Woraus sind Erinnerungen? Wie entstehen sie? Die Erinnerung an den zarten Geschmack einer Oblate? Oder die Erinnerung daran, in welchem Land die Stadt Dakar liegt? Das menschliche Gedächtnis funktioniert auf sehr unterschiedlichen Ebenen: Hirnforscher haben fünf verschiedene Gedächtnis-Systeme identifiziert.
Das einfachste ist das "prozedurale Gedächtnis": Es enthält vor allem motorische Fähigkeiten - dass man sich zum Beispiel eingeprägt hat, wie man Fahrrad fährt oder wie man Klavier spielt.
Eine Melodie wieder zu erkennen, ist schon eine schwierigere Gedächtnisleistung – Fachleute nennen diese zweite Form "Priming" oder "Prägung": Das Gehirn wird durch einen unbewussten Reiz so geprägt, dass man sich später leicht wieder daran erinnert. Das dritte, das "perzeptuelle Gedächtnis" wiederum sorgt dafür, dass man Dinge eindeutig identifizieren kann, die man schon früher wahrgenommen hat: Eine dünne weiße Scheibe Gebäck ist eine wohlschmeckende Oblate. Erst als Viertes folgt das, was eigentlich so simpel wirkt: Die Erin-nerung an Fakten ist im "Wissens-System" gespeichert - etwa dass "memory" "Erinnerung" bedeutet oder dass Dakar die Hauptstadt des Senegal ist.
Bleibt schließlich das fünfte und vielschichtigste System von Erinnerungen: das autobiografische Gedächtnis. Darin ist der erste Kuss gespeichert – und noch viel mehr aus der persönlichen Geschichte.
1. These: Durch das autobiografische Gedächtnis wird der Mensch zum Menschen.
Tiere haben ein Gedächtnis für Gefahren, erkennen giftiges Futter und wissen, wo sie leckeres Fressen finden. Vom zeitlichen Zusammenhang haben sie keine Vorstellung: Ein Hund weiß nicht, dass es vorgestern war, als er Kotelettknochen abgenagt hat. Nur Menschen verfügen über das komplexe "autobiografische" Gedächtnis. Es umfasst drei Dimensionen, sagt der Hirnforscher Hans Markowitsch: Erstens kann der Mensch Ereignisse auf einem Zeitstrahl einordnen.
"Autobiografisches Gedächtnis bedeutet, dass wir eine geistige Zeitreise antreten können in die Vergangenheit zurück plus in die Zukunft. Das heißt, wir können uns überlegen, was wer-de ich im Sommer machen, wo gehe ich in Urlaub, ansonsten werden wir uns immer bei der Rückreise in die Vergangenheit erinnern können, wo war ich letztes Jahr im Urlaub, was habe ich vor 10 Jahren gemacht, das ist die eine Ebene."
Zweitens kann der Mensch die Ereignisse zu seiner eigenen Identität in Beziehung setzen. Er weiß, dass er eine eigene Person ist, die sich von den anderen unterscheidet und die im Lauf der Zeit dieselbe bleibt. Das autobiografische Gedächtnis liefert die Sicherheit, dass derjenige, der sich im Jahr 2006 ein neues Auto kauft, derselbe ist, der 1966 einen Tretroller geschenkt bekam. Und der Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte ist fast immer mit Gefühlen ver-bunden: Man denkt mit Stolz an den ersten Tretroller, mit Wehmut an den ersten Kuss...
Drittens zeichnet sich das autobiografische Gedächtnis dadurch aus, dass es reflexiv ist. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer formuliert es so: Wir können uns daran erinnern, dass wir uns erinnern können.
"Das hört sich abstrakt an, heißt aber ganz konkret, dass wir bewussten Zugriff auf das Ge-dächtnis nehmen können. Alle Lebewesen haben Gedächtnis, aber die meisten Gedächtnis-formen sind nur implizit: Also dass man gelernt hat, wie man eine Nuss knacken kann oder einen Stein auf etwas fallen lassen kann - aber wenn man das tut, dann tut man das, weil die Situation es erfordert."
