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"Ich tanze nicht"

Der dänische Theologe und religiöse Schriftsteller Sören Kierkegaard gilt als früher Wegbereiter der Existenzphilosophie. Er lebte von 1813 bis 1855. Sein Denken war geprägt von der Maxime, dass die Wahrheit nicht in Sätzen gelehrt werden könne, sondern eine Bewegung des Menschen in der Zeit sei.

Von Peter Bürger | 18.12.2011
    In seinem Essay "Ich tanze nicht" versucht Peter Bürger, sich dem Denken von Kierkegaard zu nähern. Der Autor lehrte an der Universität Bremen Literaturwissenschaften. Sein Hauptwerk über die "Theorie der Avantgarde" wurde in fast alle Sprachen übersetzt.



    "Ich tanze nicht"
    Annäherungen an Kierkegaard
    Von Peter Bürger

    Erstens: Der existenzielle Denker
    Als Hegel 1831 stirbt, hinterlässt er ein übermächtiges Denkgebäude, in dem Philosophie und Religion, Kirche und Staat, Individuum und Gesellschaft miteinander versöhnt sind. Seinen Nachfolgern, die im Banne seines Denkens aufwachsen, ergibt sich fast zwangsläufig daraus die Aufgabe, das Gebäude aufzubrechen. Sie tun dies, indem sie die Blickrichtung ändern. Nicht mehr auf die Vergangenheit schauen sie, sondern in die Zukunft. Und dabei führen sie eine neue Kategorie in die Philosophie ein: das Interesse. Bei Marx ist dieses praktisch-sozial ausgerichtet, bei Kierkegaard dagegen wird es auf das einzelne Individuum bezogen.

    Hegel hatte, "wie niemand vor ihm, die wirkliche, gegenwärtige Welt zum Inhalt der Philosophie erhoben". Aber das Wirkliche galt ihm als vernünftig. Dagegen erhoben sich die Jüngeren. Marx im Namen einer zu schaffenden kommunistischen Gesellschaft, Kierkegaard im Namen des existierenden Einzelnen. Am 1. August 1835 notiert der in Kopenhagen geborene junge Philosoph und Theologe in seinem Tagebuch:

    "Was mir eigentlich fehlt, ist, ins reine mit mir selbst zu kommen darüber, was ich tun soll, nicht was ich erkennen soll. [...] Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was Gott eigentlich will, dass ich tun soll."

    Damit rückt die eigene Existenz ins Zentrum des Denkens. Der Umbruch, den die Philosophie dadurch erfährt, ist nur mit dem von Marx heraufgeführten zu vergleichen, der in seinen "Thesen über Feuerbach" schreibt:

    "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern."

    Entsprechend hätte Kierkegaard schreiben können: Für die Philosophen sind Welt und Geschichte Gegenstände der Kontemplation und des Wissens, es kommt aber darauf an, alles in Bezug auf den Existierenden zu denken. Denn Kierkegaard versteht sich als existierender Denker, der nicht objektives Wissen hervorbringen will, sondern sich leidenschaftlich über Fragen beugt, die ihn umtreiben.

    Für den existenziellen Denker bekommen Befindlichkeiten und Stimmungen, die die Philosophie bislang nur am Rande betrachtet hat, einen ganz anderen Stellenwert, weil der Existierende sich immer schon in einer Gestimmtheit vorfindet und aus ihr heraus handelt.

    Der Philosoph, der ein System errichtet, beginnt mit einem Ersten. Hegel setzt als dieses Erste den abstrakten, das heißt ganz leeren Begriff des Seins und arbeitet sich von dort aus zur Wirklichkeit vor. Und wie geht Kierkegaard vor? Auch ihm geht es um ein Erstes, aber eines, das den Menschen als existierenden betrifft: die Sünde. Wie kam die Sünde in die Welt? Die herkömmliche Antwort lautet: durch die Sünde Adams.

    "Adams Sünde bedingt die Sündigkeit als Konsequenz."

