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Identität kann sich verändern

Amin Maalouf wurde 1949 im Libanon geboren und lebt seit 1974 in Frankreich. Er beobachtet nicht zuletzt aufgrund der neuen Medien einen Wandel in der arabischen Welt.

Von Kersten Knipp | 03.02.2011
    Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten werden gerne mit dem Fall der Berliner Mauer verglichen. Der Vergleich trifft, denn beide Mal handelte es sich um Bewegungen "von unten", um Aufstände aus der Mitte der Gesellschaft. Beide Gruppen sahen mit einem Mal ein Bild ihrer selbst, das ihnen vorher ganz unbekannt war. Und dieses Bild gab ihnen Mut, sich anzulegen mit denen, unter deren Herrschaft sie mehr schlecht als recht zu leben hatten.

    Der Vergleich zwischen dem arabischen Aufstand und dem in Osteuropa vor über 20 Jahren trifft aber noch aus einem ganz anderen Grund zu: Er kam überraschend. Für manche allerdings nicht völlig überraschend. Der französisch-libanesische Romancier und Essayist Amin Maalouf veröffentlichte ein kürzlich auch auf Deutsch erschienenes Buch, dessen Titel aus der Rückschau geradezu prophetisch erscheint: "Die Auflösung der Weltordnungen". Darin beschrieb er die Veränderungen im sozialen Gefüge der westlichen Welt nach der Finanzkrise. Er beschrieb die schwierige Situation, die die arabische Welt durchläuft – und die nun in die Umstürze in Tunesien und Ägypten gemündet ist. Wenige Wochen vorher beschrieb Maalouf die arabische Welt in Worten, die die Hoffnungslosigkeit gerade der jungen Menschen auf den Punkt brachte.

    "Heute sehen wir in der Dritten Welt Staaten, die sich aus einer rückständigen Lage befreit haben, und begonnen haben, eine starke Wirtschaft aufzubauen. Leider sehen wir dass nicht in der arabischen Welt. Es gibt ein Gefühl des Verlustes in den meisten Staaten bei den jungen Leuten, die die Fähigkeit haben, eine große Rolle zu spielen auf allen Ebenen. Die Labore Europas und Amerika sind voll mit kreativen jungen Menschen aus der arabischen Welt, für die es im Orient selbst leider keinen Platz gibt. Denn es gibt dort keine gesellschaftliche Atmosphäre, die ihnen erlaubt, ihre Energien auf sinnvolle Weise einzubringen."

    Die Analysen von Maaloufs Essay decken sich mit jenen, die auch die großen arabischen Schriftsteller in den letzten Jahren immer wieder gestellt haben. Yasmina Khadra, Abdellah Taia, Abdelhak Serhane, Alaa Al Aswani, um nur ein paar zu nennen: Sie alle sprechen von Korruption und Willkür, von politischer Bevormundung und der Allgegenwart des Staates. Vor allem sprechen sie davon, wie schwierig es für junge Menschen in der arabischen Welt ist, ihren Interessen nachzugehen oder besser, sie später in einen Beruf zu verwandeln. Die arabische Welt ist eng in dem Sinn, dass sie ihren Bürgern, gerade den jungen Bürgern, keinen Raum zur Selbstentfaltung bietet. Und wenn die derzeitigen Revolten vor allem Jugendrevolten sind, dann aus eben diesem Grund: Weil die jungen Menschen für die Möglichkeit kämpfen, ihr Leben so zu führen wie sie es sich vorstellen – und nicht so, wie es die Umstände erlauben – oder eben meistens nicht erlauben. Diese Blockade hat auch Maalouf als zentrales Problem angesprochen.

    " Leider ist die Kreativität in der arabischen Welt unterdrückt. Es gibt eine gewaltige Energie, die westliche und die östliche Kultur zu verbinden, die Kultur, die aus Europa und den USA kommt und die aus Asien in den Nahen Osten und nach Afrika kommt. Es gibt Energien und Fähigkeiten, aber wir haben es nicht geschafft, die soziale Chemie herzustellen, die uns erlaubt, zu überschreiten die gegenwärtige Lage zu überschreiten, eine chaotische und depressive Lage. Und wir haben es auch nicht geschafft, eine neue Renaissance anzugehen."

