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Ich muß los

Fräuleinwunder - dieses kuriose Attribut zierte zuletzt die geschäftstüchtige Claudia Schiffer oder Ute Vogt, SPD-Kandidatin im Baden-Württemberger Wahlkampf. Vor etwa zwei Jahren jedoch bezeichnete dieses Wort ein literarisches Phänomen: die große Zahl junger deutscher Frauen, die plötzlich mit ihren ersten Büchern Erfolg hatten. Annette Pehnt könnte gut ein Nachtrag zum literarischen Fräuleinwunder sein, denn wie viele ihrer Kolleginnen vereint auch sie eigentlich sehr wenige fräulein-hafte Eigenschaften auf sich: Sie hat zwei Kinder, ihren ersten Roman hat sie jetzt mit Mitte 30 bei Piper vorgelegt.

Dina Netz |
    Doch dies ist auch schon die einzige Eintrittskarte für Annette Pehnt zum Zirkel der literarischen Fräulein. Während zum Beispiel Judith Hermann oder Julia Franck sich an den großen Themen wie Vergänglichkeit, Liebe oder Sex abarbeiten, hält Annette Pehnt den Fokus so klein wie möglich. Sie beschreibt schlicht den Anfang des Lebenswegs einer Figur, und zwar einer äußerst befremdlichen Figur. Annette Pehnts Protagonist in "Ich muß los" heißt Dorst. Wer dabei an Tankred Dorst denkt, geht Annette Pehnt gleich zu Beginn in die Falle. Denn der Name soll nun gerade keine Assoziationen wecken:

    Das sind wirklich Namen gewesen, die eigentlich den Anfang des ganzen Romans ausgemacht haben. Die haben, muss ich wirklich sagen, keinerlei Geschichte, das sind auch keine Referenzen, keine Anspielungen. Die stehen eigentlich so für sich, wie ich denke, dass die Figuren auch für sich stehen. Also, dieser Dorst - der Name war das erste, was ich hatte. Und der war so eigenartig, dass ich mir dazu dann diese eigenartige Figur herbeigeschrieben habe. Und die hat dann sozusagen weitere Kreise geschlagen.

    Eigenartig, umreißt Annette Pehnt den Charakter ihres Protagonisten Dorst. Rätselhaft, sagt Dorsts Wegstückgefährtin Elner. Möglich, dass Dorst durch die Widrigkeiten seiner Kindheit so geworden ist. Sein Vater stirbt früh, und die Mutter lässt den Jungen nicht Abschied nehmen, verschließt die Tür zum Sterbezimmer. Sie bereitet Dorst zusätzliches Ungemach, indem sie sich sehr bald mit einem Kollegen des Vaters, Herrn Quoirin, trifft. Herr Quoirin schleimt sich bei der Mutter mit Keramikschafen und Ebenholz-Elefanten ein. Die Tür zum Arbeitszimmer, dem Sterbezimmer des Vaters, bleibt weiter verschlossen. Dorst scheint der Mutter vor allem als Projektionsfigur für ihre Karrierewünsche zu dienen - sie will sein Einserabitur unbedingt in eine fulminante Musikerlaufbahn ummünzen. Trotzig holt der Junge - zum Entsetzen der Mutter - die alten, schwarzen Kleider seines Vaters aus dem Keller und trägt diese von nun an beharrlich. Beide, die Mutter und ihr Herr Quoirin, meinen es in ihrer bürgerlichen Betulichkeit trotz allem gut mit Dorst, aber sie ersticken ihn auch:

    Als Kind sagte Dorst die Wahrheit. Wenn die Mutter ihn fragte, schmeckt es, sagte er oft ja. Manchmal auch nein. Dann konnte es passieren, dass sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten. Das tat Dorst leid, aber er konnte ja nichts dafür. Er sagte dann, tut mir leid, Mami. [...] Bald merkte Dorst, dass niemand die Wahrheit mochte. Er beschloss, von nun an nicht mehr die Wahrheit zu sagen. Also schwieg er. Seitdem knackte sein Kiefergelenk beim Gähnen.

    Obwohl der Roman dies nahe legt, wehrt sich Annette Pehnt gegen eine Deutung von Dorsts Welt-Abgekehrtheit als Resultat seiner Kindheitsblessuren: Man könne Dorst nicht unter einem Kapitel in einem psychologischen Lehrbuch verbuchen, denn manchmal habe er ja auch erbauliche Begegnungen. Man kann diesen Dorst nicht nur unter keinem Lehrbuch, sondern auch nicht unter einem geläufigen literarischen Typus verbuchen. Er ist kein von der Gesellschaft abgekehrt lebender Künstler, kein Verweigerer, kein an seinen Illusionen Gescheiterter. Dorst lässt sich schlicht durch den Tag und die Wochen treiben. Im Grunde also auch keine besonders aufregende Figur. Aber gerade diese Nicht-Erfüllung der Erwartung, dass er sein Geheimnis schon noch lüften wird, macht die Figur doch wieder interessant.

