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Ideologie der Geschwindigkeit

Filippo Tommaso Marinetti war einer der Wortführer des Futurismus. Zum Geburtstag seiner hochfahrenden Ideen zeigen die Berliner Festspiele im Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung zu den "Sprachen des Futurismus" in Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater und Fotografie.

Von Carsten Probst | 13.10.2009
    Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

    Filippo Tommaso Marinettis 1909 in der Pariser Zeitung "Le Figaro" veröffentlichtes Erstes Futuristisches Manifest preist die Geschwindigkeit als das futuristische Hauptwort – und diese Berliner Ausstellung untersucht mit schöner Präzision die Vieldeutigkeit dieser Avantgardebewegung und ihrer Motive, die sich inhaltlich im Grunde nur schwer von anderen in Europa abgrenzen lässt. Ihre Besonderheiten sind ihr italienischer Ursprung und eben: die Ideologie der Geschwindigkeit. Die Auflösung aller Formen durch Beschleunigung wird in allen möglichen abstrakten und halbfigürlichen Experimenten erprobt. Giacomo Ballas Malerei "Geschwindigkeit eines Autos" von 1913 ist eigentlich eine Studie aus abstrakten Formelementen und Strahlen, in ihr lösen sich nicht nur die erkennbaren Details, sondern auch die klassischen Sujets auf: Sie ist, wie auch in Marinettis Manifest beschrieben, zugleich die symbolische Abkehr von der Geschichte und Tradition.

    Die italienischen Futuristen einte der Überdruss an der unaufhörlichen Beschwörung der Antike und der Renaissance, am klerikalen Antimodernismus in Italien, und die Zukunft versprach ihnen Zuflucht zu anderen Welten. Dass sich daraus Ende der zwanziger Jahre die unselige Allianz mit den italienischen Faschisten ergab, überschattet die Wahrnehmung dieser Künstler bis heute.

    Deswegen ist es klug und gut, dass man für diese Ausstellung im Gropius-Bau auf die profunden Kenntnisse von Gabriella Belli gesetzt hat, der Direktorin des Kunstmuseums MART im oberitalienischen Rovereto, das in seinen Archiven über 4000 Exponate zur Geschichte des Futurismus verfügt. Das sind freilich zumeist keine Hauptwerke. Anders als bei den Großschauen Anfang dieses Jahres in Paris oder London zum hundertsten Jahrestag von Marinettis Erstem Manifest sind in Berlin nicht unbedingt die großen Klassiker von Umberto Boccioni, Carrà, Serverini oder Balla zu sehen. Stattdessen bemüht sich Belli erfolgreich um eine Auflösung des starren Futurismusbegriffes, sofern dieser sich bislang nur an einigen wenigen Ikonen und an jenem Faschismusverdikt festmacht.

    Am Beginn ist ein großer Saal den Ursprüngen der Bewegung aus der experimentellen Dichtung gewidmet. Es ist ja kein Zufall, dass Marinetti sein pathetisches Manifest zu einem Zeitpunkt veröffentlichte, als es den Futurismus noch gar nicht gab. Seine Leistung freilich bestand darin, dass es ihm tatsächlich mit Charisma und einem gewissen finanziellen Polster gelang, befreundete Künstler dazu zu bringen, dem Manifest in ihrer Produktion zu folgen.

    War der Futurismus also reine Programmkunst? Immer wieder präsentiert Gabriella Belli auch Hinweise, die das einheitliche Bild stören. Umberto Boccionis "Rückenakt im Gegenlicht" von 1909 hängt beispielsweise an einer zentralen Stelle der Ausstellung und ist eine figürliche, impressionistische Studie, die auf den ersten Blick nicht mit dem Boccioni der folgenden Jahre zu tun hat, und doch erkennt man in diesem statischen Sujet bereits den Drang nach Auflösung, denn die farbigen Linien des Lichtes umfließen den Körper und scheinen ihn selbst zum bewegten Bild zu machen. Stadt, Architektur, Bühne, Theater werden in der Hochphase des Futurismus dann zusammengedacht als Wechselspiel von Dingwelt und Dynamik, als Schauspiel ständiger Veränderung. Und Belli konfrontiert den Besucher auch mit der oft noch unbekannten zweiten Phase des Futurismus, also nach dessen offiziellem Ende nach Boccionis Tod 1916, als sich eine zweite Generation von Künstlern um Depero, Crali oder Prampolini für das Design und für andere moderne Einflüsse öffnete.

    Die Erinnerung an die Berliner Dependance der Futuristen, die mit Herward Walden und Alfred Döblin und ihrer Zeitschrift und Galerie in der Tiergartenstraße ab 1912 die Bewegung auch in Deutschland bekannt machten, gehört zu dieser Berliner Schau natürlich hinzu. Der Vorzug dieser Ausstellung gegenüber den Schauen in Paris oder London besteht in ihrer unaufgeregten, durch die elegante Hängung unterstützten Differenzierung des Phänomens Futurismus. Der Vorwurf, Belli habe dabei den faschistischen Aspekt nahezu ausgeblendet, greift nicht. Die Ausstellung verdeutlicht, viel aussagekräftiger, jene flirrende und vieldeutige Entwicklung, bei der die Futuristen ebenso wenig als Faschisten begonnen hatten wie die Avantgarden anderer Länder.

    Info:
    Berliner Festspiele: Sprachen des Futurismus