    Nein, ruft Kierkegaard, und man spürt in seinem Text seine ganze Empörung. "Wäre dies so, dann läge Adam wirklich außerhalb des Geschlechts", gehörte nicht zum Menschengeschlecht, und seine Sünde wäre von ganz anderer Art als unser aller Sünden. Nun, und wie löst Kierkegaard das Problem? Wie erklärt er, dass die Sünde in die Welt kam? Indem er den Gehalt der biblischen Erzählung in einem Satz zusammenfasst:

    "Die Sünde kam in die Welt hinein durch eine Sünde."

    Für unsern Verstand ist das keine Erklärung, sondern, wie Kierkegaard selbst eingesteht, "ein Ärgernis". Versuchen wir seinen Gedanken zu verstehen. Die herkömmliche Erklärung unterscheidet zwei Zustände: die paradiesische Unschuld und den Stand der Sündhaftigkeit, und sucht zu begreifen, wie sich Letzterer aus der Unschuld hat entwickeln können. Dabei verstrickt sie sich in die Absurdität, Adam aus dem Menschengeschlecht auszuschließen. Kierkegaard denkt die Beziehung zwischen den beiden Zuständen anders, nicht als Entwicklung, sondern als Sprung.

    Ermöglicht wird der Sprung dadurch, dass im Zustand der Unschuld etwas aufgefunden wird, was über ihn hinausdrängt. Kierkegaard nennt es Angst: nicht Furcht vor etwas Bestimmtem, sondern eine ganz unbestimmte Angst. Es ist, sagt er, die Angst vor dem eigenen Können, vor einer unbestimmten Möglichkeit. Und diese Angst, die wesentlich zur Unschuld gehört, hat etwas Anziehendes, wie Kinder verlockt werden von dem Abenteuer, das sie zugleich ängstigt. Die Angst, wie Kierkegaard sie versteht, wäre also im Zustand der Unschuld das, was den noch in einer Art Traum befangenen Geist über die Unschuld hinaustreibt - zum Sprung in die Sünde. Die Sünde ist also im Zustand der Unschuld bereits angelegt und tritt doch als plötzliches Ereignis in die Welt.

    Der Umbruch des Denkens, den Kierkegaards Hinwendung zur Existenz bedeutet, lässt auch die Darstellungsform nicht unberührt. Da er den Leser existenziell packen will, muss er Vorkehrungen treffen, damit dieser seinen Text nicht als bloßen Wissensstoff aufnimmt. Er muss ihn gleichsam zum Selbstdenken verführen. Um zu sehen, wie er dabei verfährt, muss man sich auf sein Schreiben einlassen. Das ist freilich leichter gesagt als getan.

    Greift der Leser unvorbereitet zu seinem Werk "Philosophische Brosamen", so kann ihn die Darstellungsweise Kierkegaards schon zur Verzweiflung bringen. Denn der Autor versteckt sich hier nicht nur, wie in den meisten seiner Schriften, hinter einem Pseudonym, er gibt sich darüber hinaus als "Müßiggänger" aus, der bloß eine Pièce schreibt, ein anspruchsloses Stück philosophischer Schriftstellerei. Erst im Schlusssatz des Vorworts lässt er - freilich immer noch ironisch gebrochen - durchblicken, dass es ihm um die letzten Fragen geht, um Leben und Tod, christlich gesprochen: um die ewige Seligkeit.

    "Nur mein Leben habe ich, das ich jedesmal sofort aufs Spiel setze, wenn sich eine Schwierigkeit zeigt. Da geht das Tanzen leicht, denn der Gedanke an den Tod ist eine flinke Tänzerin, meine Tänzerin, jeder Mensch ist mir zu schwer; und deshalb, ich bitte, [...] niemand fordere mich zum Tanze auf, denn ich tanze nicht."

