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"Ich pflücke Blumen am Rande des Existenzminimums"

Der jüdische Philosoph Walter Benjamin zählt zu den bedeutendsten Köpfen des 20. Jahrhunderts. Vor siebzig Jahren nahm er sich auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Port-Bou mit einer Überdosis Morphium das Leben.

Von Astrid Nettling |
    "Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt, ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meinige inniger als der Blick in Höfe, von deren dunkle Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. Die Karyatiden, die die Loggia des nächsten Stockwerks trugen, mochten ihren Platz einen Augenblick verlassen, um an dieser Wiege ein Lied zu singen, das zwar nichts enthielt, was später auf mich wartete, dafür jedoch den Spruch, durch den die Luft der Höfe mir auf immer berauschend blieb. Und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über mein Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens."

    Mit diesen Zeilen beginnt Walter Benjamins Loggien, ein Stück aus seiner autobiografischen Skizze Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Den Feen aus dem Märchen gleich säumen die hohen Frauengestalten aus Stein die luftige Wiegestatt des Kindes. Nicht, um ihm dort die Zukunft zu singen, ihr Lied spricht oder tönt ihm etwas anderes zu. Es sind jene Laute, die durch die Hinterhöfe zu seiner Loggia heraufklingen: der Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfens, das Hoch und Runter der Jalousien von den Nachbargebäuden, das bis in den Hof dringende Geräusch der Droschkenhalteplätze. Keine Laute, die den Säugling in die Geborgenheit familiärer Nestwärme hüllen, sondern Stadtgeräusche, die den "neuen Bürger" in eine eher ungeschützte Wirklichkeit holen. Nicht zufällig ist es die Loggia des Hauses mit ihrer architektonischen Besonderheit, als Übergangszone zwischen drinnen und draußen zu fungieren, die Benjamin, 1892 an der Jahrhundertschwelle geboren, rückblickend als die eigentliche Wiege seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert identifiziert. Den kleinen unbewohnbaren Zwischenraum zwischen dem Wohnungsinneren mit seinem düster überladenen Mobiliar im Stil der Gründerzeit und dem baumbestandenen Hof, den schmalen Streifen "Niemandsland" zwischen der wilhelminischen Welt seiner Eltern und dem werktätig proletarischen Hinterhofmilieu.

    Es ist bekannt, welche Bedeutung Benjamin dem Phänomen der Übergänge und Schwellen – den offenen Zonen des Wandels, des unvorhersehbaren Umschlagens von einem Zustand in einen anderen – beigemessen hat. Sind es doch vorzugsweise diese passageren Orte, von deren erkenntnisfördernder Exterritorialität sich sein eigenes Denken anregen ließ. Deren lebensgeschichtlich früheste Gestalt hat er in der karyatidengesäumten Loggia seiner Kindheit ausgemacht, wo das heranwachsende Kind von den Insignien seiner großbürgerlichen Herkunft Abstand finden und seine Blicke in ein unbekanntes Terrain schweifen lassen konnte. Als eine Art Selbstporträt hat Benjamin das Stück Loggien bezeichnet – "die Seiten enthalten das genaueste Porträt, das mir von mir selbst zu machen gegeben ist". Als er es im Sommer 1933 auf Ibiza niederschreibt, befindet sich der Denker jüdischer Abstammung bereits seit März im Pariser Exil.

    "Seitdem ich Kind war, haben sich die Loggien weniger verändert als die Räume. Doch nicht nur darum sind sie mir noch nah. Es ist vielmehr des Trostes wegen, der in ihrer Unbewohnbarkeit für den liegt, der selber nicht mehr recht zum Wohnen kommt."

