"Warum sind die Leute so feige?
Dafür gibt's doch gar keinen Grund.
Ach, es sterben die blühenden Zweige,
und das Leben geht immer zur Neige –
doch sie halten verbissen den Mund.
Warum sind die Leute so träge
und befreien sich nicht aus der Not?
Ach, sie schlucken den Schlamm und die Schläge,
und der Sargtischler kommt mit der Säge –
doch sie schweigen sich durch bis zum Tod.
Warum sind die Leute so fügsam
und fürchten den leisesten Wind?
So wie Gerten: geschmeidig und biegsam
und im Leben und Tode genügsam.
Sei nicht wie die Leute, mein Kind!
Sei nicht wie die Leute, mein Kind!"
Es gibt Lieder mit und ohne Musik. Seit den 80er-Jahren hat Georg Kreisler nur noch Lieder ohne Melodie und Klavierbegleitung geschrieben. Seine Autobiografie hat er 'Letzte Lieder' genannt, aber Buchtitel müssen ja nicht stimmen.
Im April 2001, mit 78 Jahren, gab er seinen letzten Chansonabend. Aber das Leben fließt und jetzt ist er 87, schreibt vor allem Romane, Opern und Gedichte und erwägt wieder neue Auftritte.
Mit sieben begann Georg Kreisler Klavier zu spielen, sein Vater war dagegen, später kamen Geige und Harmonielehre hinzu.
Mein Vater war Rechtsanwalt und sprach perfekt Latein, sonst wenig. Meine Mutter lächelte mich stets an, wenn sie mich prügelte. Ich habe beiden viel zu verdanken, denn sie verschafften mir eine verhältnismäßig günstige Kindheit, verglichen mit afrikanischen Kindheiten. Immerhin hatte ich keine Geschwister und durfte einsam sein.
… so Kreisler in seinen bisher nicht veröffentlichten Memoiren über seine Wiener Kindheit.
Als ich 16 Jahre alt war, ging das Klavierspielen noch recht gut, aber kurz danach mussten wir nach Amerika auswandern. Es war 1938, ein ungutes Jahr für die Juden in Österreich, und ich musste Jude üben, statt Klavier. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Kabarettist? Er glaube nicht, dass er je Kabarettist war, schreibt Kreisler in seinen letzten Liedern, "hoffentlich nicht", setzt er nach.
Autobiografie? Wer darin vor allem eine Schilderung seines Lebens erwartet, wird nicht satt.
Die Autobiografie eines 87-Jährigen kann nur unbegreiflich sein, also werde ich mich nicht begreiflich machen können. Aber ich hoffe, dass man mir mein Leben nachfühlen kann und keine Schilderung erwartet. Die Unbegreiflichkeit ergibt sich dabei von selbst, so wie sich die Begreiflichkeit eines Computers von selbst ergibt. Ich benütze keinen Computer.
Georg Kreisler empfindet sich durch und durch als Künstler. Und die Kunst, die er verficht, will Erkenntnisse freilegen, die hinter den Tatsachen liegen. Kunst als Kritik an den Verhältnissen, Kunst als Lebensmittel. Und da sind wir schon mittendrin in Kreislers Versuch über Gott und sein Leben, über seine Wünsche und Träume. Mittendrin in seinem Angriff auf Kommerz, Kulturbetrieb und andere goldene Kälber.
Die Wirklichkeit unseres Lebens, schreibt er, können wir nicht direkt, sondern nur durch Musik, Malerei und Dichtung erfahren.
"Andre Gide hat gesagt, jedes Kunstwerk ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Künstler und dem lieben Gott, und je weniger der Künstler dazu beiträgt, umso besser. Das finde ich ganz richtig, also ob man an Gott jetzt glaubt oder nicht. Also ich glaube, dass Kunstwerke, egal welche, aus dem Unbewussten entstehen müssen."
Nicht die erlebte Geschichte, sondern die Fantasie oder Gott als Inspirator des echten Künstlers, das ist Kreislers Credo. Mit Religion hat das für ihn nichts tun. Was aus der Idee dann wird, ist eine Frage des guten Handwerks.
Ob wir die Fantasie nun Gottesgeschenk nennen oder nicht, diejenigen, die aus ihren oder den Erlebnissen anderer einen guten Roman gestalten, sollen keine echten Künstler sein? Es gibt Überlegungen in seinem Buch, die verwirren.