    Auch hier verbirgt er den Ernst der Sache hinter einem Bild, dem des Tanzes. Der Bescheidenheitsgestus des Autors, der ein beträchtliches Maß an Polemik gegen die idealistische Philosophie verdeckt, verwandelt sich hier mit einem Mal in das Programm eines Denkens, das keinen geringeren Anspruch erhebt als den, das eigene Leben denkend aufs Spiel zu setzen. Zugleich lehnt er es ab, sich mit einer in betrachtender Distanz zu ihrem Gegenstand verharrenden Philosophie auseinanderzusetzen.

    Zweitens: Die Wiederholung
    Auch in der in der wundervoll leicht hingeschriebenen Schrift "Die Wiederholung", in der der philosophische Gedanke ganz in Erzählung aufgelöst ist, macht es Kierkegaard seinem Leser nicht leicht herauszufinden, worum es ihm geht. Ausführlich berichtet er über eine Reise nach Berlin, wo er früher schon einmal gewesen ist, die einzig dem Zweck dient, ausfindig zu machen, "ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat". Das Experiment führt zu dem erwartbaren Ergebnis, dass der Reisende nichts von dem wiederfindet, was ihm seinen ersten Berlin-Aufenthalt zum Erlebnis hat werden lassen. Zwar wird just das Stück von Nestroy gespielt, das er damals Abend für Abend gesehen und dabei ein junges Mädchen in ihrer Loge beobachtet hatte; aber weder bekommt er den von ihm bevorzugten Platz, noch kann er das Mädchen entdecken.

    "Eine halbe Stunde hielt ich aus, dann verließ ich das Theater und dachte: Es gibt überhaupt keine Wiederholung."

    Ist die Sache wirklich so einfach, dass sie sich mit einem praktischen Experiment im Alltag klären lässt?, fragt sich der Leser. Und eben diese Reaktion ist es, die Kierkegaard hervorrufen will. In seinem Tagebuch hält er nämlich fest, er habe mit der Berlin-Reise die Frage nach der Möglichkeit einer Wiederholung parodiert, indem er ein "Problem der Innerlichkeit" auf äußerliche Weise behandelt habe, als ob die Wiederholung außerhalb des Individuums gefunden werden könne.

    Der absichtlich irreführenden Erzählung von der Berlin-Reise stellt Kierkegaard eine andere entgegen, in der ein junger Mann die Wiederholung für sich entdeckt. Doch bevor wir Anrecht auf diese Erzählung haben, mutet uns der Autor gleich zu Beginn seiner Schrift in aphoristischer Verkürzung eine Philosophie der Wiederholung zu.

    "Wiederholung ist der entscheidende Ausdruck für das, was bei den Griechen ‚Erinnerung' war. So wie diese damals lehrten, dass alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, dass das ganze Leben eine Wiederholung ist."

    Wenn "das ganze Leben eine Wiederholung ist", dann ist das Streben nach Neuem, nach Abenteuer, nach Veränderung ein illusorisches Unterfangen, eine Selbsttäuschung. Die Aufgabe des Individuums bestünde dann nicht darin, die Wiederholung zu vermeiden - was der These zufolge auch gar nicht möglich wäre - sondern auf die richtige Weise in die (unvermeidliche) Wiederholung hineinzukommen.

    "Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert."

    Vertrackter hätte sich Kierkegaard kaum ausdrücken können, denn er hat die voneinander abzusetzenden Begriffe zugleich miteinander verschränkt. Die Erinnerung wiederholt, und die Wiederholung erinnert. Der Unterschied ist nur einer der Richtung: "nach rückwärts" oder "nach vorwärts". Vielleicht lässt sich der Gegensatz folgendermaßen fassen: Die Erinnerung wendet sich dem Vergangenen als Vergangenem zu und bleibt dabei stehen. Sie kann es hegen und pflegen, kann es verehren; aber das Vergangene bleibt gleichwohl vergangen, es geht von ihm nichts aus. Anders die Wiederholung, die das Vergangene in die Gegenwart holt, etwas mit ihr macht, sie vielleicht sogar verändert. Wenn das zutrifft, dann könnte in der Wiederholung sogar das Neue aufscheinen, das zunächst als Gegenbegriff zur Wiederholung erschien.

