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"Ich laufe Kafka hinterher"

Goldschmidt deutet in seinem Essay das Werk Franz Kafkas und es ist ein Plädoyer für den Schriftsteller. Dabei kann Goldschmidt - selbst Kafka-Übersetzer ins Französische - auf ein breites Wissen des Gesamtwerk Kafkas zurückgreifen.

Von Sabine Peters | 24.06.2011
    Ein Mann findet sich eines Morgens in ein Ungeziefer verwandelt. Ein anderer hungert öffentlich, der nächste gibt sich als eine Brücke aus und bricht unter der leichtesten Belastung zusammen. Wieder einer reitet auf einem Kohlenkübel. Ein Schloss ist ein Gebäude, gleichzeitig aber auch eine Vorrichtung zum Einsperren. Und ein Prozess kann eine Gerichtsveranstaltung sein, oder auch, allgemeiner, ein sich hinziehender Vorgang, eine Entwicklung. Franz Kafkas Werk hat zahllose Deutungen erfahren, biografische, psychologische, historische, theologische, sprachphilosophische und medientheoretische.

    Soeben hat der Romancier, Essayist und Übersetzer Georges Arthur Goldschmidt seine eigene Kafka-Lesart veröffentlicht. Goldschmidt wurde 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren. Seine protestantischen Eltern hatten jüdische Vorfahren, und so wurde der Sohn als Elfjähriger in die Emigration nach Frankreich geschickt, wo er die Verfolgung der Nazis in einem katholischen Internat überlebte. Goldschmidt, der seit vielen Jahren in Paris lebt, übersetzte neben Goethe, Nietzsche und Handke auch Kafka ins Französische; er war gefesselt von einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit: Kafkas Texte kamen ihm "einfach", fast kinderleicht und unmittelbar entgegen - und doch bauten sie immer wieder eine unüberwindliche Distanz auf. Eine klare, scharf umrissene Bildsprache bei gleichzeitiger Mehrdeutigkeit: Kafkas Schreiben, so Goldschmidt, kenne keine Wahrheit und keine Lehre; deshalb gehöre Kafka niemandem und allen; er entziehe sich jeder endgültigen Vereinnahmung.

    Georges-Arthur Goldschmidt selbst geht es also seinerseits nicht darum, das Rätsel Kafka restlos zu entziffern. Sein luzider Essay will dieses Rätsel nachbuchstabieren, ohne es zu zerstören. Also keine "Sekundärliteratur", eher möchte man von einem Brief an Kafka sprechen, - dessen Hunger, ja Gier auf Briefpost ist bekannt. Die Subjektivität der Kafka- Lektüre gründet in Goldschmidts eigener Geschichte und Erfahrung, die hier auf unaufdringliche Weise zur Sprache kommt. Als ein Überlebender der Judenverfolgung ist Goldschmidt von Kindheit an geprägt durch das Gefühl der "Schuld", zu überleben, überhaupt zu existieren. Viele seiner Romane, etwa "Die Aussetzung" oder "Die Befreiung" sprechen von dieser zum Himmel schreienden Empfindung. In dem französischen Internat erschienen dem Kind und Jugendlichen Goldschmidt die häufigen, grausamen Strafen allerdings wie ein Beweis: Er war lebendig und sollte es offenbar auch durchaus sein - wenn man ihn denn zu seinem eigenen Besten oft derart schlug, dass er sich nur im Schmerz, im Schrei wiederfinden konnte. "Schuld", "Körper", "Sprache", das sind Themen, um die Goldschmidt in seinen eigenen literarischen Arbeiten in immer neuen Ansätzen kreist. Und es ist plausibel, dass hier einer seiner Zugänge zu Kafka liegt, den er seit den 50er Jahren fortgesetzt liest.

    Das Verbot, zu existieren, die "Seinsschuld" ist eines der großen Motive, die Kafkas Werk durchziehen. Josef K trägt keine Schuld, er "ist" seine Schuld, die von Anfang an feststeht. Goldschmidt staunt über die absurden, unheimlichen und dann wieder komischen Texte Kafkas, in denen immer alles ganz selbstverständlich daherkommt, und doch ist nichts daran "natürlich". Als gehe man hellwach mitten in einen Traum hinein. Die Gestalten Kafkas haben niemals eine Chance, es gibt für sie keine Umkehr, keine Rettung. Goldschmidt sagt: Diese unerbittlichen Text-Träume werden in einer Sprache verwirklicht, die sich gewissermaßen selbst auffrisst - bis sie sich an sich selbst verschluckt.

    In Kafkas Tagebuch vom August 1917 heißt es, Zitat: "Meistens wohnt der den man sucht nebenan" - und dies Zitat ist zum Titel von Goldschmidts Essay geworden. Bei Kafka folgt einer der Zusätze, die darauf hinweisen, dass alles nah und zugänglich, dabei aber doch unerreichbar ist: Denn "man" weiß von diesem Nachbarn nichts, weder dass man ihn sucht, noch, dass er nebenan wohnt. Kafka erzählt fortgesetzt von einem unwiderruflichen Sich-Verfehlen; Geständnis und Lüge sind ununterscheidbar, das Sagen selbst ist immer schon das Verfehlen.

    Es läge nahe, sich an Goldschmidts Stelle hier auf das vergleichsweise sichere Terrain der Sprachphilosophie zurückzuziehen, und der Autor hebt auch Bezüge zwischen Wittgenstein und Kafka hervor. Aber das Faszinosum Kafkas liegt für Goldschmidt darin, dass Kafka nicht etwa das Philosophische ins Literarische verschiebt oder übersetzt, sondern vielmehr darin, dass er das Philosophische i m Literarischen selbst auffindet. Die Abstraktion eines solchen Satzes wird einem beim Lesen verständlich, wenn man beispielsweise das Schreiben von Thomas Mann mit dem von Franz Kafka vergleicht: Hier die Aussagen und Debatten ü b e r philosophische Fragestellungen, da deren Artikulation. Das Literarische Schreiben, so Goldschmidt, will immer vom Unaussprechlichen sprechen und "bricht" sich daran das Wort - Kafka aber mache gerade aus diesem Mangel, aus dieser Ohnmacht den Kern seines Schreibens. Bei ihm werden nicht Ideen diskutiert, es gibt nur Erlebtes, körperlich Widerfahrenes.

    Viele Gestalten Kafkas wandern nicht dem Tod, sondern dem Todesurteil entgegen, sie leben immer schon in einer Welt "nach der Gnade", so heißt es einmal bei Goldschmidt. Beiläufig sein Hinweis auf Primo Levi, einen Überlebenden der Shoa. Primo Levi berichtete, wie ein SS-Man in Auschwitz zu ihm sagte: "Hier gibt es kein Warum." Goldschmidt hat diese Bemerkung in einer Fußnote untergebracht; sein Essay bleibt im Schwerpunkt bei der Literatur Kafkas, die er ausführlich zitiert und von der er sagt: Die exakteste Deutung bestünde darin, diese Literatur Wort für Wort abzuschreiben. Und in der Tat paraphrasiert Goldschmidt ausführlich - aber eben diese geduldige und gleichzeitig leidenschaftliche Arbeit macht das Faszinosum seines Essays aus. Da heißt es einmal: Kafka läuft der Sprache hinterher, ich laufe Kafka hinterher.

    Goldschmidts "Post" hat einen Leser spätestens dann erreicht, wenn er nach der Lektüre erneut zu Kafka greift.

    Georges-Arthur Goldschmidt: Meistens wohnt der den man sucht nebenan. Kafka lesen. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Fischer-Verlag, 144 Seiten, 16,95