Eine anderes Beispiel:
Wenn man Pop-, Rock-, Hip-Hop- und andere billige Musik verbieten würde, gleichzeitig alle Kitschliteratur und Kitschbilder, würden die Menschen genauso gern echte Kunst genießen und es wäre eine ungeheure Bereicherung, es wäre das Land Utopia.
Dem Leser stockt der Atem. Der Anarchist Georg Kreisler, selbst oft verboten oder boykottiert, erwägt Kunstzensur als Erziehungsmaßnahme?
Immerhin verwirft er die These ein paar Sätze weiter als unrealistische Gedankenspielerei.
Kreislers 'Letzte Lieder' geben einiges preis von einer faszinierenden wie leidvollen Vita, immer bedroht durch Antisemitismus. Sein Buch handelt vom Kampf ums Überleben, von Flucht und Einsamkeit und es handelt vom Träumen, Hoffen und Aufbegehren. Aber in das Wechselspiel aus Satire, Lebensbericht und kulturpolitischen Überlegungen mischen sich auch selbstgerechte und entwertende Töne. Etwa, wenn Kreisler einen Psychiater und ehemaligen Freund als klugen und sensiblen Mann beschreibt, um im gleichen Atemzug zu bilanzieren, dass er von ihm aber nur Belangloses erfahren habe. Was für eine Freundschaft soll das gewesen sein oder will er mit dieser Bilanz nur den Psychiater im Freund hinrichten? Immer wieder zieht der Autor Nullbilanzen, die, ganz unsatirisch, weniger über andere als über ihn erzählen, seine Verbitterung, seine Einsamkeit.
Zurück zum Künstler und seiner Inspiration: Gibt es nicht Geschichten im Leben, die einfach Spuren hinterlassen müssen in einem künstlerischen Charakter?
Die Geschichte um seinen Onkel Julius Hochberg zum Beispiel. Hochberg war Drogist in Wien und erfand ein Puder gegen Fußschweiß namens Teddy. Badezimmer waren Luxus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Reklame für sein Puder gab Hochberg comicartige Bildgeschichten in Auftrag, auch an arbeitslose Kunstmaler.
"Und eines Tages kam zu ihm ein junger Mann ... namens Adolf Hitler und er hat gesagt, er ist auch ein Zeichner und er könnte also so eine Bilderfolge zeichnen und das hat er auch getan. Ein oder zwei oder drei, das weiß ich nicht, aber er hat jedenfalls etwas gezeichnet. Und so hingen diese Hitler-Werbungen in den Straßenbahnen und andernorts, und als dann Hitler nach Wien kam, war mein Onkel bereits tot, aber er hatte einen Sohn und am Tag, als die Deutschen einmarschierten, stand die Gestapo vor der Wohnung dieses Sohnes, Karl Hochberg, und verlangte diese Zeichnungen. Der hatte sie aber rechtzeitig weggebracht, wohin weiß ich nicht, und die Gestapo hat die Wohnung natürlich umgedreht und versucht sie zu finden, fand sie aber nicht und so geschah weiter nichts.... Jedenfalls dieser Karl Hochberg hat das überlebt und ist dann auch nach London emigriert und was dann weiter mit ihm geschah, weiß ich nicht."
Dem 16-jährigen Georg Kreisler und seinen Eltern gelingt es, von Wien nach Kalifornien zu fliehen. Gerade noch rechtzeitig. Georg hat einen Cousin in Hollywood, der hilft. Er besucht die Highschool, stürzt sich in die englische Sprache, hält sich und seine Eltern mit Jobs als Pianist über Wasser, nimmt Gesangsstunden und begegnet zahlreichen Exilkünstlern. Darunter Arnold Schönberg, Kurt Eissler und Marlene Dietrich, die er vor allem als Kekse backende Hausfrau erlebt. 20-jährig wird Kreisler amerikanischer Soldat gegen Nazideutschland und aufgrund seiner Muttersprache einer Spezialeinheit zugeteilt, in der er das Verhören von Kriegsgefangenen trainiert.
In den Soldatenlagern schreibt er fantastische Songs, komponiert und inszeniert Musicals, unter anderem mit dem Dramaturgen und Opernkenner Marcel Prawy. Als Verhörspezialist trifft er gegen Kriegsende auf Nazigrößen wie Göring, Streicher und Kaltenbrunner.