    Darauf will Kierkegaard aber gerade nicht hinaus; denn wenig später schreibt er:

    "Nur der wird recht glücklich, der sich nicht selbst in der Einbildung betrügt, die Wiederholung sollte etwas Neues sein, denn dann wird man ihrer überdrüssig."

    Ob ein schwermütiger Autor - und Kierkegaard war nicht nur schwermütig, die Schwermut ist auch eines seiner großen Themen - ob ein solcher Autor der rechte Mann ist, um dem Leser den Weg zum Glück zu weisen, wollen wir dahingestellt sein lassen. Festzuhalten bleibt aber, dass Kierkegaard die Wiederholung zwar nicht als etwas Neues, wohl aber als einen Umgang mit dem Vergangenen begreift, der die Gegenwart und in der Gegenwart interessiert. Von hieraus lässt sich auch verstehen, warum er behaupten kann, die Wiederholung mache den Menschen glücklich, die Erinnerung dagegen unglücklich. Denn nur die Wiederholung verknüpft das Vergangene mit der Gegenwart, während die Erinnerung die Gegenwart nicht berührt.

    In einer weiteren Gedankenschleife fügt Kierkegaard dem Gegensatz von Erinnerung und Wiederholung noch die Hoffnung hinzu; wobei er die drei Einstellungen einer deutlichen Wertung unterzieht.

    "Die Hoffnung ist ein reizendes Mädchen, das unseren Händen entflieht. Die Erinnerung ist eine schöne alte Frau, mit der einem jedoch im Augenblick nie gedient ist. Die Wiederholung ist eine geliebte Gattin, deren man nie müde wird. Denn es ist nur das Neue, dessen man überdrüssig wird, nie das Alte."

    Die "neue Philosophie", das heißt die Philosophie Kierkegaards, die die Kategorie der Wiederholung starkmacht, scheint auf einen biederen lebenspraktischen Konservatismus hinauszulaufen. Der Hagestolz Kierkegaard nimmt Partei für die "geliebte Gattin". Wohl um diesem Eindruck entgegenzuwirken, behauptet er gleich darauf:

    "Es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen".

    Man wird das dahin gehend zu verstehen haben, der Hoffende wie der Erinnernde würden aus der Gegenwart fliehen - der eine in die Zukunft, der andere in die Vergangenheit - einzig wer die Wiederholung wählte, hielte der Gegenwart stand.

    "Die Wiederholung ist das tägliche Brot, das sättigt mit Segen".

    Oder weniger theologisch formuliert:

    "Wiederholung, das ist die Wirklichkeit und der Ernst des Daseins."

    Die Entscheidung für die Wiederholung wäre also die Hinnahme des Gegebenen, der Mut, von dem hier die Rede ist, der des Stoikers. Eines Individuums, das weder wehmütig dem Vergangenen nachtrauert, noch auf eine ungewisse Zukunft setzt, sondern das Leben ergreift, das jetzt das Seine geworden ist.

    "Wer die Wiederholung wählte, der lebt."

    Dass Kierkegaards Begriff der Wahl vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abweicht, bemerkt man erst bei näherem Hinschauen. Denn nur dem Anschein nach meint er die Entscheidung für eine von mehreren Alternativen; in Wahrheit handelt es sich um einen Akt der Selbstaffirmation, in dem das Individuum sich willentlich dem Dasein unterwirft, in dem es sich nun einmal vorfindet. Während des Zweiten Weltkriegs wird Jean-Paul Sartre diesen Begriff der Wahl zur Grundlage seiner späteren Freiheitsphilosophie machen. Statt wie seine Kameraden gegen den Krieg aufzubegehren, ohne damit an seiner Lage etwas verändern zu können, entscheidet sich Sartre für die Situation, in die er geworfen ist, und nimmt damit den Krieg auf sich. Er "wählt" den Krieg, der dadurch zu "seinem Krieg" wird, zur Aufforderung, sich preiszugeben, auf sich selbst zu verzichten. Dadurch gelingt es ihm, das Entwürdigende des ihm aufgezwungenen Landser-Daseins besser zu ertragen als seine Kameraden.

