichkeit, den Gipfel zu erreichen und zurück ins Lager zu kommen, und das musste ich ohne Seil machen, sonst wäre die Zeit nicht da gewesen. Also habe ich meinen Bruder gebeten, im letzten Lager zurückzubleiben und mir den Rückweg abzusichern, damit ich es beim Abstieg leichter hätte. Und er ist mir, weil die Seile sich verheddert haben, einfach aus freien Stücken nachgestiegen. Als wir auf 8.000 Meter knapp zusammenkamen, unter uns 4.500 Meter Abgrund: gehen wir zurück, um sicher ins letzte Lager zu kommen, oder wagen wir es ganz nach oben? Wir sind aus eigenem Antrieb ganz nach oben gegangen. Wir waren jung, wir waren begeistert, es ging um die höchste Wand der Welt, der Ehrgeiz war natürlich auch nicht null in diesem Alter. Damit haben wir uns beide ohne Kräfte von außen in eine lebensgefährliche Situation begeben und damit begann diese Tragödie.
Heckmann: Haben Sie danach überlegt, das Bergsteigen aufzugeben?
Messner: Richtig. Meine Eltern haben gedrängt, ich möge an die Universität zurückkehren. Die Brüder, meine Freunde, alle waren der Meinung, es geht eh nicht mehr, weil ich mir sieben Zehen erfroren hatte dritten Grades, die zum Teil amputiert werden mussten.
Heckmann: Und weshalb haben Sie trotzdem weiter gemacht?
Messner: Ich habe nach ein paar Monaten erkannt, ich kann meinen Bruder nicht lebendig machen, ich kann die Fakten nicht verändern, wenn ich auf meine große Leidenschaft verzichte, und ich habe erst dann wirklich mit Haut und Haaren das Bergsteigen angefangen.
Heckmann: Wir haben gesprochen mit dem Extrembergsteiger Reinhold Messner. Heute vor 30 Jahren ist es her, dass er alleine und ohne Sauerstoff den Mount Everest bestiegen hat. Herr Messner, ich bedanke mich für das Gespräch.
Messner: Ich danke Ihnen!
Reinhold Messner: Guten Morgen!
"Die Motivationen, auf einen Berg zu steigen, sind unendlich viele." Trotz persönlicher Schicksalsschläge wie dem Tod seines Bruders während einer Expedition ist Reinhold Messner stets seiner großen Leidenschaft treu geblieben.
Heckmann: Herr Messner, können Sie sich noch an den Augenblick erinnern, an dem Sie den letzten Schritt auf den Gipfel des Mount Everest gemacht haben? Was sehen Sie da vor Ihrem inneren Auge, wenn Sie daran zurückdenken?
Messner: Ich sehe da weniger den letzten Schritt, sondern ein Kreuchen, ein Hochkriechen. Ich bin am Ende ja auf Knien und Ellenbogen gegangen, um die Spurarbeit zu schaffen. Es war eine reine Schinderei und ich stehe auch dazu, dass ich am Rande meiner Belastung war. Es war nicht meine schwierigste Tour, aber ich war weiter weg von den Menschen denn je, denn ich musste ja noch zurück, auch allein. Es schneite ganz leise, ab und zu hat es ein bisschen aufgerissen. Es war dieses Dreieck, also ein Dreipol, von Chinesen dort oben gelassen, vor mir, verschneit mit einer Gebetsfahne oben darumgewickelt, und ich hockte mich einfach in den Schnee und habe geschnauft, habe meinen eigenen Herzschlag gehört, habe die Augen geschlossen und hatte zum Glück nach einer Stunde des Rastens die Kraft, um aufzustehen für den Abstieg.
Heckmann: Was ist das für ein Gefühl, das geschafft zu haben nach diesen Strapazen?
