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"Ich mag die Natur nicht so sehr"

Auch das dritte Album der stets etwas enigmatischen US-Songwriterin Julia Holter wird durch eine thematische Klammer zusammengehalten: Diesmal lässt sie ein Alter Ego namens Gigi durch eine fiktive Großstadt wandern. Am Ende, verspricht Holter, wartet nichts weniger als "eine gute Apokalypse".

Mit Dennis Kastrup | 17.08.2013
    Dennis Kastrup: Wenn Sie Städte zum ersten Mal besuchen, was machen Sie dann?

    Julia Holter: Ich liebe es sehr, spazieren zu gehen. Ich schaue mir die Architektur, das Laubwerk, Pflanzen, Parks, Restaurants und ihr Essen an. Ich mag Nahrung. Ich höre mir dann auch immer an, wie die Stadt klingt. In Los Angeles hört man zum Beispiel immer das Summen der Autobahn. Das finde ich sehr schön.

    Kastrup: Sie mögen tatsächlich das Geräusch einer Autobahn?

    Holter: Ja, und wenn ich gerad gesagt habe, dass man überall die Autobahn hören kann, dann ist das schon eine sehr subtile Wahrnehmung. Ich meine nicht, dass man es tatsächlich hört. Also ich will jetzt nicht direkt an einer Autobahn wohnen, so wie manche, die ihre Wohnungen direkt neben der Autobahn haben. Das wäre nicht so toll. Aber man hört die Straße in der Entfernung. Das ist eine sehr nahe Realität.

    Kastrup: Haben Sie bei diesem Album neue Klänge von Los Angeles entdeckt?

    Holter: Das Album stellt eine Simulation von irgendeiner Stadt dar. Es ist unklar, um welche Stadt es sich genau handelt. Es soll für jede Stadt stehen und könnte auch die Gesellschaft darstellen. Das Bild einer unbestimmten Stadt steht dann für die Gesellschaft. Dieses Album lässt sich am besten und einfachsten mit den Worten zusammenfassen: Es geht um die Suche nach Wahrheit und Liebe in einer oberflächlichen Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist sehr laut und von Reality-TV besessen. Wenn ich also Stadt sage, können es auch das Internet und die Gesellschaft sein. Ich will das Album aber nicht "Loud Society Song", also "Laute Gesellschaft Song" nennen. Es ist eben verlockend und aufregend, die Probleme der Stadt oder der Gesellschaft so zu entdecken, anstatt nur da zu sitzen und zu singen: "Ich hasse die Gesellschaft!" [singt]. Das will ich nicht wirklich auf diese Art und Weise sagen. Ich will das interessanter gestalten.

    Kastrup: Sie haben für die Geschichten auf dem Album die Protagonistin Gigi als erzählendes "Ich" gewählt. Es ist ein Charakter aus dem gleichnamigen Roman von Sidonie-Gabrielle Colettes. Die Protagonistin lebt im Paris um die Jahrhundertwende. Was war damals in Ihren Augen in den Städten mit der heutigen Zeit vergleichbar?

    Holter: Zum Beispiel das Tratschen über die Leute. Das wird offensichtlich nie aufhören. Das ist wohl ein Teil des menschlichen Wesens. Ich will auch nicht behaupten, dass wir das beenden können. Ich denke aber schon, dass es heutzutage extremer ist. Man kann da verrückte Züge erkennen, weil wir alle einen einfachen Zugang zum Internet haben. Vorher war das anders. Im Text zu dem Album kann man nachlesen, dass ich mich auf dieses Wochenmagazin beziehe. Das nannte sich Gil Blas. Eigentlich war das eine tägliche Zeitung, aber es gab einmal in der Woche eine Ausgabe mit einer Illustration auf dem Cover. Das war in den 1890ern. Jede Woche stand darin die neueste Intrige, also die neuesten Gerüchte über Prominente. Das aktuelle Gerücht wurde also auf das Cover gemalt, obwohl das nur eine normale Tageszeitung war. Sie haben aber auch Gedichte und Ähnliches veröffentlicht. Es war also wie eine kleine wöchentliche Ausgabe von "The New Yorker". Berühmtheiten haben die Leute immer schon fasziniert. Und heute ist es total verrückt: Alles ist laut, es wird einem quasi aufgedrungen. Wenn man seinen Fernseher anmacht, dann sieht man sogar in den Nachrichten viel über Berühmtheiten. In der "Huffington Post" sind die beliebtesten Nachrichten die über Kim Kardashian oder was die Leute bei den Grammys tragen. Es scheint also alles viel aufdringlicher als damals zu sein, obwohl es damals wohl auch aufdringlich gewesen sein muss. Das weiß man nicht genau. Es ist wahrscheinlich auch nicht wichtig, wie sich die unterschiedlichen Epochen ähneln. Es gibt diese Verbindung aber.

    Kastrup: Sie machen das Internet auch verantwortlich. Ist das Beschweren über das Internet nicht langsam auch ein wenig überflüssig? Schließlich haben wir uns doch mittlerweile daran gewöhnt, oder?

