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Ich schwebe über Krakau

"Die Ulica Dluga, die Lange Straße, war nicht unsere Welt, sie hatte nichts gemein mit dem historischen Moment, dem der stolze und leider überstrapazierte Name Gegenwart zukommt. Elektrizität und Verbrennungsmotoren mißfielen ihr. Sie mochte weder den Hitlerismus, den die siegreiche Wehrmacht, noch den Stalinismus, den die Rote Armee eingeschleppt hatte. Pferde, Fuhrwerke und der süßliche Geruch des Pferdedunks hätten ihr völlig genügt; die Rufe der Dienstmädchen und die Sonnenschirme der vornehmen Damen, der Wechsel der Jahreszeiten, Hochzeiten und Beerdigungen, Regen, Schnee und Sonne hätten ihr bescheidenes Dasein restlos ausfüllen können. Im Herbst türmten sich auf den Gehsteigen Kohlen, die man in Eimern in die Häuser trug oder in die Keller schaufelte, vor Weihnachten zeigten sich Tannenbäume auf den Balkonen, und unglückliche Karpfen mit Glubschaugen und sinnlichen Mäulern wurden von Familienvätern in tropfenden Netzen heimgetragen. Dort, im dichten Spalier der Bürgerhäuser, die sich solidarisch Wand an Wand lehnten, um sich gemeinsam in schweren Zeiten Mut zuzusprechen, befand sich im vierten Stock eines Mietshauses mein erstes Krakauer Domizil."

Martin Sander |
    "Ich schwebe über Krakau” - sagt der Erzähler, Adam Zagajewski, über sich. Mal blickt er irgendwo aus dem Heute (und bei Sonnenuntergang) in die den Zeiten trotzenden, unveränderten Winkel dieser Stadt, dort wo sich hinter den Stadtmauern Obst- und Gemüsegärten verbergen, wo die alte und von den Weltkriegen nahezu unangetastete Königsmetropole um den Wawel ihren provinziellen Charme bewahrt hat. Mal animiert ihn die Betrachtung eines Kirchenfensters, angefertigt, von dem Jugenstilkünstler und -dichter Wyspianski zu Höhenflügen über Kirchen und Kathedralen des westlichen Europa. Mal philosophiert Zagajewski über die Leichtigkeit der italienischen Renaissance und die Schwere deutscher Backsteingotk, über ein ungleiches gemeinsames Erbe, das Anlaß genug bietet über die philosophische Idee der Ganzeit spekulieren, über ihren Verlust und ihren erneuten Gewinns. Vor allem aber tauchen wir ein in das sozialistische Krakau, die Stadt die auch in vier volkspolnischen Jahrzehnten ihre historische Substanz bewahrte, eine Stadt, die sich wie keine andere polnische Metropole vor dem Neuen verschloß, deren Bewohner sich in ihren Wohnungen verschlossen, auf ihren Arbeitsstellen einigelten, und vor allem eines im Sinne hatten: zu überdauern - und der Erzähler fragt sich heute:

    "Wer bin ich, der ich ja auch durch jene trübe Epoche gegangen bin, und keineswegs trockenen Fußes, keineswegs rein und gelassen, innerlich gefestigt, reif und mutig, ohne zweifelhafte Kompromisse einzugehen, ohne befremdliche Gedanken zuzulassen? Jetzt, nach Jahren, kommen mir meine damaligen Schwächen und Schlappen ganz und gar unvorstellbar vor. Bin ich es gewesen? Assistent des Instituts für Gesellschaftswissenschaft, dessen Aufgabe es war (des Instituts), die Studenten der Akademie für Bergbau und Hüttenwesen ideologisch zu domestizieren. Immerhin gehörte ich formal, gesehen, zu der Armee der Landsknechte, die die Gehirne der Studenten gleichschalten sollten."

    Adam Zagajewski wurde 1945 in der von der Sowjetunion annektierten polnischen Stadt Lwow (zu österreichisch-ungarischen Zeiten) Lemberg geboren. Er wuchs in der von Polen in Besitz genommenen deutschen Stadt Gleiwitz (von nun an Gliwice) auf. 1967 debütierte er als Dichter. In Krakau hatte er zunächst Psychologie, dann Philosophie studiert und betätigte sich daraufhin gesellschaftswissenschaftlich. Die neue, volkspolnische Wirklichkeit hielt seine aus dem Osten des Landes vertriebene und im Westen Polens lange nicht heimisch gewordene Familie von sich fern, so gut es ging. Auf den jungen Dichter begann sie ihre Wirkung auszuüben. Als Mitbegründer der Dichtergruppe "Jetzt”, später als Mitglied der sogenannten "Neuen Welle” sorgte Zagajewski für Aufsehen, indem er die Hinwendung der Literatur zur Gegenwart proklamierte. Realismus als Geistehaltung - so lautete die Forderung. Den Älteren warf man Flucht aus der Wirklichkeit oder eine zu große Distanz zur Volksrepublik vor. Auch Autoren wie Tadeusz Konwicki und Zbigniew Herbert, erklärte Gegner des Regimes, wurden nicht verschont. Literatur sollte sich, wenn auch kritisch - der Trivialität des Alltags annehmen. Es galt, den Elfenbeinturm zu verlassen, um die sozialistische Bierbude zu beschreiben. Wir schmecken noch den bitteren Geschmack der Selbstkritik eines früheren Heißsporns nach, da werden wir schon wieder in die vagen Höhen der Poesie katapultiert und treten nach einer Lektürestunde mit dem Dichter-Philosophen wiederum aus dem erhabenen Lesesaal der Jagellonischen Bibliothek ins Freie:

    "Eine Minute lang erscheint die Welt unwirklich. Herausfordernd grüne Pappeln wiegen sich irreal. In den Pfützen spiegelt sich der graue Himmel, und das Abbild eines Flugzeugs, kaum größer als das einer Schwalbe, zittert, von der Sohle eines Passanten gestreift. Eine Minute lang erscheint die Welt als eine Gaukelei, ein billiger Kompromiß, eine Ablösesumme, vom redlichen, aber unbeholfenen Schöpfer einer Schurkenbande ausgehändigt. Die Gehsteige sind schräg. Die Erde rund. Der Mensch sterblich. Die Freiheit zweifelhaft."

    Adam Zagajewski wurde zum Kämpfer für die Freiheit. 1968 demonstrierte er gegen die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei. In den siebziger Jahren attackierte er die Sprache der kommunistischen Nomenklatur. Als General Jaruzelski der "Solidarnosc" 1981 den Garaus machte, ließ sich Zagajewski in Paris nieder. Statt an der Bergbauakademie in Krakau dozierte er in Houston. Wenn er in den neunziger Jahren in Krakau weilt, dann klammert er sich nicht an irgendeine verlorene Heimat. Der Dichter bleibt welt- und weitläufig - und er spielt dabei zwei Rollen zugleich , die des mythengeweihten, geheimnisumwitterten Poeten, und die des scharfsinnigen Beobachters von Realitäten samt ihrer Abgründe:

    "In der Kunst treffen Ekstase und Ironie nur selten aufeinander; meist sabotieren sie einander, versuchen sich gegenseitig zu schwächen, die Ekstase will ihren Gegner ein für allemal loswerden, ihn unterm Marmor der Ernsthaftigkeit begraben, während die Ironie versucht, die Anhänger der Erhabenheit lächerlich zu machen."

    Ist es Adam Zagajweski - über Krakau schwebend - gelungen, dieses Gleichgewicht zu halten? Wir sind jedenfalls nicht abgestürzt!