    Benjamin war in diesem Sommer einundvierzig Jahre alt geworden. Eine Fotografie aus dieser Zeit zeigt einen sehr früh gealterten, in seinem Liegestuhl seltsam verloren wirkenden Mann in der für ihn typischen Haltung des Melancholikers, der, die rechte Hand sinnend ans Kinn geführt und wie verschanzt hinter den dicken Brillengläsern des Kurzsichtigen, seinem denkerischen Fernenblick nachhängt: ein Weltfremder im wahrsten Sinne. Benjamin selbst hat sich als einen melancholischen Charakter beschrieben, der "unterm Saturn zur Welt gekommen" mit Weltferne begabt wurde und den es deshalb zu den Rändern zieht, weil nur von dort ein sinnerschließender Blick auf die Welt zu gewinnen ist, wohl wissend, dass das ontisch Nächste, zugleich das ontologisch Fernste ist. Bei ihm ist es ein durch Trauer und Melancholie bestimmter Blick – auch dies seinem Naturell geschuldet –, dem alles, was ist, zur "nature morte" zu werden droht. "Trauer – nicht Traurigkeit – war die Bestimmung seiner Natur", hat Theodor W. Adorno formuliert. Eine Wesensbestimmung, die für den "unterm Saturn" zur Welt Gekommenen freilich stets bedeutet hat, dass diese seine "Natur" nicht aus dem Stand der Gestirne, als vielmehr aus der Konstellation der Geschichte zu verstehen ist, in die das Weltkind Benjamin "um Neunzehnhundert" hineingeboren wurde.

    In eine Zeit zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert, dessen Hoch-Zeit die des aufblühenden Kapitalismus, des prosperierenden Bürgertums, der aufstrebenden Wissenschaften und einer allgemeinen Fortschrittsgläubigkeit gewesen war, und dem beginnenden 20. Jahrhundert, das diese Welt und deren Gewissheiten zerstören und eine ganz andere Wirklichkeit zum Vorschein bringen wird. Eine solche Schwellenzeit macht die Konstellation aus, unter der sein Dasein gestellt ist und deren genaue Koordinaten zu bestimmen und auszudeuten, Benjamin zur Aufgabe wird. So verstehen sich auch die Stücke seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhunder" als Versuche einer solchen Deutung. Und diese zeigen das Kind, das in einer Welt aufwächst – der großbürgerlichen Welt des assimilierten Judentums –, die längst Züge von Abgestorbenheit und Brüchigkeit trägt, deren kulissenhafte Wirklichkeit sich mit bildungsbürgerlichen Reminiszenzen schmückt, deren Sinn lange schon verblasst ist. Wie mit jenen Karyatiden, die einstmals die Tempeldächer Griechenlands trugen und jetzt als bedeutungsloser Zierat die ohnehin unbewohnbaren Loggien der Bürgerhäuser über den Berliner Höfen stützen. Was für das Kind ein berauschender Ort gewesen, die Freistatt seiner ersten Fernenblicke, wird vom späten Blick des Denkers radikal entmystifiziert. So sieht sich Benjamin am Schluss von Loggien in einer letzten Rückschau auf diese "Wiege, in die die Stadt den neuen Bürger legte", wie in einem steinernen Grabmal zur Welt gekommen.

    "Die Zeit veraltete in diesen schattenreichen Gelassen, die sich auf die Höfe öffneten. Das Kind jedoch, das einmal mit im Bunde gewesen war, hält sich auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoleum auf."

