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"Ich selber sehe mich gar nicht primär als Lyriker"

In seinem Gedichtband "Aroma" verarbeitet der Autor Durs Grünbein einen Rom-Aufenthalt in 53 Gedichten. Trotz der sehr langzeiligen Werke ist der Band eher kurzweilig. Allerdings ist sich die Kritik uneins über die Qualität.

Von Martin Krumbholz | 13.12.2010
    "Kleiner Sonnengesang
    Was brütest du heut wieder aus, pinienverliebte Sonne,
    Fragt sich, nach Wochen der Übung, der Novize in Rom.
    Steigt auf den Palatin in energischen, samtenen Schritten,
    Die viel Staub hinterlassen und kleine Geröll-Lawinen. [ ... ]
    Du läßt sie rotieren, alle. Lieferst stumm das Gehackte.
    Machst hier ein Kirchlein hell, sprengst da einen Tempel,
    Öffnest die goldenen Fensterläden römischer Häuser."


    Nun, der hier die Kirchlein hell macht und die Tempel sprengt, der sich auch vom berüchtigten römischen Ferragosto nicht zermürben, sondern zu wunderbar leichten, eleganten, gut gelaunten Gedichten inspirieren lässt, ist nicht ein gewöhnlicher Tourist; es ist der deutsche Dichter und Villa-Massimo-Stipendiat des Jahres 9 nach der Jahrtausendwende, es ist Durs Grünbein. "Aroma" hat er den daraus hervorgegangen Gedichtband genannt, der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat ihm dieses frivole Wortspiel, eine Kompilation aus "a Roma", in Rom, und dem Aroma der multiplen römischen Gerüche, sehr verübelt, doch dazu später.

    Lassen wir uns zunächst einmal naiv mitreißen vom Schwung der 53 langzeiligen Gedichte, die dem Lauf des Rom-Jahres folgen, beginnend mit dem Karneval, den schon Goethe besungen hat, endend mit der feuchtkalten Spanischen Treppe am Tag von Mariä Empfängnis, dem 8. Dezember. Fragen wir uns: Ist das gute Lyrik? Und: Was ist gute Lyrik?

    Grünbein: "Ich selber sehe mich gar nicht primär als Lyriker. Ich bin jemand, der in Versen Einsichten, Erkenntnisse, Wahrnehmungen mitteilt, die aus einem persönlichen Erleben kommen, aber durchaus empfänglich sind für gesellschaftliche, landschaftliche, urbane Motive. Ich bin ein bisschen so etwas wie ein umherziehender Maler, der mit der Sprache arbeitet."

    Deshalb also heißt der Band im Untertitel "Ein römisches Zeichenbuch", was wiederum einen Doppelsinn ergibt: das Skizzenbuch einerseits, andererseits sind es ja auch die mannigfaltigen Zeichen, die Geschichts-Zeichen, die die Stadt versendet wie keine andere auf der Welt, die aufgenommen und kommentiert sein wollen. Und das tut Grünbein grandios. Der üppige Band besteht übrigens nicht nur aus den 53 Elegien, für jede Woche des Jahres eine, er enthält auch eine sehr schöne freie Übersetzung der dritten Satire des Juvenal mit einem klugen Kommentar sowie andere Prosa-Texte, die den Schauplatz Rom bespielen ...

    "Einer meiner Antriebe ist es, eine große Abwechslung zu schaffen. Da gibt es das schöne Motto von La Fontaine: "Diversité c'est ma dévise", oder wie man es etwas schöner deutsch sagen könnte: 'Abwechslung ist süß.'"

    Das ist gelungen, aber wie! Kurzweiliger jedenfalls könnte ein Gedichtband kaum sein. Es ist erstaunlicherweise Grünbeins erster längerer Rom-Aufenthalt gewesen, auf den er sich gründlich vorbereitet hat, er hatte die Stadt längst im Kopf kartografiert, er hatte auch eine Art Masterplan, ein Konzept für das zu schreibende Buch, und dann, in Rom angekommen, floss es gewissermaßen wie von selbst, anders, freier als zu Hause.

    "Das ist, wie man weiß, dem Goethe nicht anders ergangen, er erlebte dort eine sehr produktive Phase; gewisse Elegien kamen dort erst zustande, und später in Weimar war das wieder versickert. So ist das."

    Über Grünbeins enge Affinität zum klassischen Bildungsgut ist man informiert, Goethe und Vergil stehen ihm sozusagen gleich nahe; und doch wirkt der Band an keiner Stelle bildungsschwer, oder auch nur akademisch: Wo er mit klassischen Formen oder Zitaten spielt, tut er es mit staunenswerter Leichtigkeit, und immer wieder denkt man beim Lesen: Besser könnte man es nicht sagen. Hat ihn denn die Fülle des Vorwissens, konfrontiert mit der sinnlichen Anschauung des Vorhandenen, nicht blockiert?