    Kommen wir zu der Erzählung von dem unglücklich-glücklich verliebten jungen Mann Kierkegaards, der den Autor zu seinem Vertrauten macht und ihm eines Tages von seiner glücklichen Liebe erzählt. Dabei wiederholt er seltsamerweise immer wieder die Verse eines Gedichts, in denen ein alter Mann sich wehmütig seiner Jugendliebe erinnert. Er erlebt - wie der Autor scharfsichtig bemerkt - seine Liebe vom ersten Tag an im Modus der Erinnerung.

    "Im Grund war er mit dem ganzen Verhältnis fertig."

    Er hatte das Leben übersprungen. Gleichzeitig erwacht in ihm eine dichterische Produktivität. Das junge Mädchen war nicht seine Geliebte, sie war der Anlass, welcher das Poetische in ihm erweckte und ihn zum Dichter machte.

    Der junge Mann befindet sich in einer ausweglosen Situation, in der sich weder seine Liebe noch seine dichterische Produktivität entfalten kann. Die Liebe nicht, weil sie von Anfang an hinter ihm liegt, die Dichtung nicht, weil er seine Begabung ausschließlich dazu nutzt, das Mädchen zu bezaubern. Aus dieser Lage, in der er von Tag zu Tag unglücklicher wird, vermöchte ihn nur die Wiederholung zu befreien, die Rückkehr zum Stadium vor der Verliebtheit. Aber er bringt es nicht über sich, sich von dem Mädchen zu trennen. Der Autor entwirft nun für seinen jungen Freund einen komplizierten Trennungsplan. Dieser soll eine Beziehung zu einem anderen Mädchen heucheln und dadurch die Geliebte dazu bewegen, mit ihm zu brechen. Doch der junge Mann hat nicht die Kraft zu dem Betrug, weil er das Mädchen wirklich liebt.

    Der Leser wird vermutlich sagen, der junge Mann müsste sich entscheiden, entweder seine Liebe zu leben, das Mädchen zu heiraten und eine bürgerliche Existenz zu gründen oder auf die Verwirklichung seiner Liebe zu verzichten und sich ganz der Dichtung zu widmen. Auch der Autor erwartet von seinem jungen Freund eine Entscheidung; aber da er diese der Kategorie der Wiederholung unterstellt, hat er bereits für seinen Freund entschieden, nämlich für die Trennung von der Geliebten und die Rückkehr zum vorigen Zustand.

    Doch der Leser sagt sich: Insofern die Wiederholung zugleich eine Entscheidung für ein Leben als Dichter bedeutet, ist sie nicht ein bloßes Zurückholen eines vergangenen Zustands in die Gegenwart, sondern zugleich etwas Neues. Der junge Mann wäre nicht mehr der frei schweifende Jüngling, der er vor seiner Verliebtheit war, sondern jemand, der eine Lebensentscheidung getroffen hat. Wie Kierkegaard die Erzählung angelegt hat, würde die Wiederholung also - entgegen seiner Weigerung, das Neue mit der Wiederholung zusammenzudenken - doch etwas Neues enthalten und zwar etwas wesentlich Neues. Nicht nur regt das Medium der Erzählung den Leser zum Selbstdenken an, es bringt auch einen Bedeutungsüberschuss gegenüber der theoretischen Reflexion hervor.

    Nachdem er so dem Leser die Möglichkeit gegeben hat, die Kategorie der Wiederholung als lebensentscheidende Selbstwahl zu erfassen, kann Kierkegaard die Erzählung auf eine unerwartete Weise enden lassen. Nachdem der junge Mann alle Höllen verzweifelter Unentschlossenheit durchlebt und durchlitten hat, ekelt ihn das Leben an.

    "Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen in welchem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein - es riecht nach - Nichts."