    Obwohl Loggien im Exil geschrieben wurde, kann man sich Benjamin vorstellen, wie er als Erwachsener – seinem bürgerlichen Herkunftsmilieu schon als Student entfremdet und seit Anfang der dreißiger Jahre dem Marxismus und Kommunismus zugeneigt – noch einmal durch die Hinterhöfe seiner Berliner Kindheit streift und mit Trauer zu ihnen und den vom Staub der Zeit bedeckten Steinfiguren hinaufschaut. Als ein ebenso aus der Kindheit lange schon Exilierter, der auf eine "verlorene Zeit" zurückblickt. Doch anders als bei Marcel Proust, dem sich Benjamin nicht zuletzt durch die melancholische Grundstimmung seines Jahrhundertwerks eng verwandt fühlte – Teile davon hat er während seines längeren Parisaufenthaltes 1926 zusammen mit dem Schriftsteller Franz Hessel übersetzt –, geht es ihm nicht um eine "recherche du temps perdu", um eine "Suche nach der verlorenen Zeit", um sie wie Proust am Leitfaden seiner in Lindenblütentee getauchten Madeleine am Ende seines Romans tatsächlich wiederzufinden. Und damit das "ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks", wie er in seinem Essay über Proust schreibt. Um eine solche Wiederkehr geht es Benjamin nicht. Seine Arbeiten sind weniger auf der Suche nach der verlorenen Zeit als vielmehr Versuche, nach der verlorenen Zeit aus ihrem Bannkreis als aus einem toten Gehäuse herauszutreten.

    "Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine Muschel vor mir liegt"',

    heißt es in der Berliner Kindheit. Trotzdem wird der Erwachsene nicht müde, sich dieses tote Gehäuse ans Ohr zu halten, dessen fernes Rauschen noch zu vernehmen ist. Das Geräusch der Welt, von dem das Kind berauscht wurde, ohne zu begreifen, was es ihm eigentlich sagen will. Während bei Proust der Geschmack der Madeleine die geborgene Welt seiner Kindheit wiederauferstehen lässt – Combray, das Haus der Tante, den elterlichen Garten, den Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne –, da zieht das Rauschen der Muschel den Lauschenden zurück ins Ungeborgene. Zu den Rändern der Erwachsenenwelt, an denen auch das Kind umherschweifte, bevor es sich in sein Elternhaus, seine Klasse, seine Epoche zu schicken hatte. Einem Strandgutsammler auf dem schmalen Streifen zwischen Land und Meer ähnlich, an dem es dies und das aufliest: Dinge, Wörter, Klänge, Farben, die als Fundstücke wie aus einer fremden Kultur zu ihm herangespült werden. Später wird es der Denker sein, der an den Rändern des alten Jahrhunderts umherstreift und manchmal wie ein Lumpensammler – ein Motiv, das Benjamin aus den Fleurs du Mal von Charles Baudelaire aufgreift – dieses und jenes vom Gebrauch und von der Zeit ramponierte Gut aufsammelt. Abfallprodukte, die der Wind der Geschichte an den Saum des ausgehenden 19. Jahrhunderts getrieben hat.

    "Ein Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune 'Menschentum', 'Innerlichkeit', 'Vertiefung' spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen."

    Doch so mancher Lumpen mag sich auf einen zweiten Blick als eine Trouvaille erweisen, wenn man die Fähigkeit besitzt, an diesem zu entdecken, was die historischen Nahverhältnisse verdeckten. Ein anderes, fernes Gesicht der Dinge, das erst durch Beschädigung und Zertrümmerung sichtbar wird. Jenen Scherben ähnlich, die – so Benjamin – "losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen" und darauf warten, dass der heuristische Blick des Sammlers ihren Bruchstücken erneut Sinn abgewinnt. Benjamins Vorliebe für Fundsachen aller Art ist bekannt. Es ist dies die früheste Leidenschaft der Kinder, die sich der Erwachsene bewahrt hat.

    "[Kinder] fühlen sich unwiderstehlich vom Abfall angezogen, der beim Bauen, bei Garten- oder Hausarbeit, beim Schneidern oder Tischlern entsteht. In Abfallprodukten erkennen sie das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein, zukehrt. In ihnen bilden sie die Werke der Erwachsenen weniger nach, als dass sie Stoffe sehr verschiedener Art durch das, was sie im Spiel daraus verfertigen, in eine neue sprunghafte Beziehung zueinander setzen."