    "Nein, als ich dort war, konnte ich das alles sofort wieder vergessen. Die Präsenz dessen, was vom Altertum noch da ist, und auch unter ständigem Gebrauch ist, diese unmittelbare Präsenz hat ihre ganz eigenen Gesetze der Wahrnehmung mitgebracht. Es ist nicht so, dass ich mit einer Überdosis Horaz oder Vergil dort hingegangen wäre, sondern die Steine haben mich von sich aus angesprochen, ich habe eigentlich die meisten wirklichen Entdeckungen erst dort gemacht."

    Grünbein ist weder Historiker oder Archäologe noch Philologe, das macht seinen Blick frei und seine Sprache durchlässig. Diese Durchlässigkeit und Offenheit, als Surplus einer durchaus anwesenden Strenge der Form, ist vielleicht das Schönste an dem Band.

    "Ich selber habe diese ganz strengen Formen nie im Kopf. Es ist so, dass man sie durch die Zeilenanordnung erst wahrzunehmen meint, aber wenn man in die Zeilen hineingeht merkt man, das ist sehr viel variabler, ich habe nie ein Metrum besonders rein behandelt. Allerdings bin ich ein Dichter, der die Sachen in einer einigermaßen gebundenen Form darbietet. Ich habe mit allen Formen experimentiert, auch mit dem sogenannten freien Vers, der übrigens so frei nie ist, auch der freie Vers besteht in der Regel aus versprengten metrischen Partikeln."

    Der eingangs erwähnte Rezensent der "FAZ", der Berliner Germanist Ernst Osterkamp, findet vom Titel angefangen ausnahmslos alles an diesem Band – bis auf Juvenals Satire – platt und banal, poetische Konfektionsware eines an sich "guten Lyrikers". Der Verriss hat Grünbein offenbar so aufgebracht, dass er sich bemüßigt fühlte, eine Erwiderung in Form eines Leserbriefs zu verfassen, publiziert in der FAZ vom 14.10., zwölf Tage nach Osterkamps harscher Kritik. Die interessanteste Frage bei diesem Konflikt ist vielleicht die nach Begriff und Wesen des Banalen, sozusagen nach der vermeintlichen Bösartigkeit der Banalität: Ist es beispielsweise im schlechten Sinn banal, wenn Grünbein die römischen "Frühstückskapellen" feiert (ein schöner Ausdruck, wie ich finde), und welche produktive Funktion könnten Elemente des Banalen in der Literatur haben?

    "Ich habe eine große Lust auf Abstürze, je höher der Ton ohnehin schon ist, je bedeutsamer scheinbar das Sujet, desto wichtiger ist es, dann doch die zerquetschte Blechbüchse am Rand zu sehen. Ich glaube, dass die Kunst immer von solchen Spannungen lebt, von gewagten Gegensätzen. Für den denkenden Menschen ist der Raum des Klischees ohnehin sehr viel größer, als die meisten glauben. Muss man Angst davor haben, oder hat das Klischee, in die Form hineingebracht, nicht auch eine Funktion? Für einen Nabokov wäre Grass insgesamt ein kitschiger Autor. Insgesamt! Das ganze Werk ist aus der Sicht sozusagen verdorben, weil es klischeehafte politische Ideen enthält. Wer dieses Schwert auspackt, der muss sich auf ein riesiges Gemetzel gefasst machen."

    Ein großes Gemetzel hat die Debatte zwischen Autor und Rezensent bisher nicht ausgelöst, aber man darf schon darauf hinweisen, dass auf einem äußerst schmalen Grat der Subjektivität wandelt, wer anderen Gemeinplätze, Klischees oder einen zu großzügigen Umgang mit dem sogenannten Banalen vorwirft. Denn, seien wir einmal ehrlich, was ist schon unwidersprochen und unumstößlich originell?

    "Was das Originelle betrifft, da fällt einem wieder Goethe ein, der sagt: Wir sind nur Originale, weil wir so wenig wissen. Das ist sicher richtig. Je mehr man dazu lernt, desto mehr findet man heraus, dass vieles von dem, was man selber für äußerst originell hält, hier und da schon mal da war. Der Künstler sollte sich eben bemühen, uns immer mal wieder zu verblüffen, hier und da ein neues kleines Stilmerkmal zu erfinden, Sujets sowieso."


    Durs Grünbein: Aroma. Ein römisches Zeichenbuch. Suhrkamp Verlag, 185 Seiten, 19,90 Euro.