Also in einer automatischen Reaktion: Andere Lebewesen denken nicht darüber nach, was zu tun ist. Menschen dagegen können den Fundus ihrer Erinnerung durchstöbern und prüfen: Was ist jetzt gerade das beste? Der Mensch reagiert nicht instinktiv auf einen Reiz der Umwelt, sondern kann sich von der aktuellen Situation distanzieren und überlegen, was er früher gemacht hat - und sich dann für eine Handlung entscheiden. Damit macht erst das autobiografische Gedächtnis ein bewusstes Handeln möglich. Also ist es nicht nur ein biologisches Phä-nomen, sondern hat auch entscheidende Bedeutung für den philosophischen Begriff vom Menschen.
Darum haben sich auch die Professoren Markowitsch, Naturwissenschaftler an der Universität Bielefeld, und Welzer, Geisteswissenschaftler an der Universität Witten-Herdecke, zusam-mengetan. Ihnen ist klar geworden: Man kann die Entwicklung von Gedächtnis, Gehirn und menschlicher Identität nur erforschen, wenn man sowohl biologische als auch kulturelle Aspekte untersucht.
In der Praxis war es nicht einfach, den Zusammenhang zwischen Erinnerungen und Gehirn-Aktivität zu beobachten, denn sozial- und neurowissenschaftliche Methoden lassen sich nicht bruchlos kombinieren. Zum Beispiel pflegt Harald Welzer die Testpersonen in sozialwissenschaftlichen Interviews nach ihren Erinnerungen zu befragen. Aber wenn man Daten der Gehirnaktivität bekommen will, muss man die Probanden in einen Kernspintomographen legen. Und darin dürfen sie nicht reden, weil das die Bilder aus ihrem Gehirn verwischen würde. Sie dürfen auch nur etwa 2½ Minuten in der Maschine liegen. Daher hat Welzer vorab ihre Le-bensgeschichten in Interviews abgefragt und wichtige Erlebnisse herausgefiltert, danach ka-men sie zu Hans Markowitsch in die Röhre.
"Wir haben die Personen in einen Kernspintomographen gelegt und haben ihnen dann Stich-worte gegeben zu Erlebnissen, die sie erinnern sollten, die wir aber vorher über ein sozialwissenschaftliches Interview erfragt hatten: Also jemand erzählt, 1968 habe ich beim Marathon in Saloniki den zweiten Platz gemacht, dann bringen wir Marathonlauf als Stichwort und die Person muss sich dann die nächsten 30-40 Sekunden an das Erlebnis erinnern, und was wir finden, ist, dass das Durchleben von derartigen Situationen bestimmte Bereiche im Gehirn besonders aktiviert."
Und diese Aktivierung lässt sich messen, denn wenn Nervenzellen angeregt werden, fließt mehr Blut. Die Wissenschaftler erhielten ein Bild, auf dem jeweils die aktivierten Bereiche des Gehirns farblich markiert waren und konnten sie den verschiedenen Gedächtnis-Systemen zuordnen.
Die neurologischen Messverfahren liefern bisher nur einen unscharfen Einblick ins menschli-che Gehirn. Aber die gemeinsame Betrachtung aus physiologischem und kulturellem Blick-winkel eröffnet dennoch eine grundlegend neue Perspektive.
2. These: Die Entwicklung des Gehirns ist ein biologischer, sozialer und kultureller Prozess.
Das Autobiografische Gedächtnis ist die komplexeste Form des Erinnerungsvermögens. Es bildet sich erst beim jungen Erwachsenen, wenn das Gehirn voll ausgereift ist. Die frühen, einfachen Formen von Gedächtnis dagegen funktionieren bei kleinen Kindern genauso wie bei Tieren, erläutert Harald Welzer:
"Kleine Kinder lernen, sich zu erinnern darüber, dass es wiederkehrende Abläufe und wie-derauftauchende Personen gibt: Wiederkehrende Abläufe sind sowas wie dass das Baden im-mer gleich funktioniert. Oder dass das Essen gleich funktioniert. Es gibt Abläufe."
Bei einem Kind von 6 oder 7 Monaten unterscheidet sich diese Art Erinnerung kaum von der einer Katze. Doch mit etwa anderthalb Jahren beginnen Kinder zu erzählen. "Bei Oma gewesen", heißt es dann, denn sie wissen: Etwas ist passiert, können das Ereignis aber nicht mit ihrer eigenen Person in Beziehung bringen. Harald Welzer spricht von "verinselter" Erinne-rung, weil das Verbindende noch fehlt. Auch Schimpansen verfügen über diese Form von Gedächtnis – in der Wissenschaft wird gestritten, ob sie vielleicht sogar eine einheitliche Ver-bindung zwischen den Episoden herstellen können, also eine Vorstellung von Identität haben.