"Das waren alte Männer, denen es auch schlecht ging, ... die haben ja den Krieg verloren. Die waren unterdrückt, leise, teilweise hatte man ihnen die Möglichkeiten zu einem Selbstmord weggenommen, also Hosenträger und Gürtel. Sie mussten ihre Hose mit den Händen halten, und man muss sich vorstellen, wenn so ein total kaputter Mensch vor ihnen steht und nicht weiß, was er sagen soll, was sollen sie da als junger Bursch machen? Sollen Sie ihm eine herunterhauen? Ändert das was? Nein."
Aus der Armee entlassen geht er zurück nach Hollywood und assistiert Chaplin musikalisch. Später geht er nach New York, durchläuft eine harte Entertainmentschule und kämpft sich mit bissigen Liedern wie "Please, shoot your husband" recht erfolglos durch die Nachtlokale. Nach einigen Jahren Unterhaltungsprogramm in der New Yorker Monkey Bar, flieht er, bevor ihn die Routine erdrückt, 1955 zurück nach Wien. Er findet zurück in eine andere Muttersprache, dichtet erste Lieder und sein schwarzer Humor samt Bühnenpräsenz und Virtuosität schlagen ein in Wien.
Kabarettist? Ein Irrweg, findet er später.
Mein Fehler war, mich nicht zur Kunst zu bekennen. Ich hatte eine Doppelbegabung und wählte den falschen Weg, zuerst in New York, dann in Wien. Andere wurden Kellner, Putzfrauen, Bettler, ehe man sie als Künstler arbeiten ließ, ich wurde Kabarettist.
Die Wiener Nachkriegserfolge halten seiner Selbstkritik nicht Stand. Berufskritiker verachtet er und erschlägt sie mit Satire, aber Selbstkritik und Künstlersein gehören für ihn zusammen.
Georg Kreisler schreibt Liebeslieder und 'Nichtarische Arien' in jüdelndem Jargon – "Darf man das jetzt wieder"? - wird er von einem Radioredakteur gefragt.
Und er schreibt immer politischere Lieder. Als ihm Wien unbehaglich wird, flieht er weiter nach München und spielt sich an den Kammerspielen von allen Existenzsorgen frei. Er geht zurück nach Wien und weiter nach Salzburg. Später lebt er viele Jahre in Berlin und Basel und seit 2007 wieder in Salzburg. Jahrzehntelang bestreitet er Tourneen mit seiner Partnerin Barbara Peters. Er wird zu einem Maßstab für das literarische Kabarett und schreibt ohne Unterlass: Theaterstücke, Musicals, Romane und Opern. Er komponiert, arrangiert, dirigiert. Er wehrt sich gegen die Marke 'Kabarettist', die man ihm ansteckt. Mit dem Musical Lola Blau erzielt er Erfolge von Dauer, trotzdem werden viele seiner Musiktheaterstücke nie gespielt. Seine satirische Oper "Aufstand der Schmetterlinge" wird im November 2000 in Wien uraufgeführt und sogar von der Kritik gefeiert, aber danach nicht mehr gespielt. Das hat ihn nicht daran gehindert, eine zweite Oper zu schreiben. Sie heißt 'Das Aquarium oder die Stimme der Vernunft' und handelt von uns allen, so Kreisler, denn wir Menschen seien wie Fische, die nicht über den Rand des Aquariums hinaussehen.
Schreiben hat auch mit Freiheit zu tun, Freiheit vom Zwang zu verkaufen. Unabhängigkeit von Zeitverlust, nichts wird angefangen, nichts beendet, alles bleibt im Fluss. Es hat auch mit Brüderlichkeit zu tun, denn es geht immer um die Mitmenschen. Es hat sogar mit Gleichheit zu tun, denn man bemerkt sein Unvermögen.
Ein Lied aus den 80er-Jahren handelt auch von der Freiheit. Und von ihren Grenzen im Zwang zu verkaufen: dem Zwang, Kunst zu verkaufen, sich selbst oder seine Arbeitskraft. 'Meine Freiheit, deine Freiheit.'
"Meine Freiheit muss noch lang nicht deine Freiheit sein.
Meine Freiheit: Ja! Deine Freiheit: Nein!
Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert,
deine hat bis jetzt nicht interessiert.
Meine Freiheit heißt, dass ich Geschäfte machen kann.
Und deine Freiheit heißt, du kriegst bei mir einen Posten.
Und da du meine Waren kaufen musst, stell ich dich bei mir an.
Dadurch verursacht deine Freiheit keine Kosten.
Und es bleibt dabei, dass meine Freiheit immer wieder meine Freiheit ist.
Deine Freiheit bleibt meiner einverleibt.
Und wenn ich meine Freiheit nicht hab, hast du deine Freiheit nicht.
Und meine Freiheit wird dadurch zu deiner Pflicht.
Und darum sag ich dir: Verteidig' meine Freiheit mit der Waffe in der Hand
und mit der Waffe in den Händen deiner Kinder!
Damit von deinen Kindern keines bei der Arbeit je vergißt, was Freiheit ist.
Meine Freiheit sei dir immer oberstes Gebot.
Meiner Freiheit bleibt treu bis in den Tod.
Wenn dir das vielleicht nicht logisch vorkommt, denk an eines bloß:
Ohne meine Freiheit bist du arbeitslos.
Ja, Freiheit ist was anderes als Zügellosigkeit.
Freiheit heißt auch Fleiß, Männlichkeit und Schweiß.
Ich werd dir sagen, was ich heutzutag als freiheitlich empfind:
Die Dinge so zu lassen wie sie sind.
Drum ist in jedem Falle meine Freiheit wichtiger als deine Freiheit je.
Meine Freiheit: Yes! Deine Freiheit: Nee!
Meine Freiheit ist schon ein paar hundert Jahre alt.
Deine Freiheit kommt vielleicht schon bald.
Aber vorläufig ist nichts aus deiner Freiheitsambition,
du hast noch keine Macht und keine Organisation.
Ich wär ja dumm, wenn ich auf meine Freiheit dir zulieb verzicht,
drum behalt ich meine Freiheit. Du kriegst deine Freiheit nicht. Noch nicht!"
Georg Kreisler: Letzte Lieder - Autobiografie,
Arche Literatur Verlag, Zürich 2009, 160 Seiten, gebunden, 19,90 Euro
Dafür gibt's doch gar keinen Grund.
Ach, es sterben die blühenden Zweige,
und das Leben geht immer zur Neige –
doch sie halten verbissen den Mund.
Warum sind die Leute so träge
und befreien sich nicht aus der Not?
Ach, sie schlucken den Schlamm und die Schläge,
und der Sargtischler kommt mit der Säge –
doch sie schweigen sich durch bis zum Tod.
Warum sind die Leute so fügsam
und fürchten den leisesten Wind?
So wie Gerten: geschmeidig und biegsam
und im Leben und Tode genügsam.
Sei nicht wie die Leute, mein Kind!
Sei nicht wie die Leute, mein Kind!"
Es gibt Lieder mit und ohne Musik. Seit den 80er-Jahren hat Georg Kreisler nur noch Lieder ohne Melodie und Klavierbegleitung geschrieben. Seine Autobiografie hat er 'Letzte Lieder' genannt, aber Buchtitel müssen ja nicht stimmen.
Im April 2001, mit 78 Jahren, gab er seinen letzten Chansonabend. Aber das Leben fließt und jetzt ist er 87, schreibt vor allem Romane, Opern und Gedichte und erwägt wieder neue Auftritte.
Mit sieben begann Georg Kreisler Klavier zu spielen, sein Vater war dagegen, später kamen Geige und Harmonielehre hinzu.
Mein Vater war Rechtsanwalt und sprach perfekt Latein, sonst wenig. Meine Mutter lächelte mich stets an, wenn sie mich prügelte. Ich habe beiden viel zu verdanken, denn sie verschafften mir eine verhältnismäßig günstige Kindheit, verglichen mit afrikanischen Kindheiten. Immerhin hatte ich keine Geschwister und durfte einsam sein.
… so Kreisler in seinen bisher nicht veröffentlichten Memoiren über seine Wiener Kindheit.
Als ich 16 Jahre alt war, ging das Klavierspielen noch recht gut, aber kurz danach mussten wir nach Amerika auswandern. Es war 1938, ein ungutes Jahr für die Juden in Österreich, und ich musste Jude üben, statt Klavier. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Kabarettist? Er glaube nicht, dass er je Kabarettist war, schreibt Kreisler in seinen letzten Liedern, "hoffentlich nicht", setzt er nach.