    Eines Tages erfährt er aus der Zeitung, dass das Mädchen geheiratet hat. Er bricht daraufhin in Jubel aus:

    "Sie ist verheiratet [...]. Ich bin wieder ich selbst; hier habe ich die Wiederholung; ich verstehe alles, und das Dasein kommt mir schöner vor als jemals."

    Mit diesem ironischen Schluss der Erzählung unterwirft Kierkegaard seinen Leser gewissermaßen einer Abschlussprüfung. Wenn er die Theorie der Wiederholung verstanden hat, dann hat er auch begriffen, dass der junge Mann die "eigentliche Wiederholung" gerade nicht erreicht. Denn die ihn verändernde Rückkehr zum Zustand vor seiner Verliebtheit fällt ihm bloß zu; sie ist gerade nicht das Resultat einer lebensbestimmenden Entscheidung. Was ausfällt, ist gerade das Wichtigste: die Wahl.

    Drittens: Zwischenbetrachtung: Das Paradox des existenziellen Schreibens
    Dass die Geschichte des jungen Mannes auf eigene Erfahrungen Sören Kierkegaards zurückgeht, ist bekannt. 1840 verlobt er sich mit Regine Olsen, einem Mädchen aus dem Kopenhagener Bürgertum. Kaum ein Jahr später löst er die Verlobung wieder auf, weil er der Auffassung ist, dem Mädchen das Leben an der Seite eines schwermütigen, zehn Jahre älteren Mannes nicht zumuten zu können. Da er sich außerstande sieht, ihr den Grund für seinen Rückzug mitzuteilen, spielt er, um sie zurückzustoßen, die Rolle eines leichtsinnigen Lebemannes, dem es mit seiner Liebe zu ihr nie ernst war. Regine Olsen heiratet einen ehemaligen Verehrer.

    Es kann hier nicht darum gehen, den dürren Bericht von Kierkegaards Verhältnis zu Regine Olsen mit der Geschichte des jungen Mannes vergleichen zu wollen. Aber unsere Darstellung dürfte doch erkennbar gemacht haben, dass der Autor das autobiografische Material in wesentlichen Punkten verändert. Nicht nur unterbricht er seine Erzählung mit dem ausführlichen Bericht von der Berlin-Reise, der den Leser auf Abwege lockt, er mutet ihm auch eine Theorie der Wiederholung zu, von der die Erzählung ihrerseits abweicht, ohne dass diese Abweichungen erörtert würden. Kein Zweifel, dass diese Eigenheiten Resultat einer bewussten Erzählstrategie sind.

    Dem subjektiven Denker, der von seiner eigenen Person und seinen eigenen Erfahrungen her denkt, geht es nicht darum, seinem Leser eine Wahrheit mitzuteilen; er will seinen Adressaten erreichen, dieser soll die Botschaft als eine ihn betreffende erfahren. Das ist nur möglich, wenn er aus der Passivität des bloß Aufnehmenden heraustritt und sich als tätiges, denkendes und fühlendes Subjekt gegenüber dem Text verhält. Durch die direkte Mitteilung einer Botschaft lässt sich das Kierkegaard zufolge nicht bewirken, vielmehr bedarf es des Kunstgriffs der indirekten Mitteilung. Das führt zu dem Paradox, dass der subjektive Denker seine Erfahrungen gerade nicht unmittelbar aussprechen darf (denn dadurch würde er den Leser zur Identifikation verleiten, nicht aber ihn zum Selbstdenken bringen); vielmehr muss er seine Botschaft verstellen, damit der Leser sie für sich entdecken kann.

    Viertens: Der Sprung
    In einem Nachwort an den "wirklichen Leser" seines Buches gibt Kierkegaard eine andere Deutung des Schlusses der Erzählung von dem jungen Mann. Den Jubel, mit dem dieser seine ihm nur zugefallene Freiheit preist, versteht er als Ausdruck einer religiösen Stimmung, die aber "niemals zum Durchbruch kommt". Der junge Mann hätte also einen Akt göttlicher Gnade erlebt, ohne ihn jedoch als solchen erfahren zu haben. Hätte er einen tieferen religiösen Hintergrund gehabt, dann wäre er nicht Dichter geworden. Dann hätte alles religiöse Bedeutung bekommen.