Ab dem zweiten Lebensjahr trennen sich die Entwicklungswege. Bei Affen verbessert sich nur die Motorik weiter, Kinder dagegen beginnen durch Beobachtung, Nachmachen, kurz durch Interaktion mit ihren Eltern zu lernen.
"Wir haben eine kleine Studie gemacht, wo wir Kindern Fotos gezeigt haben und sie dann gebeten haben zu beschreiben, wo das war. Und man merkt den deutlichen Unterschied zwi-schen Zwei-, Drei- und Vierjährigen unter anderem daran, dass die einen sagen, "Anton bei Oma" und die anderen sagen "ich in Krefeld". An solchen Sachen kann man sehr schön sehen, dass die Individualität, die Identität und die Ich-Bildung etwas ist, was aus der Sozialität herauswächst. Man beginnt sich als ein kontinuierliches Ich zu begreifen, weil einen die so-ziale Umwelt als kontinuierliches Ich adressiert."
Dass die Anregungen aus der Umwelt eine entscheidende Rolle für die kindliche Entwicklung spielen, ist in den Sozialwissenschaften seit langem bekannt – es lässt sich aber auch natur-wissenschaftlich belegen. Ein Großteil der "Hardware", der Verschaltungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns, entsteht erst durch äußere, soziale Reize.
Sehr grundlegende Fähigkeiten sind davon betroffen: das Sehen zum Beispiel. Neurologische Experimente haben gezeigt, dass das Seh-Vermögen ausgewachsener Tiere davon abhängt, welchen visuellen Reizen sie als Junge ausgesetzt waren. Bei Kindern hat man beobachtet, dass sie bis zur Pubertät richtig sprechen lernen müssen – danach ist es zu spät. Die Verschal-tungen im Gehirn kann dann nicht mehr hergestellt werden, erklärt Markowitsch.
"Sind Bereiche, die ganz wesentlich abhängen von sozialen Wechselwirkungen, auch Wech-selwirkungen mit Erwachsenen, wo wir im Grunde auch appellieren können an die Eltern, wie wichtig es ist, Kinder entsprechend zu erziehen, weil sonst in der Schule nicht mehr nachge-holt werden kann, was in der Kinderstube nicht passiert ist."
Auch die Produktion von Hormonen, die das soziale Verhalten beeinflussen, zum Beispiel die Fähigkeit zur Partnerbindung, hängt von den Reizen in den ersten Lebensjahren ab - insbe-sondere von der Zuwendung. Wird die Entwicklung behindert, verkümmern bestimmte Berei-che des Hirns.
Im Grundschul-Alter setzt allmählich die Ausreifung des Stirnhirns ein und die sozialen und emotionalen Fähigkeiten entwickeln sich: Das ist der entscheidende Prozess für die Persön-lichkeitsbildung, der bis ins frühe Erwachsenenalter dauert. Erst im dritten Lebensjahrzehnt hat sich die Vorstellung von der eigenen Identität voll entfaltet, mit dem autobiografischen Gedächtnis als "Zentral-Organ". Gerade diese letzte und anspruchsvollste Form des Gedächt-nisses wird also stark durch die sozialen Umwelt des Heranwachsenden geprägt. Und das heißt, so Welzer:
"Dass ein Gehirn im strikten Sinne ein bio-soziales oder wenn man will, ein bio-kulturelles Organ ist und seine Entwicklung der eigenen Potentiale sehr stark davon abhängig ist, in welcher sozialen und kulturellen Umwelt es sich entwickelt."
3.These: Die menschliche Evolution wird auch durch kulturelle Einflüsse gesteuert.
Dass die kulturelle Situation die physiologischen Hirn-Strukturen beeinflusst, zeigt sich zum Beispiel an der so genannten "Frühkindlichen Amnesie". Damit wird keine Krankheit be-zeichnet, sondern das Phänomen, dass sich niemand an seine ersten Lebensjahre erinnern kann. Wann diese natürliche Erinnerungslücke endet, hängt von der Kultur ab, in der man lebt.