    Adorno hat von Benjamins "Neigung fürs Entlegene, vom offiziellen Geistesleben noch nicht Zermahlene" gesprochen. Es ist sein Faible für alles, was sich an den Rändern sammelt: Stückwerk, Übriggebliebenes, Übersehenes, vom Gang der Dinge Ausgemustertes und Lädiertes. Diesem Abfall gilt das Augenmerk des Denkers mit Blick auf den destruktiven Lauf der Zeit und den unerbittlichen Gezeitenwechsel der Geschichte, wohl wissend, dass aus dem achtlos Liegengelassenen und dem übel Beschädigten gleichwohl Kostbares zu bergen ist. Wo bei Proust die Arbeit der Erinnerung die vollständige Rückkehr zu einem ursprünglich Heilen und einem ersten Glück erlaubt, da leistet bei Benjamin das "Eingedenken" – so wird er es später nennen – die melancholische Sichtung des Heillosen, der Trümmer und Überbleibsel des Vergangenen, um daraus das Material für Kommendes und ein dem Leben bislang Vorenthaltenes zu gewinnen.

    "Torso. Nur wer die eigene Vergangenheit als Ausgeburt des Zwanges und der Not zu betrachten wüßte, der wäre fähig, sie in jeder Gegenwart aufs höchste für sich wert zu machen. Denn was einer lebte, ist bestenfalls der schönen Figur vergleichbar, der auf Transporten alle Glieder abgeschlagen wurden, und die nun nichts als den kostbaren Block abgibt, aus dem er das Bild seiner Zukunft zu hauen hat."

    "Torso" entstammt seinem Buch Einbahnstraße, das 1928 erschienen ist. Benjamin hat es seiner damaligen Liebe, der lettischen Schauspielerin, Theatermacherin und überzeugten Kommunistin Asja Lacis gewidmet, deren revolutionärer Elan ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Marxismus angeregt hat. Es ist eine Sammlung verschiedenartigster Beobachtungen und Gedanken, von gleichsam auf der Straße aufgesammelten Fund- und Bruchstücken modernen Lebens, deren heterogenes Material montageartig, wie Benjamin es für das spielerische Tun der Kinder beschrieben hat, "in eine neue sprunghafte Beziehung zueinander" gesetzt ist. Damit hatte er zu einer Schreibweise gefunden, die auch seine weiteren Arbeiten bestimmen wird. In einer Notiz zu seinem unvollendet gebliebenen Passagen-Werk heißt es:

    "Montage: Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Die Lumpen, den Abfall: die will ich auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden."

    Den Plan dazu hatte er bereits 1926 während seines längeren Parisaufenthaltes gefasst, den Plan zu seinem Passagen-Werk als einer materialen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Denn es war Paris, die Jahrhundertmetropole, und nicht Berlin, die Stadt seiner Kindheit, wo Benjamin die "Stadt" für sich entdeckte, als er dort die Straßen und ihre ehemals prachtvollen, doch funktionslos gewordenen Passagen durchstreifte. Die steinernen Ganggehäuse aus einer längst verflossenen Epoche des Kapitalismus, die sich labyrinthartig durch die Stadt ziehen und in deren Läden sich die Bedarfsartikel wie Rudimente aus einem untergegangenen Zeitalter abgelagert haben. "Eine Welt geheimer Affinitäten: Palme und Staubwedel, Föhnapparat und die Venus von Milo, Prothesen und Briefsteller". Gegenstände, die weniger auf einen Konsumenten noch hoffen dürfen, als dass sie auf den Sammler warten, dessen einfühlsamer Blick sich ihrer annimmt, um sie zu neuem, unverdinglichtem Leben zu erwecken.