    Der, neben der Kindheit, zweite wesentliche Erzählstrang von "Ich muß los" befasst sich mit Dorsts Frauengeschichten. Wobei "Strang" hier eigentlich nicht der richtige Begriff ist, denn Annette Pehnt erzählt nicht chronologisch, sondern blendet ständig vor und zurück, ohne dadurch jedoch zu verwirren. Zunächst reißt sie knapp zwei kurze Affären an, bevor Dorst sich bei einer der Stadtführungen, mit denen er gerade ein bisschen Geld verdient, Elner kennenlernt.

    Elner ist Lehrerin, trägt ein indigofarbenes Schultertuch mit Mohnblüten und engagiert sich für amnesty international. Während Elner Butterbrotstapel auf dem Frühstückstisch auftürmt, liest Dorst Zeitung. Zu Dorsts Sonderling-Dasein gehört nämlich vor allem, dass er nicht viel sagt. "Eigentlich bin ich schweigsam", ist eine seiner ganz wenigen Selbstaussagen:

    Er ist jemand, der auch mit der Sprache keine Einbindung sucht. Und ich denke, wenn man sich sprachlich einbinden will, muss man auch bereit sein, Spiele mitzuspielen, Floskeln zu verwenden, also in die ganze Sprachapparatur auch einzutauchen, die zu unseren Spielregeln gehört. Und da er Spielregeln sich wenn dann höchstens selber macht oder die, die ihm vorgegeben werden, eher bricht, gilt das dann auch für die Sprache.

    Doch aus Dorsts Eigenarten wird bei Annette Pehnt kein Romanthema. Es geht ihr nicht um eine Botschaft wie zum Beispiel: "Wir kommunizieren ständig, ohne etwas zu sagen." Genau so verhält es sich mit dem zweiten Thema, das man aufzuspüren meint: der Rastlosigkeit. "Ich muß los", ist der häufigste Ausspruch Dorsts, in der Wortwahl mitunter leicht variiert. Rastlosigkeit ist sein einziges wirklich markantes Charakteristikum. Trotzdem wehrt sich Annette Pehnt im Gespräch vehement dagegen, die moderne Atemlosigkeit als Grundthema des Romans zu verstehen:

    Ich habe sicherlich nicht mit `ner Botschaft im Kopf geschrieben. Es ging mir viel zu sehr um diese eine Figur in ihrer Rätselhaftigkeit. Und dass die rastlos ist, ja, das war schon für mich ein Thema, das wollte ich auch beschreiben. Ich wollte jemanden beschreiben, der keine Beheimatung zulässt. Das war schon das Thema, was mich interessiert hat. Aber ich habe das eigentlich nicht in einem größeren gesellschaftlichen Kontext gesehen.

    Annette Pehnt weist jegliches Zitat aus jeglichem Theoriegebäude strikt von sich, was teilweise etwas bemüht wirkt. Wenn man ihr jedoch zugesteht, dass der Roman kein Thema hat, sondern das Thema die Beschreibung der sperrigen Hauptfigur ist, dann ist ihr Buch ziemlich originell.

    Genau wie gegen Programme wehrt Annette Pehnt sich gegen bewusste literarische Analogien. Sie scheint selbst überrascht, festzustellen, dass ihre schrägen Figuren vielleicht Ähnlichkeiten zu denen ihres Lieblingsschriftstellers Flann O'Brian aufweisen.

    Um ihrem Protagonisten Dorst seine Fremdheit zu lassen, schreibt Annette Pehnt vollkommen unpsychologisch. Einblicke in sein Seelenleben hätte sie als zudringlich empfunden, sagt sie. Dennoch liegt die Sympathielenkung spürbar beim Protagonisten, und deshalb folgt man der Geschichte gern, trotz Dorsts Unnahbarkeit. Konsequent hat Annette Pehnt zu ihrem sich entziehenden Helden einen lakonischen, fast kargen Ton gewählt, der gut zur vorsichtigen Beobachtung ihres Protagonisten paßt. Und der dennoch die Figuren ironisch oder zärtlich begleitet. Jedes Wort trifft mit Präzision, keines stört oder fehlt. Diese Souveränität überrascht.

    Ein Wunder nun ist immer auch etwas, was überrascht. Zumindest insofern kann man Annette Pehnt und ihren Debütroman vielleicht in die Rubrik "Fräuleinwunder" aufnehmen.