"Leute im westlichen Kulturkreis datieren ihre frühesten Lebenserinnerungen in der Regel auf ein Alter von drei oder dreieinhalb Jahren, während es in asiatischen Kulturbereich eher das Alter zwischen fünf und sechs Jahren ist. Und da wird man sehr schnell dazu kommen, dass diese Form von kindlicher Amnesie etwas damit zu tun hat, welche Auffassung vom In-dividuum in den jeweiligen Gesellschaften entwickelt werden."
Ursache ist die große Bedeutung des Individualismus im Westen, meint Welzer: Darum ist das Gedächtnis-Potential für die persönliche Geschichte weiter entwickelt als in Gesellschaf-ten, die dem Individuum weniger Aufmerksamkeit schenken. Und Markowitsch ergänzt: Auch Menschen, die im Kibbuz aufgewachsen sind, also sehr gemeinschafts-orientiert, kön-nen sich erst an Erlebnisse ab dem Alter von 5 Jahren entsinnen.
Neben der räumlichen hat der kulturelle Einfluss auch eine historische Dimension.
"Es bezieht sich nicht nur darauf, dass unsere Umwelt im 21.Jahrhundert von der Luftquali-tät, von der Anzahl der Bäume, von der Asphaltierung her etwas völlig Anderes ist als die Entwicklungsumwelt vor 1000 Jahren, sondern auch die Verkehrsformen, die Menschen ent-wickelt haben, sind etwas völlig Anderes. Wenn Sie an so Etwas denken wie Zeit: Dann ist sicherlich unsere Entwicklungsumwelt bei einem Kind, das im Jahr 2006 geboren wird, sehr stark davon geprägt, dass es sehr abstrakte Zeitnormen gibt: Zeiten, in denen man schläft, in denen man arbeitet, in denen man sich erholt."
Der heutige Umgang mit Zeit wurde durch die Industriegesellschaft geprägt. Unseren Vorfah-ren hat man diesen Zeit-Begriff vor 150 Jahren noch mit roher Gewalt eingeprügelt: Zu Be-ginn der Industrialisierung wurden die Arbeiter mit der Peitsche gezwungen, 12 Stunden in der Fabrik zu verbringen. Inzwischen ist der Acht-Stunden-Tag zu einer selbstverständlichen Norm geworden, die nicht nur die Arbeit, sondern auch Schlafen und Erholung strukturiert. An die Stelle äußerer Gewalt ist der innere Zwang getreten: Dass die Arbeit acht Stunden dauert, ist in den Industrieländern eine selbstverständliche Regel. Sie prägt auch die Rentner - und den Erziehungsstil der Eltern.
Das heißt: Das soziale Umfeld wirkt heute anders auf die Entwicklung des Gehirns als vor der Industrialisierung. Das Gehirn entwickelt andere Potentiale, es passt sich an den historischen Wandel an. Hans Markowitsch folgert:
"Das heißt, dass Natur sich nicht selbst entwickelt, sondern gerade menschliche Natur im sozialen Umfeld sich entwickelt und abhängig ist von vielerlei auch kulturellen Gegebenhei-ten. Und dass es von daher fast ein zwangsläufiger Trend ist, dass sich Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zusammentun müssen."
Wenn sie die menschliche Evolution erforschen wollen.
Die Ergebnisse der Hirnforschung eröffnen zugleich eine neue philosophische Perspektive. Die natürliche Entwicklung des Menschen wird demnach von einer Mischung biologischer, sozialer und kultureller Faktoren vorangetrieben – also ist die jahrhundertealte Sichtweise überholt, dass es eine strikte Trennung zwischen Angeborenem und Erlerntem gäbe, zwischen Natur und Kultur, kurz einen Dualismus von Körper und Geist.
"Das Potential ist auf jeden Fall da, eine Sichtweise zu entwickeln, die ohne diese alten Dua-lismen Anlage-Umwelt, Instinkt-Lernen und so weiter auskommt. Das ist alles bereit gestellt, dass wir das vergessen können und versuchen, neue Subjektbilder zu entwickeln."
Bisher hat sich diese Konsequenz weder in den Natur- noch in den Kulturwissenschaften durchgesetzt, meint Harald Welzer. Die Folge müsste sein, dass man einen Menschen nicht mehr vom einzelnen Subjekt her betrachtet, sondern Menschengruppen untersucht. Anders gesagt: Es müsste weniger um das einzelne Gehirn als um die Interaktionen zwischen Gehir-nen gehen. Und die traditionelle Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wäre ebenfalls überholt – auch wenn sie in der akademischen Erinnerung tief verwurzelt ist.