    Diese Umstände mögen auch dafür verantwortlich sein, dass der Westen so unendlich überrascht durch die Revolutionen ist. Natürlich: Direkt vorausgesagt hat sie niemand, auch keiner der arabischen Intellektuellen hat es für möglich gehalten, dass sie so schnell und vor allem in solcher Schärfe ausbrechen würden. Man sprach zwar immer wieder von dem gärenden ägyptischen Topf, auf dem der Deckel kaum noch halte, aber dass er so schnell davonfliegen würde, das hatte niemand erwartet. Im Westen ist die Überraschung aber auch darum groß, weil sich für die arabische Welt nur wenige interessieren – oder besser: für die arabische Welt jenseits des Islams, eines Wortes, das man besser in Anführungszeichen setzen sollte. Denn mit dem "Islam" glaubte man, alles erklären zu können. Er verhindere die Aufklärung der arabischen Massen und damit auch Fortschritt und Freiheit. Es ist bekanntlich ganz anders gekommen. Ein wenig hätte man das schon ahnen können, hätte man sich nicht mehr der in Deutschland zum Selbstläufer gewordenen "Islamkritik" – auch dieser Begriff ist in Anführungszeichen zu setzen – begnügt.

    Arabische Autoren – Historiker, Soziologen, Politologen – schreiben seit Jahren auf einem ganz anderen Niveau. Nur muss man, um sie zu verstehen, mindestens Französisch beherrschen. Auf Deutsch sind ihre Werke kaum erschienen. Eine der Ausnahmen ist der neue Band von Amin Maalouf. Und so ist es nicht erstaunlich, dass auch er darauf hinweist, wie wenig bekannt die arabische Welt im Westen ist. Viele Araber beherrschen die westlichen Sprachen, beobachtet er. Aber umgekehrt: Wie viele Bürger aus dem Westen beherrschen schon das arabische?

    "Wenn die Menschen aus dem Süden der Welt in den Westen kommen, dann auch darum, weil sie ein großes Interesse an dessen Kultur haben. Millionen von Menschen studieren die westlichen Sprachen. Umgekehrt ist das Interesse an den südlichen Sprachen und Kulturen begrenzt. Das muss sich ändern. Denn wir leben in einer Welt, in der Menschen eng nebeneinander leben, man sich aber mit lächerlichen Vorurteilen begnügt. Darum ist es an der Zeit, einander auf eine tiefere, gründlichere Art kennenzulernen, sich mit den jeweils fremden Kulturen und Literaturen vertraut zu machen. Nur so lassen sich in der heutigen Welt die Beziehungen friedlicher und weniger gewaltsam gestalten als bisher."

    Dem Westen, in dem er seit 30 Jahren lebt, macht Maalouf allerdings zum Vorwurf, seinerseits an die Unverrückbarkeit der Religionen oder ihre Prägekraft zu glauben. Religionen stelle man sich im Westen als starre Gebilde vor. Das seien sie aber nicht. Dennoch würden die Migranten auf ihre Herkunft festgeschrieben.

    Dynamische, wandelbare, sich entwickelnde Identitäten – das könne man sich im Westen immer weniger vorstellen. Und genau darin folge der Westen einer globalen Tendenz, die dazu neige, kulturelle Unterschiede als kulturelle Grenzen zu sehen – und zwar als kaum überwindbare Grenzen. Dabei – und hier zeigt sich Maalouf dann doch ein wenig optimistisch – tue sich in der arabischen Welt einiges. Sie befinde sich im Wandel, auch dank der modernen Informationstechnologien. Sie hätten dazu beigetragen, dass sich das Meinungsspektrum in den letzten Jahren erheblich verbreitert habe.

    "Es gibt natürlich nicht nur eine Ansicht in der arabischen Welt. Viele Leute lesen und denken nach und schreiben. Und darauf müssen wir hinweisen. Die Demokratie kommt nicht in dieser Region – man sieht das etwa an der Frage freier Wahlen. Es gibt keine korrekt gewählten Regierungen oder Führer. Gleichzeitig gibt es ohne Zweifel Fortschritte im Hinblick auf die Medien. Es gibt viele Zeitungen und Radio- und Fernsehsender. Und das Internet leistet einen Beitrag dazu. Es gibt wichtige intellektuelle, kulturelle und mediale Erzeugnisse in den meisten arabischen Ländern. Das war vor einigen Jahren noch sehr begrenzt."

    "Mörderische Identitäten" heißt jener Essay, in dem Maalouf vor einigen Jahren die psychologischen Mechanismen des religiösen und kulturellen Fundamentalismus beschrieb. Sein neues Buch nimmt einige dieser Motive wieder auf und schaut, wie es heute um sie steht. Maaloufs Fazit: Es stehe heuet besser um sie. Um wie vieles besser, das wagte dieser vorsichtige Analytiker kaum zu hoffen, als der sein Buch beendete. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, wie groß der Druck im Kessel war, mit welcher Kraft die Probleme, die Maalouf und andere beschrieben, auf eine Lösung drängten. Diese Lösung scheint jetzt gefunden.

    Besprochen von Kersten Knipp.

    Amin Maalouf: "Die Auflösung der Weltordnungen"
    Suhrkamp, 252 Seiten, 24,80 Euro