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"Ich möchte gar nicht über den Tod schreiben"

Selten findet man eine Autorin, der es gelingt, einen zum Lachen zu bringen, obwohl es um wirklich ernste Themen geht. Und das liegt daran, dass Jenny Valentine fantastische Geschichten mit interessanten Figuren und lebensnahen, heiteren Dialogen schreibt.

Jenny Valentine im Gespräch mit Ute Wegmann | 10.04.2010
    Im März 2009 erschien ihr erster Roman "Finding Violet Park" in Deutschland - unter dem Titel "Wer ist Violet Park?". Der neue Roman heißt "Kaputte Suppe", "Broken Soup".

    Ute Wegmann: Sie haben englische Literaturwissenschaften studiert, als Lehrerin gearbeitet und als Schmuckherstellerin. Waren das Durchgangsstationen zum Schriftstellerleben?

    Jenny Valentine: Ich wollte immer schon Schriftstellerin werden. Seitdem ich neun bin, war mir das klar. Aber als Teenager kam mir das zu ehrgeizig vor und dann habe ich behauptet, dass ich es nicht mehr will. Alles, was ich gemacht habe, hat mir Spaß gemacht. Ich habe es nicht so empfunden, dass es mich vom Schreiben abgehalten hat. Zum Beispiel war ich keine Lehrerin, sondern nur eine Referendarin. Ich hatte den schönen Teil der Arbeit. Ich konnte mit den Kindern spielen und Hausaufgaben machen. Alle diese Jobs waren tatsächlich Stationen, um auf dem Weg zum Schriftstellerdasein etwas zu lernen. Aber ich habe darüber nicht nachgedacht. Ich war einfach noch nicht bereit, um loszulegen. Und ich habe immer gesagt, dass Lesen die beste Übung war, um Autorin zu werden. Ich habe total viel gelesen. Aber vor allem musst du raus in die Welt, wenn du über die Welt schreiben willst.

    Wegmann: England blickt auf eine lange Tradition herausragender Kinder- und Jugendbuchautoren. Auf literarisch hohem Niveau, spannend und psychologisch einfühlsam erzählt und heiter, mit gutem Witz - das bescheinigt man dem englischen Kinderroman. Was haben Sie gelesen? Hatten Sie Vorbilder?

    Valentine: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Helden oder Vorbilder hatte. Ich mochte Spike Milligan. Er war unglaublich komisch. Das Buch hieß "Silly verse for kids". Und ich liebte Joan Aiken. Ich mochte Susan Cooper. Als Jugendliche war mein Favorit Kurt Vonnegut. Ihm gelingt es, in einem Satz gleichzeitig zärtlich und komisch und wahnsinnig traurig zu sein. Und das schafft er mit ganz einfachen Worten. Ich habe das für mich entdeckt.

    Wegmann: Eine Pressestimme sagt: Keine Inhaltsangabe dieser Welt könnte das Besondere dieses klugen Buches und die entzückend erzählten Passagen auch nur annähernd wiedergeben. Ich versuche es trotzdem: "Wer ist Violet Park?" erzählt die Geschichte des 16-jährigen Lucas, der eines Nachts vom Besuch eines Freundes kommt und in einer Taxizentrale eine Urne findet. Das macht ihn nervös, dass die Urne dort in einer solch unangemessenen zigarettenverseuchten Umgebung steht und er beschließt, sich um die Urne zu kümmern. Ein Aufkleber verrät, wer sich in der Urne befindet: Violet Park (1927-2002). Die Beschäftigung mit der Urne führt zu einer Auseinandersetzung mit Tod und Verlust und der Abwesenheit des Vaters, der die Familie verlassen hat und seitdem spurlos verschwunden ist. Lucas hofft, dass er irgendwann zurückkehren wird. Mehr und mehr verknüpfen sich durch die Recherchen des Jungen die Lebenswege der toten Violet Park mit denen seines Vaters Pete. Zum Schluss muss Lucas feststellen, dass es schwierig ist, die Wahrheit herauszufinden, die Wahrheit, ob der Vater ein Held ist oder ein Egozentriker. Es spielt aber auch keine Rolle mehr: Lucas hat sich weiterentwickelt. Wie kamen Sie auf die Idee mit der Urne in der Taxizentrale?