Messner: Also es ist völlig falsch, wenn man annimmt, dass da oben sozusagen der Höhepunkt schlechthin stattfände. Es ist das Ende einer Schinderei, einer Japserei, denn der Sauerstoffgehalt in der Luft ist sehr gering. Es bleibt immer die Angst vorhanden, ich muss es noch zurück ins letzte Biwak schaffen. Ich war ja ziemlich spät oben, mea culpa, im Grunde zu spät. Ich habe es zurück geschafft, sonst wäre ich heute nicht da. Aber die eigentliche Euphorie, diese Glücksmomente, die sich der Laie vorstellt, als Gipfel-Climax. Die kommen erst, wenn ich wieder unten bin bei den Menschen, und das war beim Nanga Parbat, erster Alleingang, den ich gemacht habe, und beim Mount Everest, als ich eben zurückkam zu den ersten Gletscherbrunnen, wo die Gletscher dann flossen, wo man trinken konnte, zu den ersten Insekten in der Luft, zu den ersten Vögeln, zu den ersten menschlichen Gesichtern, und dieses Zurückkommen ist wirklich wie eine Wiedergeburt. Das sind eben die starken Erfahrungen, die bleiben, viel stärker als das Hinaufkommen auf den Gipfel. Auf dem Gipfel oben dreht sich im Grunde der Spieß nur um. Vorher geht es hinauf und dann geht es herunter. Man kommt zwar dann der Zivilisation, der Sicherheit immer ein bisschen näher, aber bevor ich nicht festen Boden, flachen Boden unter den Füßen habe, gibt es immer noch Gefahrenmomente, eventuell Steinschlag oder Lawinen oder ein eigener Fehler. Ich bin in der Schlussphase so kaputt gewesen, dass ich auf dem Hintern heruntergerutscht bin das letzte Stück, war dann absolut nass, aber ich konnte dann einfach über diesen Gletscher kriechen und trinken, trinken, trinken.
Heckmann: Weshalb setzt man sich diesen Strapazen aus? Was macht die Faszination dieser Bergsteigerei aus? Spielt dabei auch eine Todessehnsucht eine Rolle?
Messner: Ich streite das absolut ab. Todessehnsucht gibt es bei einem Bergsteiger nicht. Ich drehe es sogar um und sage, wenn jemand ein potenzieller Selbstmörder wäre und dann die Kraft aufbringt, 100 Meter den Berg hinaufzusteigen, hat er so viel Energie gewonnen und so viel Lebensfreude gewonnen, dass er sich nicht mehr umbringen kann. Das heißt, ich wäre in der Lage, eine Art Medikament, ein psychisches Medikament anzubieten für Menschen, die verzweifelt sind: sie sollten die Berge hinaufsteigen. Aber die Motivationen, auf einen Berg zu steigen, sind unendlich viele. Jeder und jede hat seine, ihre eigene Motivation. Bei mir war es mehr oder weniger diese Neugierde, hinter die Berge zu schauen, hinter die nächste Ecke zu schauen, und so ist es geblieben. Ich war mehr ein Abenteuerbergsteiger und nicht ein Sportler. Heute ist das Bergsteigen mehr Sport, und das ist nicht schlechter oder besser, sondern eben etwas anderes als es in den 70er- und 80er-Jahren war. Wir hatten ja auch noch die Möglichkeit, auf unbekannten Routen auf die Berge raufzusteigen, in die Wildnis zu gehen. Wir waren völlig auf uns allein gestellt. Heute sind ja viele, viele Expeditionen jährlich am Mount Everest zum Beispiel, wo dann die Sherpas eine Piste, eine Infrastruktur herrichten, dass man relativ sicherer wie früher hinauf und herunter kommt. Das ist halt so und das ist auch nicht schlimm. Das Bergsteigen hat sich sehr touristisiert, wenn wir so wollen, und eben mehr sportliche Elemente gekriegt als früher.
Heckmann: Wird es das immer geben, dieses immer schneller, immer extremer, immer spektakulärer?
Messner: Das wurde beim Bergsteigen von Anfang an so gehalten, wie fast in allen menschlichen Tätigkeiten. Wir Menschen sind eben so. Obwohl wir aus verschiedenen Kulturen kommen, am Ende ist nur das schneller, höher, weiter messbar. Und natürlich wollen die Leute, die besser sind als die anderen, auch die entsprechende Anerkennung, die entsprechende Aufmerksamkeit. Heute wird weniger mit Mitteln gerechnet, wenn es um wichtige Bergsteiger geht, sondern um Anerkennung. Auch bei uns war das so. Also das ist nicht wegzudiskutieren. Das ist auch nicht gut oder schlecht. Es wird immer wieder unterstellt, das sei da nur eine Machenschaft. Aber ich glaube schon, dass der Mensch einfach den Wunsch hat, vor sich selber besser zu werden, und ich stehe eindeutig dazu, dass ich immer wieder hohe Ansprüche an mich selber gestellt habe. Und ich habe es halt nicht so gemacht, dass ich dann ein drittes Mal noch schneller auf den Everest hinauf bin, nachdem ich allein den Aufstieg geschafft hatte, sondern ich habe mir dann neue Herausforderungen in anderen Spielfeldern gesucht. Meine dritte Phase des Bergsteigens, nach der alpinen und nach den großen Bergen, den höchsten Bergen der Welt, war dann das Abenteuer in den Wüsten und an den Polen, und auch das war spannend.