Das einfachste ist das "prozedurale Gedächtnis": Es enthält vor allem motorische Fähigkeiten - dass man sich zum Beispiel eingeprägt hat, wie man Fahrrad fährt oder wie man Klavier spielt.
Eine Melodie wieder zu erkennen, ist schon eine schwierigere Gedächtnisleistung – Fachleute nennen diese zweite Form "Priming" oder "Prägung": Das Gehirn wird durch einen unbewussten Reiz so geprägt, dass man sich später leicht wieder daran erinnert. Das dritte, das "perzeptuelle Gedächtnis" wiederum sorgt dafür, dass man Dinge eindeutig identifizieren kann, die man schon früher wahrgenommen hat: Eine dünne weiße Scheibe Gebäck ist eine wohlschmeckende Oblate. Erst als Viertes folgt das, was eigentlich so simpel wirkt: Die Erin-nerung an Fakten ist im "Wissens-System" gespeichert - etwa dass "memory" "Erinnerung" bedeutet oder dass Dakar die Hauptstadt des Senegal ist.
Bleibt schließlich das fünfte und vielschichtigste System von Erinnerungen: das autobiografische Gedächtnis. Darin ist der erste Kuss gespeichert – und noch viel mehr aus der persönlichen Geschichte.
1. These: Durch das autobiografische Gedächtnis wird der Mensch zum Menschen.
Tiere haben ein Gedächtnis für Gefahren, erkennen giftiges Futter und wissen, wo sie leckeres Fressen finden. Vom zeitlichen Zusammenhang haben sie keine Vorstellung: Ein Hund weiß nicht, dass es vorgestern war, als er Kotelettknochen abgenagt hat. Nur Menschen verfügen über das komplexe "autobiografische" Gedächtnis. Es umfasst drei Dimensionen, sagt der Hirnforscher Hans Markowitsch: Erstens kann der Mensch Ereignisse auf einem Zeitstrahl einordnen.
"Autobiografisches Gedächtnis bedeutet, dass wir eine geistige Zeitreise antreten können in die Vergangenheit zurück plus in die Zukunft. Das heißt, wir können uns überlegen, was wer-de ich im Sommer machen, wo gehe ich in Urlaub, ansonsten werden wir uns immer bei der Rückreise in die Vergangenheit erinnern können, wo war ich letztes Jahr im Urlaub, was habe ich vor 10 Jahren gemacht, das ist die eine Ebene."
Zweitens kann der Mensch die Ereignisse zu seiner eigenen Identität in Beziehung setzen. Er weiß, dass er eine eigene Person ist, die sich von den anderen unterscheidet und die im Lauf der Zeit dieselbe bleibt. Das autobiografische Gedächtnis liefert die Sicherheit, dass derjenige, der sich im Jahr 2006 ein neues Auto kauft, derselbe ist, der 1966 einen Tretroller geschenkt bekam. Und der Rückblick auf die eigene Lebensgeschichte ist fast immer mit Gefühlen ver-bunden: Man denkt mit Stolz an den ersten Tretroller, mit Wehmut an den ersten Kuss...
Drittens zeichnet sich das autobiografische Gedächtnis dadurch aus, dass es reflexiv ist. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer formuliert es so: Wir können uns daran erinnern, dass wir uns erinnern können.
"Das hört sich abstrakt an, heißt aber ganz konkret, dass wir bewussten Zugriff auf das Ge-dächtnis nehmen können. Alle Lebewesen haben Gedächtnis, aber die meisten Gedächtnis-formen sind nur implizit: Also dass man gelernt hat, wie man eine Nuss knacken kann oder einen Stein auf etwas fallen lassen kann - aber wenn man das tut, dann tut man das, weil die Situation es erfordert."
Also in einer automatischen Reaktion: Andere Lebewesen denken nicht darüber nach, was zu tun ist. Menschen dagegen können den Fundus ihrer Erinnerung durchstöbern und prüfen: Was ist jetzt gerade das beste? Der Mensch reagiert nicht instinktiv auf einen Reiz der Umwelt, sondern kann sich von der aktuellen Situation distanzieren und überlegen, was er früher gemacht hat - und sich dann für eine Handlung entscheiden. Damit macht erst das autobiografische Gedächtnis ein bewusstes Handeln möglich. Also ist es nicht nur ein biologisches Phä-nomen, sondern hat auch entscheidende Bedeutung für den philosophischen Begriff vom Menschen.