    Valentine: Die Frage bringt mich immer zum Schmunzeln, weil mir diese ungewöhnliche, originelle Idee soviel Lob eingebracht hat. Aber wie alle guten Ideen kommt auch diese direkt aus dem wirklichen Leben. Ich kannte eine ältere Dame. Sie war Kundin in einem Laden in London, in dem ich gearbeitet habe. Sie war sehr alt und sehr exzentrisch. Und sie war die erste alte Dame, die ich jemals kennenlernte, die sich richtig schlecht benommen hat. Und ich mochte sie sehr gerne. Ihr Name war Eileen. Als sie starb, wurde ihre Asche in einem Büro auf einem Regal deponiert, genau gegenüber von dem Laden, in dem ich arbeitete. Und ich dachte, wie schrecklich, an einem solch merkwürdigen Ort zu enden. Die Schriftstellerin in mir aber dachte: Jetzt habe ich den Anfang einer Geschichte. Eileen wäre nicht verärgert darüber, im Gegenteil: Sie würde sich über soviel Aufmerksamkeit freuen. Eileen ist immer noch in einer Urne auf einem Regal in einem Büro. Aber wir haben beschlossen, dass sie es mag. Eigentlich war es ihr Wunsch, dass man sie in die Themse streut. Das ist ja auch Violets Wunsch. Und hin und wieder sagen wir: Wir müssen das noch machen. Aber wir haben es noch nicht getan. Sie ist noch nicht so weit. Im Gegenteil: Ich glaube, dass sie es genießt, Violet Park zu sein. Ganz ehrlich. Also die Idee kam aus der Wirklichkeit. Ich habe es nicht erfunden.
    Wegmann: In dem ersten Roman haben wir es mit einer toten alten Dame zu tun, in dem zweiten Roman geht es ebenfalls um Tod. Die 15-jährige Rowan kümmert sich um ihre kleine Schwester und um ihre depressive Mutter seitdem ihr heißgeliebter Bruder Jack bei einem tragischen Badeunfall ums Leben kam. Auch hier verlässt der Vater die Familie. Eines Tages – im Supermarkt – spricht ein Junge sie an und gibt ihr ein Fotonegativ. Er behauptet, sie habe es verloren. Tage später lernt Rowan Bee kennen, sie hatte die Szene im Supermarkt mitbekommen. Sie wird Rowan anbieten, das Negativ in ihrer Dunkelkammer zu entwickeln und auf dem Foto erscheint ein lachendes Gesicht, das Rowan allzu vertaut ist. Das Gesicht ihres toten Bruders Jack. Auch in Ihrem zweiten Roman geht es also um Tod. Was fasziniert Sie an dem Thema?

    Valentine: Ich möchte gar nicht über den Tod schreiben, sondern über das, was danach kommt. In "Violet Park" und "Kaputte Suppe" geht es weniger um die Menschen, die gestorben sind, sondern es geht um die Lücke, die sie hinterlassen und wie sie wieder mit Leben gefüllt wird.

    Wegmann: Die Toten in Ihren Büchern vereinen die Lebenden. Das ist ein interessanter Gedanke.

    Valentine: Darüber habe ich nicht nachgedacht. Wenn ich anfange zu schreiben, kenne ich manchmal das Ende noch nicht. Die Geschichte entwickelt sich von selber weiter. Ich glaube, ich interessierte mich für eine ungewöhnliche Freundschaft. Und wie sie sich entwickelte. Einer meiner Lieblingsfilme ist Harold and Maude, über eine wundervolle Freundschaft zwischen einem jungen Mann und einer älteren Dame. Er ist einiges jünger als sie. Und in "Kaputte Suppe" geht es ums Loslassen. Jemanden wie Jack loszulassen, der gestorben ist. Und es geht darum, das Leben weiterzuleben, einen neuen Weg zu finden, ohne den Menschen.

    Wegmann: Tod ist aber nur ein Thema. Es geht um Zufall. Um das zufällige und plötzliche Aufeinandertreffen zweier Menschen. Glauben Sie an Zufall oder Schicksal?

    Valentine: Ich weiß es wirklich nicht. Ich finde die Idee des Zufalls absolut faszinierend. Es geht aber ja in den Büchern auch um Dinge, die nicht passieren. Nicht nur um das, was passiert. Das Spiel mit den Möglichkeiten gefällt mir. Zwei Minuten später um die Ecke gebogen und man wäre sich nicht begegnet: Das verblüfft mich immer wieder. Ich weiß nicht, ob ich an Schicksal glaube, weil ich auch an die Wahl glaube, an die Selbstbestimmung. Du kannst Entscheidungen treffen, die dein Schicksal verändern. Es ist ein spannendes Gebiet, dass man erforschen kann.

    Wegmann: Außerdem geht es um Geheimnisse, die aufgedeckt werden müssen, Familiengeheimnisse. Und somit geht es auch um die Kommunikation zwischen den Generationen. Ist das ein wichtiges Motiv, Dinge nicht unter den Teppich zu kehren?

    Valentine: Beim Schreiben denke ich nicht über so was nach, erst später, wenn mir jemand solche Frage stellt, dann denke ich: Ja, das ist wirklich wichtig. Mir ist aufgefallen, dass Familien sich manchmal verhalten wie eine Gruppe von Fremden, die auf einen Bus warten oder so. Sie sprechen nicht richtig miteinander. Familien haben immer Geheimnisse. Und Erwachsenwerden bedeutet, dass dir das bewusst wird, dass deine Eltern nicht nur deine Eltern sind, sondern Menschen, die etwas verbergen. Vielleicht ist es im wirklichen Leben nicht immer wichtig, Geheimnisse zu lüften, aber in einer Geschichte über Familie schon.