    Damit deutet Kierkegaard an, dass die Wiederholung für ihn letztlich Statthalterin einer religiösen Kategorie ist, dass sie für den Sprung in den Glauben steht, die rational nicht begründbare Entscheidung für ein Leben, das im Verhältnis zu Gott seinen Mittelpunkt findet.

    In der "Unwissenschaftlichen Nachschrift" zu den "Brosamen" kommt Kierkegaard auf den Sprung in den Glauben zurück. Er kommentiert dort ein Gespräch zwischen Lessing und Jacobi über den Spinozismus und den Salto mortale in den Glauben, zu dem Jacobi seinen Freund Lessing erfolglos zu bekehren sucht. Dass Kierkegaard in diesem Disput für den Aufklärer und Ironiker Lessing Partei ergreift, ist erstaunlich, würde man doch eher das Gegenteil erwarten. Die Gründe dafür nennt er selber. Lessing hält den Gegensatz zwischen geschichtlicher Existenz und ewiger Seligkeit auseinander, ja er verbreitert noch den Graben, der sie trennt. Das aber ist die Voraussetzung für den paradoxen Glauben Kierkegaards. Nur wenn diesseitige und jenseitige Welt, geschichtliche Wirklichkeit und Ewigkeit in jeder Hinsicht voneinander getrennt sind, es zwischen ihnen keine Vermittlung gibt - Kierkegaard verabscheut den hegelschen Begriff der Vermittlung -, kann der Glaube seine ganze paradoxe Kraft entfalten.

    "Glaube ist gerade der Widerspruch zwischen der unendlichen Leidenschaft der Innerlichkeit und der objektiven Ungewissheit."

    Was aber Jacobi angeht, tut er, indem er den Freund zum Sprung in den Glauben zu überreden versucht, gerade das Falsche. Er macht diesem nämlich den Sprung unmöglich. Denn wenn Lessing aufgrund des Gesprächs den Salto mortale tatsächlich unternähme, dann wäre es nicht sein Sprung, sondern der Jacobis. Er spränge dann gleichsam für den andern in den Glauben. Der Sprung wäre dann etwas, was sich übertragen lässt, und nicht die subjektive Entscheidung des einzelnen Individuums. Anders gesagt, indem Jacobi den Freund zu überreden versucht, ist er der allein Tätige. Indem er dem Freund den Übertritt zum Glauben zu erleichtern sucht, nimmt er diesem gerade den Charakter der pathetischen Entscheidung. Lessing ist also im Recht, wenn er Jacobis Ansinnen mit der ironischen Bemerkung zurückweist, seinen alten Beinen und seinem schweren Kopf könne er den Sprung nicht mehr zumuten.

    Aber was tut Kierkegaard, indem er seinerseits vom Sprung in den Glauben handelt? Einerseits ergreift er für Lessing Partei, der den Graben zwischen vernünftiger Rede und Glauben betont. Indem er das tut, befindet er sich mit Lessing diesseits des Grabens. Andererseits will er aber den Sprung, will, dass der Leser sich zu einem Salto mortale entscheidet - zum richtigen, nur aus dem eigenen Ich entspringenden Sprung. Doch indem er davon redet, macht er es, wie Jacobi, seinem Leser gerade unmöglich, den Sprung als seinen eigenen Akt zu vollziehen. Wäre er konsequent, müsste er vom Sprung schweigen, denn nur so könnte er sicherstellen, dass sein Leser ohne Anstoß von außen seine Glaubensentscheidung trifft.

    Wenn das Wesentliche am Christentum die Aneignung ist, der Glaube, und dieser als etwas ganz und gar Subjektives ausschließlich das Verhältnis des einzelnen Individuums zu Gott betrifft, dann ist das Wesentliche am Christentum nicht mitteilbar. So gesehen ist Kierkegaards Vertrauen in die indirekte Mitteilung immer noch überschwänglich oder, anders gesagt, ein Ausweichen vor der letzten Konsequenz seines Denkens.