Darum haben sich auch die Professoren Markowitsch, Naturwissenschaftler an der Universität Bielefeld, und Welzer, Geisteswissenschaftler an der Universität Witten-Herdecke, zusam-mengetan. Ihnen ist klar geworden: Man kann die Entwicklung von Gedächtnis, Gehirn und menschlicher Identität nur erforschen, wenn man sowohl biologische als auch kulturelle Aspekte untersucht.
In der Praxis war es nicht einfach, den Zusammenhang zwischen Erinnerungen und Gehirn-Aktivität zu beobachten, denn sozial- und neurowissenschaftliche Methoden lassen sich nicht bruchlos kombinieren. Zum Beispiel pflegt Harald Welzer die Testpersonen in sozialwissenschaftlichen Interviews nach ihren Erinnerungen zu befragen. Aber wenn man Daten der Gehirnaktivität bekommen will, muss man die Probanden in einen Kernspintomographen legen. Und darin dürfen sie nicht reden, weil das die Bilder aus ihrem Gehirn verwischen würde. Sie dürfen auch nur etwa 2½ Minuten in der Maschine liegen. Daher hat Welzer vorab ihre Le-bensgeschichten in Interviews abgefragt und wichtige Erlebnisse herausgefiltert, danach ka-men sie zu Hans Markowitsch in die Röhre.
"Wir haben die Personen in einen Kernspintomographen gelegt und haben ihnen dann Stich-worte gegeben zu Erlebnissen, die sie erinnern sollten, die wir aber vorher über ein sozialwissenschaftliches Interview erfragt hatten: Also jemand erzählt, 1968 habe ich beim Marathon in Saloniki den zweiten Platz gemacht, dann bringen wir Marathonlauf als Stichwort und die Person muss sich dann die nächsten 30-40 Sekunden an das Erlebnis erinnern, und was wir finden, ist, dass das Durchleben von derartigen Situationen bestimmte Bereiche im Gehirn besonders aktiviert."
Und diese Aktivierung lässt sich messen, denn wenn Nervenzellen angeregt werden, fließt mehr Blut. Die Wissenschaftler erhielten ein Bild, auf dem jeweils die aktivierten Bereiche des Gehirns farblich markiert waren und konnten sie den verschiedenen Gedächtnis-Systemen zuordnen.
Die neurologischen Messverfahren liefern bisher nur einen unscharfen Einblick ins menschli-che Gehirn. Aber die gemeinsame Betrachtung aus physiologischem und kulturellem Blick-winkel eröffnet dennoch eine grundlegend neue Perspektive.
2. These: Die Entwicklung des Gehirns ist ein biologischer, sozialer und kultureller Prozess.
Das Autobiografische Gedächtnis ist die komplexeste Form des Erinnerungsvermögens. Es bildet sich erst beim jungen Erwachsenen, wenn das Gehirn voll ausgereift ist. Die frühen, einfachen Formen von Gedächtnis dagegen funktionieren bei kleinen Kindern genauso wie bei Tieren, erläutert Harald Welzer:
"Kleine Kinder lernen, sich zu erinnern darüber, dass es wiederkehrende Abläufe und wie-derauftauchende Personen gibt: Wiederkehrende Abläufe sind sowas wie dass das Baden im-mer gleich funktioniert. Oder dass das Essen gleich funktioniert. Es gibt Abläufe."
Bei einem Kind von 6 oder 7 Monaten unterscheidet sich diese Art Erinnerung kaum von der einer Katze. Doch mit etwa anderthalb Jahren beginnen Kinder zu erzählen. "Bei Oma gewesen", heißt es dann, denn sie wissen: Etwas ist passiert, können das Ereignis aber nicht mit ihrer eigenen Person in Beziehung bringen. Harald Welzer spricht von "verinselter" Erinne-rung, weil das Verbindende noch fehlt. Auch Schimpansen verfügen über diese Form von Gedächtnis – in der Wissenschaft wird gestritten, ob sie vielleicht sogar eine einheitliche Ver-bindung zwischen den Episoden herstellen können, also eine Vorstellung von Identität haben.