    Wegmann: Oft übernehmen Kinder die Aufgaben der Erwachsenen, zeigen sich verantwortlicher als ihre Eltern. Die Erwachsenen sind oft schwach, der Realität nicht gewachsen. Erleben Sie die Kindheit der heutigen Kinder so?

    Valentine: Ich finde, dass Kinder sehr starke Persönlichkeiten sind. Besonders die ganz jungen in meinen Büchern, das sind die Stärksten, weil sie nur im Augenblick leben. Ich glaube, wenn man vor und zurück schaut, wenn man Dinge bereut und Sehnsüchte hat, das schwächt. Die ganz Kleinen sind immer noch bei sich. Und Jugendliche? Ich würde nie behaupten, dass Teenager immer stark sind und Erwachsene schwach, aber sie haben eine innere Kraft. Und wenn du ein Buch über Jugendliche schreibst, willst du dass jugendliche Leser den Protagonisten folgen können. Deshalb sind sie natürlich die Helden meiner Geschichten.

    Wegmann: Sie wählen Ich-Erzähler. Egal ob der 16-jährige Lucas oder die 15-jährige Rowan, sie sind sehr nah am Empfinden der Teenager, treffen einen Ton, der dennoch weit entfernt ist von Jugendsprache und Laxheit. Ihre Sätze fließen dahin und sind dennoch anspruchsvoll.

    Valentine: Ich glaube, dass es schrecklich gefährlich ist, wenn man wie ein Student oder Jugendlicher klingen möchte. Die Sprache ändert sich ja auch ständig. Und ich finde nichts peinlicher als eine 40-Jährige, die wie ein Teenager klingen möchte. Das wäre falsch. Als ich Lucas schrieb, war es sehr einfach seine Stimme zu finden. Er war die erste Figur, die ich erfunden habe. Es war eine ungewöhnliche Erfahrung. Er betrat die Seite und ich folgte ihm einfach. Ich benutzte einfache Worte. Ich habe kein Interesse daran, fünf Wörter zu schreiben, wenn eins genügt. So flossen die Sätze einfach dahin und die Bücher sind wirklich nicht kompliziert geschrieben. Ehrlich gesagt habe ich mich nicht übermäßig gequält. Ich war allerdings bei "Kaputte Suppe" besorgt, dass Rowan so klingen könnte wie Lucas. Aber sie ist ganz anders geworden und ihr Charakter ist beim Schreiben gewachsen. Am Anfang hatte sie eine Art Schutzschild angelegt und als Autor war es schwierig, an sie heranzukommen. Dann habe ich gemerkt, das ist nur ein Teil ihres Charakters. Die Stimmen der Figuren kommen von innen, vom Charakter der Figuren und ich habe es vermieden, Umgangssprache zu benutzen, weil sie so schnell überholt ist. Ich glaube, es ist der Teenager in mir, der sich äußert.

    Wegmann: Ist es einfacher, in der ersten Person zu schreiben?

    Valentine: Für mich ja. Auf jeden Fall. Ich finde es einfacher, eine Person mit einem begrenzten Blick auf Ereignisse zu sein, anstatt wie ein Puppenspieler in verschiedene Köpfe schauen zu müssen. Vielleicht probiere ich das irgendwann aus. Aber jetzt bin ich noch nicht an dem Punkt.

    Wegmann: Jenny Valentine, Ihre nächster Roman ist bereits geschrieben, und wird gerade übersetzt. Wieder von Klaus Fritz, der bereits ihre beiden anderen Romane übersetzt hat. "The Ant Colony", "Die Ameisenkolonie". In zwei Sätzen: Worum geht es diesmal?

    Valentine: Es gibt zwei Erzähler in der Ameisenkolonie. Ein 17-jähriger Junge mit Namen Simon, der von Zuhause wegläuft und die zehnjährige Bohemia. Sie haben beide eine Stimme im Roman. Es wird abwechselnd erzählt. Simon versucht, sich zu verstecken. Er kommt vom Land nach London. Er will dort untertauchen. Aber Bohemia lässt ihn nicht in Ruhe. Ähnlich wie bei "Violet Park" und "Kaputte Suppe" geht es um das, was bleibt, wenn jemand verschwindet. "Die Ameisenkolonie" erzählt vom Weglaufen, von einer Person, die weggeht. Und es ist wieder ein Buch über eine Freundschaft. Über eine ungewöhnliche Freundschaft.

    Die Bücher:

    "Wer ist Violet Park?" und "Kaputte Suppe", Jugendbücher ab 13. Beide erscheinen bei dtv/Reihe Hanser.