    Der radikale Solipsismus Kierkegaards ist ein Denken, das sich, wie er es formulieren würde, auf die Spitze des eigenen Selbst stellt und sich in dieser unmöglichen Position zu halten sucht. Dass sie unmöglich ist, zeigt sich am Verlangen des Subjekts nach Mitteilung, das Kierkegaard eingesteht. Sein Ich ist nicht das in sich ruhende des Stoikers, sondern das unruhige, gehetzte der Moderne.

    Nur weil das so ist, geht es uns noch an. Drängte sein Ich nicht ständig über sich hinaus, nicht nur zu Gott, sondern auch zum anderen, dann wäre sein Solipsismus eine Falle, die ihm jegliche Bewegungsfreiheit raubte. Dieser ist aber, wie er selbst es nennen würde, "dialektisch", voller Widersprüche und nicht vorhersehbarer Bewegungen. Die Unruhe, der Spürsinn für die Widersprüche der eigenen Existenz, rettet sein Denken, dem seine offensichtlichen Inkonsequenzen vorhalten zu wollen beckmesserisch wäre. Dieser Christ, der seitenlang über Proselytenmacherei spotten kann, schreibt selbst an einer Apologie des Christentums, des wahren Christentums, das einzig im Glauben an das unmögliche Faktum gründet, dass Gott Mensch wurde.

    Wenn von Kierkegaards oft langatmigen Schriften, die den Leser auf eine harte Probe stellen, gleichwohl eine bis heute ungebrochene Faszination ausgeht, dann dürfte das daran liegen, dass hier eine Existenz sich ausschließlich für ein Leben im Geist entschieden hat. In der Behauptung, dies und nur dies sei das Leben, alles andere - Reichtum, Macht, gesellschaftliche Stellung - dagegen sei bloß "Spaß", besteht gerade heute die Provokation seiner Schriften. Sie ist von Kierkegaard gewollt.

    Fünftens: Nachbemerkung - mit Rücksicht auf Georg Lukács
    Dass Kierkegaard mit Heidegger und Sartre zwei bedeutende Nachfolger gefunden hat, ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass der spätere marxistische Philosoph Georg Lukács 1911 in der Zeitschrift "Logos" einen Aufsatz über die "Metaphysik der Tragödie" veröffentlicht hat, der vor Heidegger das existenzielle Denken von Kierkegaard aufnimmt und zu einer Philosophie der erlösenden Tat weiterentwickelt .Wie dieser auf dem schroffen Gegensatz von alltäglichem Existieren und eigentlicher Existenz im Angesicht Gottes besteht, so Lukács auf dem zwischen "gewöhnlichem Leben" und "wahrem Leben".

    "Das [gewöhnliche] Leben ist eine Anarchie des Helldunkels: nichts erfüllt sich je in ihm ganz und nie kommt etwas zum Ende [...]. Alles fließt und fließt ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung [...].

    Das wahre Leben ist immer unwirklich, ja immer unmöglich für die Empirie des Lebens. Etwas leuchtet empor, zuckt blitzend auf über ihren banalen Pfaden [...], der Zufall, der große Augenblick, das Wunder."


    Wie für Kierkegaard gibt es auch für Lukács keinen Übergang von einer Sphäre des Daseins zur anderen, sondern nur den Sprung des tragischen Helden in die Todesbereitschaft. Es geht ihm dabei aber nicht nur um eine Bestimmung der Tragödie, sondern darum, die aus allen Koordinaten des gewöhnlichen Lebens heraustretende Tat zu denken, durch die der Mensch sich selbst verwirklicht, theologisch gesprochen: sich erlöst. Auch nach seinem Übertritt zum Kommunismus wird Lukács die revolutionäre Tat zunächst noch in Kategorien der Selbsterlösung des Subjekts denken. - Die Wege von Kierkegaards leidenschaftlichem Denken führen eben nicht nur zu Gott.