    Holter: Ich bin mir nicht sicher, ob das von meiner Seite aus ein Beschweren ist. Es ist wohl eher eine Beobachtung. Es gibt zum Beispiel Untersuchungen über Musik in der Werbung. Sie haben sich die Pegel in jetzigen Werbesongs angeschaut. Eigentlich tragen die Stücke keine Bedeutung mit sich. Sie sind einfach nur die ganze Zeit laut. Wenn man sich den Dezibelausschlag anschaut, dann ist das in dem Bereich alles nur verzerrt. Chaos und Krach sind für mich keine Probleme. Ich bin auch ein Stadtmensch. Ich mag die Natur nicht so sehr, ich fühle mich darin nicht sehr wohl. Ich muss die ganze Zeit mein Telefon bei mir haben. Ich bin also nicht gegen die Technologie. Bei mir geht es mehr um die Lautstärke. Vielleicht liegt das eben hauptsächlich an dem Aufwachsen mit der Werbung und Kommerzialisierung. Ich will da aber auch nicht zu viel drüber reden und politisch werden. Es stimmt nun mal, dass es eine sehr lärmende Welt ist. Wenn ich also Stadt sage, ist die Stadt eben die Verkörperung von etwas Größerem. Die Stadt ist also nicht mehr der Platz für die Gerüchteküche. Es gibt viel mehr Tratsch im Internet und weniger auf der Straße.

    Kastrup: Das Album hat sehr viele hektische Momente. Das erinnert mich ein wenig an "Die Sinfonie der Großstadt", wie zum Beispiel das Stück "Horns Are Surrounding Me". Wie sind sie an die Stücke herangegangen?

    Holter: Für mich dreht es sich in dem Stück darum, dass ein Typ von Paparazzi gejagt wird. Die Paparazzi werden von Musikern dargestellt, also von den Instrumenten: den Hörnern, die in meinen Ohren scheppern. Das soll sich aber alles in meinem Kopf abspielen. Es ist sehr beängstigend, wenn Paparazzi jemanden verfolgen. Ich sehe das nur manchmal hier, weil ich nicht in dem Teil von Los Angeles lebe, der wie Hollywood ist. Man sieht das aber schon manchmal, wenn eine berühmte Person mit einem im Geschäft ist. Dann sieht man Leute hinterher kommen. Das ist sehr beängstigend. Es fühlt sich an, als hätten sie Gewehre, aber das sind ihre Kameras. Das ist sehr unangenehm. Der Song handelt also von diesem Typen, der von diesen Leuten oder eben Instrumenten verfolgt wurde. Es soll sich um die sich entwickelnde Angst drehen.

    Kastrup: Sind sie denn gar nicht an Berühmtheiten interessiert?

    Holter: Ich mag es, mir die Grammys anzuschauen und zu sehen, was die Leute tragen. Das macht Spaß. Als ich ein Kind war, habe ich mir gerne das Musical "Gigi" angeschaut und auf die Kleider geachtet. Ich gucke mir auch manchmal das People-Magazin an, um die Kleider zu sehen, die die Berühmtheiten tragen. Ich behaupte nicht, dass ich dagegen immun bin. Ich benutze ja auch das Internet. Es ist nicht so, dass ich die Gesellschaft hasse und in den Wald gehe, um zu flüchten. Ich stelle mir nur die Frage, ob mich die Geschichte irgendeiner Frau aus – sagen wir Orange County - überhaupt interessiert. Es ist total schlimm dort, wo sie lebt. Außerdem hat sie bereits zehn Schönheitsoperationen hinter sich. Will ich aber mehr über diese Person wissen? Keine Ahnung, vielleicht will man das, aber will ich, dass sie weiter als Symbol für die Bedeutung in einer Gesellschaft stehen sollen? Das will ich damit ausdrücken. Das kann für mich ein Problem sein.

    Kastrup: Sie haben sich auf dem Album davor sehr viele Regeln beim Texten gesetzt. Gab es dieses Mal auch wieder einen lyrischen Rahmen?

    Holter: Dieses Album habe ich einfach geschrieben. Es gab keine Systeme, die ich benutzt habe. Auf dem Vorgängeralbum "Tragedy" habe ich ein paar Formate benutzt und viele verschiedene Wege des Textens versucht, weil es schwierig für mich ist, einfach so Texte zu schreiben. Das ist eine Herausforderung. Bei dem neuen Album bin ich sehr stolz darauf, tatsächlich alle Texte ohne ein bestimmtes Regelsystem geschrieben zu haben, frei und ohne eine bestimmte Schablone.

    Kastrup: Sie konnten sich also entfalten und im letzten Stück in einen Untergang gehen. Was steckt dahinter?

    Holter: Das Album endet mit einer Art Apokalypse. Für mich ist das eine gute Apokalypse. Es ist eine Erneuerung von all dem davor. Jeder findet also die Wahrheit und die Liebe. Es gibt dann diese Orgie von Liebe und alles brennt nieder. Das ist wie eine Erneuerung. Für mich ist das tatsächlich hoffnungsvoll. So endet das. Es gibt aber auch Momente, in denen man einfach die Stadt umarmen, einatmen und genießen sollte.