Ab dem zweiten Lebensjahr trennen sich die Entwicklungswege. Bei Affen verbessert sich nur die Motorik weiter, Kinder dagegen beginnen durch Beobachtung, Nachmachen, kurz durch Interaktion mit ihren Eltern zu lernen.
"Wir haben eine kleine Studie gemacht, wo wir Kindern Fotos gezeigt haben und sie dann gebeten haben zu beschreiben, wo das war. Und man merkt den deutlichen Unterschied zwi-schen Zwei-, Drei- und Vierjährigen unter anderem daran, dass die einen sagen, "Anton bei Oma" und die anderen sagen "ich in Krefeld". An solchen Sachen kann man sehr schön sehen, dass die Individualität, die Identität und die Ich-Bildung etwas ist, was aus der Sozialität herauswächst. Man beginnt sich als ein kontinuierliches Ich zu begreifen, weil einen die so-ziale Umwelt als kontinuierliches Ich adressiert."
Dass die Anregungen aus der Umwelt eine entscheidende Rolle für die kindliche Entwicklung spielen, ist in den Sozialwissenschaften seit langem bekannt – es lässt sich aber auch natur-wissenschaftlich belegen. Ein Großteil der "Hardware", der Verschaltungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns, entsteht erst durch äußere, soziale Reize.
Sehr grundlegende Fähigkeiten sind davon betroffen: das Sehen zum Beispiel. Neurologische Experimente haben gezeigt, dass das Seh-Vermögen ausgewachsener Tiere davon abhängt, welchen visuellen Reizen sie als Junge ausgesetzt waren. Bei Kindern hat man beobachtet, dass sie bis zur Pubertät richtig sprechen lernen müssen – danach ist es zu spät. Die Verschal-tungen im Gehirn kann dann nicht mehr hergestellt werden, erklärt Markowitsch.
"Sind Bereiche, die ganz wesentlich abhängen von sozialen Wechselwirkungen, auch Wech-selwirkungen mit Erwachsenen, wo wir im Grunde auch appellieren können an die Eltern, wie wichtig es ist, Kinder entsprechend zu erziehen, weil sonst in der Schule nicht mehr nachge-holt werden kann, was in der Kinderstube nicht passiert ist."
Auch die Produktion von Hormonen, die das soziale Verhalten beeinflussen, zum Beispiel die Fähigkeit zur Partnerbindung, hängt von den Reizen in den ersten Lebensjahren ab - insbe-sondere von der Zuwendung. Wird die Entwicklung behindert, verkümmern bestimmte Berei-che des Hirns.
Im Grundschul-Alter setzt allmählich die Ausreifung des Stirnhirns ein und die sozialen und emotionalen Fähigkeiten entwickeln sich: Das ist der entscheidende Prozess für die Persön-lichkeitsbildung, der bis ins frühe Erwachsenenalter dauert. Erst im dritten Lebensjahrzehnt hat sich die Vorstellung von der eigenen Identität voll entfaltet, mit dem autobiografischen Gedächtnis als "Zentral-Organ". Gerade diese letzte und anspruchsvollste Form des Gedächt-nisses wird also stark durch die sozialen Umwelt des Heranwachsenden geprägt. Und das heißt, so Welzer:
"Dass ein Gehirn im strikten Sinne ein bio-soziales oder wenn man will, ein bio-kulturelles Organ ist und seine Entwicklung der eigenen Potentiale sehr stark davon abhängig ist, in welcher sozialen und kulturellen Umwelt es sich entwickelt."
3.These: Die menschliche Evolution wird auch durch kulturelle Einflüsse gesteuert.
Dass die kulturelle Situation die physiologischen Hirn-Strukturen beeinflusst, zeigt sich zum Beispiel an der so genannten "Frühkindlichen Amnesie". Damit wird keine Krankheit be-zeichnet, sondern das Phänomen, dass sich niemand an seine ersten Lebensjahre erinnern kann. Wann diese natürliche Erinnerungslücke endet, hängt von der Kultur ab, in der man lebt.
"Leute im westlichen Kulturkreis datieren ihre frühesten Lebenserinnerungen in der Regel auf ein Alter von drei oder dreieinhalb Jahren, während es in asiatischen Kulturbereich eher das Alter zwischen fünf und sechs Jahren ist. Und da wird man sehr schnell dazu kommen, dass diese Form von kindlicher Amnesie etwas damit zu tun hat, welche Auffassung vom In-dividuum in den jeweiligen Gesellschaften entwickelt werden."