Heckmann: Herr Messner, erst vor wenigen Tagen, am 6. August, da ist der schwedische Kamerad der Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner, Fredrik Ericsson, vor ihren Augen abgestürzt, bei dem Versuch, den K2 zu besteigen. Ist das Gefühl, das Sie gerade eben beschrieben haben, dieses Risiko wert?
Messner: Nein, das ist es nicht wert, und niemand geht los mit dem Wissen, dass er da runterfallen könnte, oder dass er von einem Stein getroffen werden könnte. Die Gefahren sind ja viele. Und trotzdem gehen wir los! Also man muss zuerst einmal wissen: Jeder trägt seine Verantwortung selbst, auch im kleinen Team wie bei Frau Kaltenbrunner und Herrn Ericsson. Und was genau passiert ist, werden wir nie erfahren. Es reicht ein einziger Fehltritt, ein kleiner Rutscher, und schon ist jemand gestürzt, und da kann er sich da oben in dieser Steilheit nicht mehr halten. Das ist ja das Schizophrene, dass wir etwas tun – es ist wirklich schizophren -, wobei wir das Leben verlieren könnten, und trotzdem alles, was wir haben, unsere Begeisterung, unsere Mittel, unsere Zeit einsetzen, um das zu machen.
Heckmann: Herr Messner, Sie haben bei der Besteigung des Nanga Parbat Ihren eigenen Bruder verloren, im Jahr 1970 war das. Verfluchen Sie eigentlich diesen Tag, an dem Sie mit Ihrem Bruder aufgebrochen sind, und spüren Sie eine Mitverantwortung?
Messner: Natürlich spüre ich eine Mitverantwortung. Ich bin ja der Überlebende und mir bleibt immer die Tragödie des Überlebenden. Der Tote kann sich ja nicht mehr wehren, er kann auch nicht Verantwortung übernehmen. Die Verantwortung liegt allein bei mir. Die ganze Geschichte ist ja so, dass ich fast angehalten bin, an eine Art Schicksal zu glauben. Mein Bruder sollte nicht zum Nanga Parbat mitgehen. Ausnahmsweise hat sich mein Vater stark gemacht, dass er auch mitgehen könne. Am Ende hat der Expeditionsleiter Herrligkoffer damals auch meinen Bruder mitgenommen, weil andere Kameraden zurückgetreten waren. Die haben dann andere Expeditionen gemacht. So kamen wir zufällig gemeinsam zu diesem Berg. Es gab nur eine ganz kurze Möglichkeit, den Gipfel zu erreichen und zurück ins Lager zu kommen, und das musste ich ohne Seil machen, sonst wäre die Zeit nicht da gewesen. Also habe ich meinen Bruder gebeten, im letzten Lager zurückzubleiben und mir den Rückweg abzusichern, damit ich es beim Abstieg leichter hätte. Und er ist mir, weil die Seile sich verheddert haben, einfach aus freien Stücken nachgestiegen. Als wir auf 8.000 Meter knapp zusammenkamen, unter uns 4.500 Meter Abgrund: gehen wir zurück, um sicher ins letzte Lager zu kommen, oder wagen wir es ganz nach oben? Wir sind aus eigenem Antrieb ganz nach oben gegangen. Wir waren jung, wir waren begeistert, es ging um die höchste Wand der Welt, der Ehrgeiz war natürlich auch nicht null in diesem Alter. Damit haben wir uns beide ohne Kräfte von außen in eine lebensgefährliche Situation begeben und damit begann diese Tragödie.
Heckmann: Haben Sie danach überlegt, das Bergsteigen aufzugeben?
Messner: Richtig. Meine Eltern haben gedrängt, ich möge an die Universität zurückkehren. Die Brüder, meine Freunde, alle waren der Meinung, es geht eh nicht mehr, weil ich mir sieben Zehen erfroren hatte dritten Grades, die zum Teil amputiert werden mussten.
Heckmann: Und weshalb haben Sie trotzdem weiter gemacht?
Messner: Ich habe nach ein paar Monaten erkannt, ich kann meinen Bruder nicht lebendig machen, ich kann die Fakten nicht verändern, wenn ich auf meine große Leidenschaft verzichte, und ich habe erst dann wirklich mit Haut und Haaren das Bergsteigen angefangen.
Heckmann: Wir haben gesprochen mit dem Extrembergsteiger Reinhold Messner. Heute vor 30 Jahren ist es her, dass er alleine und ohne Sauerstoff den Mount Everest bestiegen hat. Herr Messner, ich bedanke mich für das Gespräch.
Messner: Ich danke Ihnen!