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Idealer Augenblick

Als Boris Vinograd 1939 auf einem Zitrusfrachter in Palästina anlandete, hatte er eine neunjährige Odyssee durch ganz Europa hinter sich. Das gelobte Land aber, wie es in der zionistischen Vision des neu zu gründenden Staates Israel hieß, präsentierte sich dem damals 25jährigen keineswegs als Paradies auf Erden. Unter seinem nun hebräisierten Namen Boris Carmi versuchte er, sein schwieriges Einwandererschicksal in den Griff zu bekommen, und er wählte dafür die Perspektive des Beobachters: Als fotografischer Autodidakt beginnt er mit Momentaufnahmen vom Alltag der allmählichen Staatswerdung Israels. Eine Tätigkeit in der kartographischen Abteilung der britischen Armee hilft ihm schließlich, seine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Er reist durch das in der totalen Umwälzung begriffene Land, dessen weite Landschaft ihn spürbar fasziniert und als spezifischer Glanz im Hintergrund seiner Bilder omnipräsent ist. Er fotografiert die Armut der Einwanderer, die harte Landarbeit in den ersten Kibbuzim, auch den militärischen Alltag. Das sind nicht unbedingt die Bilder, die man von einer hoffnungsvollen, von viel religiösem und politischem Pathos begleiteten Staatsgründung erwarten würde. Aber Boris Carmi hat das historische Geschehen von vornherein zu seinem eigenen gemacht, wie Alexandra Nocke, die Kuratorin der Ausstellung, berichtet:

Von Carsten Probst |
    Er selber als Einwanderer, der selber eine ganze Welt hinter sich gelassen hat, seine Eltern sehr früh gestorben in Moskau und dann über viele Stationen in Palästina gelandet, er kennt dieses Gefühl des Entwurzeltseins, eben auch das Schicksal der Entwurzelten, sich in einem neuen Land, dem Land der Väter, das aber wirklich erstmal eine Fremde war, zurechtzufinden. Und seine Kamera hat ihm tatsächlich geholfen, sich in den frühen Jahren des Staates auch zurechtzufinden: die abziehende Britische Mandatsmacht, der beginnende Krieg mit den Arabern, wirklich ein Riesendurcheinander, Wirtschaftskrise – das war seine Art, auch irgendwie Fuß zu fassen in einer Heimat, die ihm fremd war.

    Aus den zigtausenden Negativen, die Carmi nach seinem Tod vor zwei Jahren in ziemlich ungeordnetem Zustand hinterlassen haben soll, hat Alexandra Nocke in mühsamer Kleinarbeit eine Auswahl getroffen, aus der sowohl diese Ausstellung, als auch ein großartiger Katalog entstanden sind, in dem der bekennende "Optimist" Boris Carmi zum ersten Mal in Europa vorgestellt wird. Und sein Werk ist in der Tat eine Entdeckung. Obgleich er seit den fünfziger Jahren für eine israelische Militärzeitung arbeitete, verstand sich Carmi doch nie als politischer Fotograf. Eigentlich, so berichtet Alexandra Nocke aus ihren persönlichen Begegnungen mit Carmi, habe er immer ein wenig darunter gelitten, kein Modefotograf geworden zu sein, denn eigentlich habe er immer ein Faible für schöne Frauen und überhaupt alles Ästhetische gehabt.

    Und das spürt man an seinen Bildern. Selbst in den Reportagen der verschiedenen Auseinandersetzungen Israels mit den Arabern sieht man weder Leichen noch Blut. Carmi sucht nach dem idealen Augenblick, der die Fotografie dem Gemälde, dem verewigten Kunst-Bild nahekommen läßt, gerade dann, wenn er durch die Straßen oder Strandpromenaden Tel Avis flaniert, dessen mondäne Atmosphäre später zu seinem Steckenpferd werden sollte. Aber selbst im Elend der Einwandererlager behält er ein Auge für attraktive Frauen. Dieser Ästhetizismus des schönen Zufalls bewahrt zugleich vor politischer Vereinnahmung. Propagandafotografie sucht man bei Carmi auch als offiziellem Militärfotografen vergebens:

    Sicherlich hat die frühe Pressearbeit im jungen Israel sehr, sehr stark auch im Zusammenhang mit der zionistischen Vision des Neuen Menschen gestanden. Der Neue Mensch, der eigentlich ohne Wurzeln in diesem neuen, diesem altneuen Land versucht, Fuß zu fassen und heroisch die Wüste urbar macht, der versucht, auch die unglaublichen Mengen der Neueinwanderer zu absorbieren, und das sind sicherlich Dinge, die sehr präsent waren im Arbeitsalltag von Boris Carmi. Was ihn heute aber für uns so interessant macht, ist sein Blick hinter die Kulissen der zionistischen Geschichtsschreibung, also das abzubilden, was sich jenseits dieser Utopie, des zionistischen Ideals darstellt, nämlich die einfachen Menschen, die entwurzelt sind , das ist das, was ihn tatsächlich interessiert hat, und das wollte er festhalten.

    Kaum einem anderen Fotografen ist es auf diese Weise gelungen, den Alltag im historischen Geschehen der Staatsgründung Israels und das Lebensgefühl einer ganzen Generation, vielleicht auch mehrerer, so begreiflich zu machen, über Zeiten hinweg. Für manch einen dürften sie den Blick auf das Land, wie er sich heute unter dem Eindruck von Sharons Siedlungspolitik darstellt, verändern.