Autobiografie? Wer darin vor allem eine Schilderung seines Lebens erwartet, wird nicht satt.
Die Autobiografie eines 87-Jährigen kann nur unbegreiflich sein, also werde ich mich nicht begreiflich machen können. Aber ich hoffe, dass man mir mein Leben nachfühlen kann und keine Schilderung erwartet. Die Unbegreiflichkeit ergibt sich dabei von selbst, so wie sich die Begreiflichkeit eines Computers von selbst ergibt. Ich benütze keinen Computer.
Georg Kreisler empfindet sich durch und durch als Künstler. Und die Kunst, die er verficht, will Erkenntnisse freilegen, die hinter den Tatsachen liegen. Kunst als Kritik an den Verhältnissen, Kunst als Lebensmittel. Und da sind wir schon mittendrin in Kreislers Versuch über Gott und sein Leben, über seine Wünsche und Träume. Mittendrin in seinem Angriff auf Kommerz, Kulturbetrieb und andere goldene Kälber.
Die Wirklichkeit unseres Lebens, schreibt er, können wir nicht direkt, sondern nur durch Musik, Malerei und Dichtung erfahren.
"Andre Gide hat gesagt, jedes Kunstwerk ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Künstler und dem lieben Gott, und je weniger der Künstler dazu beiträgt, umso besser. Das finde ich ganz richtig, also ob man an Gott jetzt glaubt oder nicht. Also ich glaube, dass Kunstwerke, egal welche, aus dem Unbewussten entstehen müssen."
Nicht die erlebte Geschichte, sondern die Fantasie oder Gott als Inspirator des echten Künstlers, das ist Kreislers Credo. Mit Religion hat das für ihn nichts tun. Was aus der Idee dann wird, ist eine Frage des guten Handwerks.
Ob wir die Fantasie nun Gottesgeschenk nennen oder nicht, diejenigen, die aus ihren oder den Erlebnissen anderer einen guten Roman gestalten, sollen keine echten Künstler sein? Es gibt Überlegungen in seinem Buch, die verwirren.
Eine anderes Beispiel:
Wenn man Pop-, Rock-, Hip-Hop- und andere billige Musik verbieten würde, gleichzeitig alle Kitschliteratur und Kitschbilder, würden die Menschen genauso gern echte Kunst genießen und es wäre eine ungeheure Bereicherung, es wäre das Land Utopia.
Dem Leser stockt der Atem. Der Anarchist Georg Kreisler, selbst oft verboten oder boykottiert, erwägt Kunstzensur als Erziehungsmaßnahme?
Immerhin verwirft er die These ein paar Sätze weiter als unrealistische Gedankenspielerei.
Kreislers 'Letzte Lieder' geben einiges preis von einer faszinierenden wie leidvollen Vita, immer bedroht durch Antisemitismus. Sein Buch handelt vom Kampf ums Überleben, von Flucht und Einsamkeit und es handelt vom Träumen, Hoffen und Aufbegehren. Aber in das Wechselspiel aus Satire, Lebensbericht und kulturpolitischen Überlegungen mischen sich auch selbstgerechte und entwertende Töne. Etwa, wenn Kreisler einen Psychiater und ehemaligen Freund als klugen und sensiblen Mann beschreibt, um im gleichen Atemzug zu bilanzieren, dass er von ihm aber nur Belangloses erfahren habe. Was für eine Freundschaft soll das gewesen sein oder will er mit dieser Bilanz nur den Psychiater im Freund hinrichten? Immer wieder zieht der Autor Nullbilanzen, die, ganz unsatirisch, weniger über andere als über ihn erzählen, seine Verbitterung, seine Einsamkeit.
Zurück zum Künstler und seiner Inspiration: Gibt es nicht Geschichten im Leben, die einfach Spuren hinterlassen müssen in einem künstlerischen Charakter?
Die Geschichte um seinen Onkel Julius Hochberg zum Beispiel. Hochberg war Drogist in Wien und erfand ein Puder gegen Fußschweiß namens Teddy. Badezimmer waren Luxus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Reklame für sein Puder gab Hochberg comicartige Bildgeschichten in Auftrag, auch an arbeitslose Kunstmaler.