    Auch Einbahnstraße ist, wie Benjamin an Hugo von Hofmannsthal schreibt, "in vielem Paris verpflichtet" als der erste Versuch seiner Auseinandersetzung mit der Stadt und der Versuch, den bestehenden Verhältnissen eine unerwartete Sicht zu entlocken. In einem Eintrag zum Passagen-Werk spricht er von seinem Vorsatz, "in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken". Denn es ist das isolierte Einzelstück, die Trouvaille, die Benjamin interessiert, nicht der geschlossene Zusammenhang von Teil und Ganzem, bei dem wie im Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen der Teil stets von Gnaden eines Ganzen existiert, sondern das Singuläre, das splittergleich als nichtintegrierbares Bruchstück aus dem historischen Zusammenhang der Dinge herausfällt und gerade deshalb zukunftsweisenden Aufschluss über sie gestattet. Schon in seinem ersten, 1914 während seiner Freiburger Studentenzeit verfassten Text Das Leben der Studenten hatte Benjamin es als die entscheidende Aufgabe des Denkens betrachtet, "das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien".

    "Die Elemente des Endzustands liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet."

    Früh also gilt seine Aufmerksamkeit dem vom Lauf der Geschichte Deformierten und an den Rand Gedrängten. Ausgestattet mit dem Bewusstsein des historischen Menschen, dessen "Grundaffekt ein unbezwingliches Mißtrauen in den Gang der Dinge ist", ist sein Sensorium bereits in jungen Jahren auf jene Fund- und Bruchstücke gerichtet, deren utopisches Potenzial es zu sichten gilt. Anders gesagt: deren "Jetztzeit", worin "Splitter der messianischen eingesprengt sind", wie es in seinen in den 30er-Jahren entstandenen, erst posthum erschienenen Geschichtsphilosophischen Thesen lautet.

    "Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte."

    Auch in der Zeit lassen sich also Übergänge und Schwellen ausmachen – Diskontinuitäten und Zäsuren –, wo der kontinuierliche Ablauf der Zeit unterbrochen wird und einer Atempause gleich ins Stocken gerät. "Kairós" hatten die Griechen eine solche Zäsur genannt, wo die Zeit nicht einfach nur "chronologisch" verläuft, sondern "kairologisch" aufgeladen ist – mit einer günstigen Gelegenheit, einer besonderen Chance, deren Zeichen als der rechte Zeitpunkt, der entscheidende Augenblick wahrzunehmen und für das Handeln zu nutzen ist. Für den seit seiner Studentenzeit vom Gedanken des jüdischen Messianismus geprägten, selbst jedoch areligiösen Benjamin ist es die "Jetztzeit", deren messianischer "kairós" nicht erst am chronologischen Ende von Zeit und Geschichte fällig wird – wie es die religiöse Tradition will –, sondern prinzipiell jederzeit in die Gegenwart einbrechen kann. Wo die Wahrsager für das Kommende den Stand der Sterne deuten, da hat der Historiker oder der "historische Materialist", wie es bei ihm in den 30er-Jahren lautet, die Konstellation des geschichtlichen Augenblicks wahrzunehmen, worin er das Zeichen einer – so Benjamin – "messianischen Stillstellung des Geschehens [erkennt], anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit".

    Eine solche Chance glaubte Benjamin wie viele der Intellektuellen seiner Zeit als die einer kommunistischen Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachen zu können. Dem simplen Fortschrittsglauben des historischen Materialismus jedoch abhold, der mit Marx die Revolutionen als die Lokomotiven der Weltgeschichte betrachtet, findet Benjamin das schöne Bild von den Revolutionen als dem "Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse". Denn mehr als Notbremsung ist für ihn nicht drin, das heißt der revolutionäre "kairós" einer jähen Unterbrechung der Fahrt und der Sprung hinaus aus dem abrollenden Geschichtskontinuum unter den "freien Himmel der Geschichte". Ein Sprung ins Ungewisse, aber zugleich ein Sprung an die Ränder, die der rollende Zug der Geschichte rechts und links seines Bahnverlaufs aufgeworfen hat. Ein schmaler Streifen Geröll, doch Platz genug, um das "Jetzt" in Angriff zu nehmen. Zwar sucht Benjamin in diesen Jahren die Zeichen der Zeit mithilfe des Marxismus und einer wenn auch nicht orthodoxen, aber gleichwohl materialistischen Geschichtsdeutung zu entziffern, trotzdem bleibt seine Geschichtsphilosophie im Kern messianisch. Mit einer tief melancholischen Binnenansicht einerseits – es ist die einer unaufhaltsamen Katastrophengeschichte, auf deren stets wachsenden Trümmerhaufen der "historische Materialist" wie sein "Engel der Geschichte" mit schreckgeweiteten Augen zurückblickt – und einer "schwachen" messianischen Hoffnung andererseits, deren unverhoffte Erfüllung sich jederzeit ereignen kann.