Ursache ist die große Bedeutung des Individualismus im Westen, meint Welzer: Darum ist das Gedächtnis-Potential für die persönliche Geschichte weiter entwickelt als in Gesellschaf-ten, die dem Individuum weniger Aufmerksamkeit schenken. Und Markowitsch ergänzt: Auch Menschen, die im Kibbuz aufgewachsen sind, also sehr gemeinschafts-orientiert, kön-nen sich erst an Erlebnisse ab dem Alter von 5 Jahren entsinnen.
Neben der räumlichen hat der kulturelle Einfluss auch eine historische Dimension.
"Es bezieht sich nicht nur darauf, dass unsere Umwelt im 21.Jahrhundert von der Luftquali-tät, von der Anzahl der Bäume, von der Asphaltierung her etwas völlig Anderes ist als die Entwicklungsumwelt vor 1000 Jahren, sondern auch die Verkehrsformen, die Menschen ent-wickelt haben, sind etwas völlig Anderes. Wenn Sie an so Etwas denken wie Zeit: Dann ist sicherlich unsere Entwicklungsumwelt bei einem Kind, das im Jahr 2006 geboren wird, sehr stark davon geprägt, dass es sehr abstrakte Zeitnormen gibt: Zeiten, in denen man schläft, in denen man arbeitet, in denen man sich erholt."
Der heutige Umgang mit Zeit wurde durch die Industriegesellschaft geprägt. Unseren Vorfah-ren hat man diesen Zeit-Begriff vor 150 Jahren noch mit roher Gewalt eingeprügelt: Zu Be-ginn der Industrialisierung wurden die Arbeiter mit der Peitsche gezwungen, 12 Stunden in der Fabrik zu verbringen. Inzwischen ist der Acht-Stunden-Tag zu einer selbstverständlichen Norm geworden, die nicht nur die Arbeit, sondern auch Schlafen und Erholung strukturiert. An die Stelle äußerer Gewalt ist der innere Zwang getreten: Dass die Arbeit acht Stunden dauert, ist in den Industrieländern eine selbstverständliche Regel. Sie prägt auch die Rentner - und den Erziehungsstil der Eltern.
Das heißt: Das soziale Umfeld wirkt heute anders auf die Entwicklung des Gehirns als vor der Industrialisierung. Das Gehirn entwickelt andere Potentiale, es passt sich an den historischen Wandel an. Hans Markowitsch folgert:
"Das heißt, dass Natur sich nicht selbst entwickelt, sondern gerade menschliche Natur im sozialen Umfeld sich entwickelt und abhängig ist von vielerlei auch kulturellen Gegebenhei-ten. Und dass es von daher fast ein zwangsläufiger Trend ist, dass sich Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zusammentun müssen."
Wenn sie die menschliche Evolution erforschen wollen.
Die Ergebnisse der Hirnforschung eröffnen zugleich eine neue philosophische Perspektive. Die natürliche Entwicklung des Menschen wird demnach von einer Mischung biologischer, sozialer und kultureller Faktoren vorangetrieben – also ist die jahrhundertealte Sichtweise überholt, dass es eine strikte Trennung zwischen Angeborenem und Erlerntem gäbe, zwischen Natur und Kultur, kurz einen Dualismus von Körper und Geist.
"Das Potential ist auf jeden Fall da, eine Sichtweise zu entwickeln, die ohne diese alten Dua-lismen Anlage-Umwelt, Instinkt-Lernen und so weiter auskommt. Das ist alles bereit gestellt, dass wir das vergessen können und versuchen, neue Subjektbilder zu entwickeln."
Bisher hat sich diese Konsequenz weder in den Natur- noch in den Kulturwissenschaften durchgesetzt, meint Harald Welzer. Die Folge müsste sein, dass man einen Menschen nicht mehr vom einzelnen Subjekt her betrachtet, sondern Menschengruppen untersucht. Anders gesagt: Es müsste weniger um das einzelne Gehirn als um die Interaktionen zwischen Gehir-nen gehen. Und die traditionelle Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wäre ebenfalls überholt – auch wenn sie in der akademischen Erinnerung tief verwurzelt ist.