"Und eines Tages kam zu ihm ein junger Mann ... namens Adolf Hitler und er hat gesagt, er ist auch ein Zeichner und er könnte also so eine Bilderfolge zeichnen und das hat er auch getan. Ein oder zwei oder drei, das weiß ich nicht, aber er hat jedenfalls etwas gezeichnet. Und so hingen diese Hitler-Werbungen in den Straßenbahnen und andernorts, und als dann Hitler nach Wien kam, war mein Onkel bereits tot, aber er hatte einen Sohn und am Tag, als die Deutschen einmarschierten, stand die Gestapo vor der Wohnung dieses Sohnes, Karl Hochberg, und verlangte diese Zeichnungen. Der hatte sie aber rechtzeitig weggebracht, wohin weiß ich nicht, und die Gestapo hat die Wohnung natürlich umgedreht und versucht sie zu finden, fand sie aber nicht und so geschah weiter nichts.... Jedenfalls dieser Karl Hochberg hat das überlebt und ist dann auch nach London emigriert und was dann weiter mit ihm geschah, weiß ich nicht."
Dem 16-jährigen Georg Kreisler und seinen Eltern gelingt es, von Wien nach Kalifornien zu fliehen. Gerade noch rechtzeitig. Georg hat einen Cousin in Hollywood, der hilft. Er besucht die Highschool, stürzt sich in die englische Sprache, hält sich und seine Eltern mit Jobs als Pianist über Wasser, nimmt Gesangsstunden und begegnet zahlreichen Exilkünstlern. Darunter Arnold Schönberg, Kurt Eissler und Marlene Dietrich, die er vor allem als Kekse backende Hausfrau erlebt. 20-jährig wird Kreisler amerikanischer Soldat gegen Nazideutschland und aufgrund seiner Muttersprache einer Spezialeinheit zugeteilt, in der er das Verhören von Kriegsgefangenen trainiert.
In den Soldatenlagern schreibt er fantastische Songs, komponiert und inszeniert Musicals, unter anderem mit dem Dramaturgen und Opernkenner Marcel Prawy. Als Verhörspezialist trifft er gegen Kriegsende auf Nazigrößen wie Göring, Streicher und Kaltenbrunner.
"Das waren alte Männer, denen es auch schlecht ging, ... die haben ja den Krieg verloren. Die waren unterdrückt, leise, teilweise hatte man ihnen die Möglichkeiten zu einem Selbstmord weggenommen, also Hosenträger und Gürtel. Sie mussten ihre Hose mit den Händen halten, und man muss sich vorstellen, wenn so ein total kaputter Mensch vor ihnen steht und nicht weiß, was er sagen soll, was sollen sie da als junger Bursch machen? Sollen Sie ihm eine herunterhauen? Ändert das was? Nein."
Aus der Armee entlassen geht er zurück nach Hollywood und assistiert Chaplin musikalisch. Später geht er nach New York, durchläuft eine harte Entertainmentschule und kämpft sich mit bissigen Liedern wie "Please, shoot your husband" recht erfolglos durch die Nachtlokale. Nach einigen Jahren Unterhaltungsprogramm in der New Yorker Monkey Bar, flieht er, bevor ihn die Routine erdrückt, 1955 zurück nach Wien. Er findet zurück in eine andere Muttersprache, dichtet erste Lieder und sein schwarzer Humor samt Bühnenpräsenz und Virtuosität schlagen ein in Wien.
Kabarettist? Ein Irrweg, findet er später.
Mein Fehler war, mich nicht zur Kunst zu bekennen. Ich hatte eine Doppelbegabung und wählte den falschen Weg, zuerst in New York, dann in Wien. Andere wurden Kellner, Putzfrauen, Bettler, ehe man sie als Künstler arbeiten ließ, ich wurde Kabarettist.
Die Wiener Nachkriegserfolge halten seiner Selbstkritik nicht Stand. Berufskritiker verachtet er und erschlägt sie mit Satire, aber Selbstkritik und Künstlersein gehören für ihn zusammen.
Georg Kreisler schreibt Liebeslieder und 'Nichtarische Arien' in jüdelndem Jargon – "Darf man das jetzt wieder"? - wird er von einem Radioredakteur gefragt.
Und er schreibt immer politischere Lieder. Als ihm Wien unbehaglich wird, flieht er weiter nach München und spielt sich an den Kammerspielen von allen Existenzsorgen frei. Er geht zurück nach Wien und weiter nach Salzburg. Später lebt er viele Jahre in Berlin und Basel und seit 2007 wieder in Salzburg. Jahrzehntelang bestreitet er Tourneen mit seiner Partnerin Barbara Peters. Er wird zu einem Maßstab für das literarische Kabarett und schreibt ohne Unterlass: Theaterstücke, Musicals, Romane und Opern. Er komponiert, arrangiert, dirigiert. Er wehrt sich gegen die Marke 'Kabarettist', die man ihm ansteckt. Mit dem Musical Lola Blau erzielt er Erfolge von Dauer, trotzdem werden viele seiner Musiktheaterstücke nie gespielt. Seine satirische Oper "Aufstand der Schmetterlinge" wird im November 2000 in Wien uraufgeführt und sogar von der Kritik gefeiert, aber danach nicht mehr gespielt. Das hat ihn nicht daran gehindert, eine zweite Oper zu schreiben. Sie heißt 'Das Aquarium oder die Stimme der Vernunft' und handelt von uns allen, so Kreisler, denn wir Menschen seien wie Fische, die nicht über den Rand des Aquariums hinaussehen.
Schreiben hat auch mit Freiheit zu tun, Freiheit vom Zwang zu verkaufen. Unabhängigkeit von Zeitverlust, nichts wird angefangen, nichts beendet, alles bleibt im Fluss. Es hat auch mit Brüderlichkeit zu tun, denn es geht immer um die Mitmenschen. Es hat sogar mit Gleichheit zu tun, denn man bemerkt sein Unvermögen.
Ein Lied aus den 80er-Jahren handelt auch von der Freiheit. Und von ihren Grenzen im Zwang zu verkaufen: dem Zwang, Kunst zu verkaufen, sich selbst oder seine Arbeitskraft. 'Meine Freiheit, deine Freiheit.'
"Meine Freiheit muss noch lang nicht deine Freiheit sein.
Meine Freiheit: Ja! Deine Freiheit: Nein!
Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert,
deine hat bis jetzt nicht interessiert.
Meine Freiheit heißt, dass ich Geschäfte machen kann.
Und deine Freiheit heißt, du kriegst bei mir einen Posten.
Und da du meine Waren kaufen musst, stell ich dich bei mir an.
Dadurch verursacht deine Freiheit keine Kosten.
Und es bleibt dabei, dass meine Freiheit immer wieder meine Freiheit ist.
Deine Freiheit bleibt meiner einverleibt.
Und wenn ich meine Freiheit nicht hab, hast du deine Freiheit nicht.
Und meine Freiheit wird dadurch zu deiner Pflicht.
Und darum sag ich dir: Verteidig' meine Freiheit mit der Waffe in der Hand
und mit der Waffe in den Händen deiner Kinder!
Damit von deinen Kindern keines bei der Arbeit je vergißt, was Freiheit ist.
Meine Freiheit sei dir immer oberstes Gebot.
Meiner Freiheit bleibt treu bis in den Tod.
Wenn dir das vielleicht nicht logisch vorkommt, denk an eines bloß:
Ohne meine Freiheit bist du arbeitslos.
Ja, Freiheit ist was anderes als Zügellosigkeit.
Freiheit heißt auch Fleiß, Männlichkeit und Schweiß.
Ich werd dir sagen, was ich heutzutag als freiheitlich empfind:
Die Dinge so zu lassen wie sie sind.
Drum ist in jedem Falle meine Freiheit wichtiger als deine Freiheit je.
Meine Freiheit: Yes! Deine Freiheit: Nee!
Meine Freiheit ist schon ein paar hundert Jahre alt.
Deine Freiheit kommt vielleicht schon bald.
Aber vorläufig ist nichts aus deiner Freiheitsambition,
du hast noch keine Macht und keine Organisation.
Ich wär ja dumm, wenn ich auf meine Freiheit dir zulieb verzicht,
drum behalt ich meine Freiheit. Du kriegst deine Freiheit nicht. Noch nicht!"
Georg Kreisler: Letzte Lieder - Autobiografie,
Arche Literatur Verlag, Zürich 2009, 160 Seiten, gebunden, 19,90 Euro