    In der Zwischenzeit aber heißt es: Warten. Warten an den Rändern der Geschichte, mit steter Wachsamkeit für eventuell Kommendes, Ausschau haltend nach Durchbrüchen und winzigen Lücken im Geschehen sowie mit unerschöpflicher Geduld in der Arbeit des Eingedenkens und der sorgsamen Sichtung des vom Gang der Geschichte Zurückgelassenen und noch zu Bergenden. Warten – etwas, worauf Benjamin sich verstand. "Benjamin war der geduldigste Mensch, den ich je kennengelernt habe", erinnert sich Scholem an seinen Freund. Bereits das Kind hatte sich auf seiner karyatidengesäumten Loggia, wo die Zeit vornehmlich an Sommertagen schwer und träge zu stocken schien, im Warten geübt. Später, als der Erwachsene die "Stadt" und damit auch das Berlin seiner Kindheit für sich entdeckt hatte, sind es die dämmrigen Passagen der alten Treppenhäuser, wo ihm das Warten wiederbegegnet.

    "Die kleinen Treppen, die säulengetragenen Vorhallen, die Friese und Architrave der Tiergartenvillen – zum ersten Mal wurden sie beim Wort genommen. Vor allem aber die Treppenhäuser, die mit ihren Scheiben die alten waren, wenn sich auch im Innern, das man bewohnte, viel geändert hatte. Draußen regnete es vielleicht. Eine der bunten Scheiben stand offen, und beim Takte der Tropfen ging es weiter die Treppen hinauf. Unter den Karyatiden und Atlanten, den Putten und Pomonen aber, die mich damals angesehen hatten, waren mir nun die liebsten jene angestaubten aus dem Geschlecht der Schwellenkundigen, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüten. Denn sie verstanden sich aufs Warten. Und so war es ihnen eins, ob sie auf einen Fremden warteten, die Wiederkehr der alten Götter oder auf das Kind, das sich vor dreißig Jahren an ihrem Fuß vorbeigeschoben hat."

    Ein Schwellenkundiger war Benjamin längst selber geworden. Kundig des Wartens, kundig insbesondere darin, diese Zeit der Lektüre und dem Studium zu widmen, wie es seit je in der jüdischen Tradition üblich gewesen. Denn solange der messianische Zustand aussteht und die Zwischenzeit des Wartens fortdauert, solange gilt das unermüdliche Studium der Schrift, nicht zuletzt um in ihren Buchstaben mögliche Fingerzeige für das Erwartete zu entdecken. Schon das Schulkind war versessen auf Lektüre, versessen darauf, voll gespannter Erwartung mit jedem neuen Buch, das ihm in die Hände fiel, die Schwelle zu unbekannten Ansichten zu überschreiten, die ihm der Anblick der vielen fremden Wörter bot, deren Sinn zu entziffern ihm dann in den Stunden des Studiums aufgegeben war. "Für eine Woche war man gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben, das dicht und unablässig, wie Schneeflocken einen umfing", den Figuren in den kleinen Glaskugeln ähnlich, die sich beim Schütteln mit heftigem Schneegestöber umwölkten.

    Ein Kinderspielzeug, das noch der Erwachsene liebt und wie so vieles sammelt – Gegenstände wie Bücher –, um in ihre Welt wie in das Gestöber jener kleinen Kugeln aus Glas einzutreten. Ist es doch dasselbe Verhältnis, das er zu Büchern wie zu Dingen unterhält, eins, "das in ihnen nicht ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt", bekennt er in seinem "Denkbild" über das Sammeln Ich packe meine Bibliothek aus. Denn dies macht sein charakteristisches Verhältnis zu beiden aus: die nicht versiegende Aufmerksamkeit für alle nur möglichen Ansichten, die sie ihm bieten. Was Scholem einmal als kennzeichnend für die Tradition des Schriftgelehrtentums und des Kommentars im Judentum beschrieben hat, dass sie "die widersprüchlichen Meinungen mit einem Ernst und einer Unerschrockenheit" bewahre, so als ob man nie wissen könne, wo eine "einmal verworfene Meinung doch noch zum Grundstein eines ganz neuen Gebäudes" werden könne, trifft ebenso auf Benjamin, den "historischen Materialisten", zu: Mit Ernst und Unerschrockenheit das heterogenste Material sammeln und selbst dem Abwegigsten und Unscheinbarsten Beachtung und Anteilnahme nicht verweigern, als ob man nie wissen könne, in welcher Hinsicht sie nicht doch noch der Auslöser einer – wie Benjamin es nennt – "profanen Erleuchtung" werden können.

    Unerschrockenheit aber war noch in anderer Weise vonnöten: Benjamin wusste um das Außenseiterhafte seines philosophischen Schaffens, darum, dass es ihm, der sich stets gegen jede denkerische Vereinnahmung egal von welcher Seite gesperrt hat, kaum vergönnt sein würde, irgendwo festen Fuß zu fassen – lange noch bevor ihn die politische Entwicklung in Deutschland endgültig aller Daseinsmöglichkeiten beraubte. Von Scholem immer wieder gedrängt, nach Jerusalem zu kommen, selbst eine Zeitlang mit dem Gedanken spielend, sich in Moskau niederzulassen oder in die USA zu emigrieren, bleibt Benjamin, von seinen Freunden als ebenso geduldig wie zögerlich beschrieben, wie festgebannt in diesem Interim des Wartens, der Lektüre und dem Studium hingegeben. Schon früh war ihm der Lesesaal der "Bibliothèque Nationale" in Paris zu einem Lieblingsaufenthalt geworden. Ansonsten pendelte er rastlos zwischen Berlin, Paris und anderen Orten hin und her, bis er im März 1933 endgültig zu einem Exilierten wird. Seine Fähigkeit, sich trotz widrigster Lebensumstände in seine geistige Arbeit zu vertiefen, beschreibt Scholem als "von fast mirakulöser Intensität". Eine Fotografie aus den späten 30er-Jahren zeigt ihn in der "Bibliothèque Nationale", konzentriert über Stapel von Archivmaterial gebeugt – "gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben" und wie stets auf der Suche nach Kostbarkeiten. "Ich pflücke Blumen am Rande des Existenzminimums", schreibt er an eine Verwandte.

    Als sich jedoch die Verhältnisse im besetzten Frankreich immer mehr zuspitzen, ist es auch damit vorbei. Ebenso scheint die Zeit des Wartens und der Geduld für den seit Längerem schwer Herzkranken und notorisch Weltmüden an ein Ende gelangt. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, mit einer Gruppe von Flüchtlingen über die Pyrenäen nach Spanien zu entkommen, nimmt sich Walter Benjamin in der Nacht vom 26. September 1940 am spanischen Grenzort Port-Bou mit einer Überdosis Morphiumtabletten das Leben. Das Grab, worin man seine sterblichen Überreste am nächsten Tag beerdigt, ist nicht mehr auffindbar – als sei er zuletzt tatsächlich in das Treiben seiner Texte eingetreten und ganz darin verschwunden. So wie es jene chinesische Fabel schildert, die er in seiner Berliner Kindheit wiedergegeben hat.

    "Sie erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlass bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt."